Callum sitzt noch auf dem Sofa und starrt die Wand an. Als wir ins Wohnzimmer zurückkommen, steht er auf.
»Ich gehe nach Hause«, sagt er, während er auf die Haustür zusteuert. Ich erwidere nichts. Auch ich möchte allein sein.
»Soll ich dich fahren?«, ruft Mum ihm hinterher. Er ist bereits draußen auf der Auffahrt, bleibt aber stehen und dreht sich zurück, ohne den Blick zu heben.
»Nein, danke.« Dann verschwindet er.
Mum und mir hat es die Sprache verschlagen. Ich gehe in mein Zimmer und werfe mich aufs Bett. Immer wieder rollt eine neue Welle des Schmerzes über mich hinweg. Obwohl ich heute Morgen ein ungutes Gefühl hatte, blieb doch immer noch eine gewisse Hoffnung. Ich dachte, die Unsicherheit – das Warten und Grübeln – sei schlimmer als alles andere, aber da habe ich mich geirrt. Es ist viel schlimmer, Bescheid zu wissen. Die ganze Endgültigkeit ist so, als hätte mir jemand brutal eine Axt ins Herz gerammt.
Sierra ist tot.
Die schöne Sierra.
Erwürgt.
Obwohl ich mich dagegen wehre, drängen sich mir bestimmte Bilder auf. Ich sehe vor mir, wie sie sich ihm bereitwillig hingibt, weil sie so begeistert von ihm ist – bis ihr dann plötzlich klar wird, dass er gefährlich ist. Ob er ihr wehgetan, sie gequält hat? Hatten sie zuerst Sex? Hatte er es auch darauf abgesehen? Ich male mir aus, wie sie sich keuchend und nach Luft ringend gegen ihn wehrt, nach ihm schlägt und wie dann alles Leben aus ihr weicht, bis ihr Körper erschlafft.
Ich presse die Augen fest zusammen und versuche, an etwas anderes zu denken, was mir aber nicht gelingt. Die Bilder von ihren letzten Momenten gehen mir einfach nicht aus dem Kopf.
Ich versuche, mich auf Erinnerungen an Sierra zu konzentrieren, die sich mir besonders eingeprägt haben. Mir fällt ein, wie sie zu Dads Begräbnis kam, in einem wunderschönen marineblauen Kleid und mit weißen Socken, das Haar zu Zöpfen geflochten. Meine Verwandten und ich saßen bereits auf der Kirchenbank, zusammengedrängt wie Pinguine, die beieinander Schutz suchten. Nachdem Sierra Rachels Hand losgelassen hatte, kam sie zu uns und sah die Erwachsenen nur mit großen Augen an, um ihnen zu verstehen zu geben, dass sie zusammenrücken und Platz für sie machen sollten. Sie drängte sich an den Beinen der anderen vorbei, quetschte sich neben mich auf die Bank und nahm meine Hand. So saß sie während des ganzen Gottesdienstes da und auch auf dem Friedhof ließ sie meine Hand nicht los.
Und dann war da noch die Sache in der fünften Klasse, als Chantelle Romeo, die ein Jahr älter war als wir, mir einfach das Haarband aus einem meiner Zöpfe riss. Nachdem sie es in ihr eigenes Haar geflochten hatte, stolzierte sie hämisch lachend mit ihren Freundinnen davon. Sierra kam dazu, und als ich ihr weinend erzählte, was passiert war, rannte sie Chantelle hinterher und packte sie beim Pferdeschwanz. Chantelle fuhr herum, doch Sierra ließ nicht los.
»Du hast Taylors Haarband«, presste Sierra zwischen den Zähnen hervor.
»Lass mich los!«, kreischte Chantelle. »Würde mir vielleicht mal jemand helfen?«
Ihre Freundinnen waren so verblüfft, dass sie nichts unternahmen und nur mit offenem Mund zuguckten. Chantelle wand sich hin und her und fuchtelte wild mit den Armen, um Sierra zu erwischen, was ihr jedoch nicht gelang. Zum Schluss riss Sierra, die immer noch den Pferdeschwanz festhielt, Chantelles Kopf so heftig zurück, dass sie sich nicht mehr rühren konnte.
»In Ordnung! Nimm dir das Band und verschwinde, du blödes kleines Miststück!«, kreischte Chantelle.
Sierra kam zu mir zurück, setzte sich neben mich und band mir meine Haare wieder zu einem Zopf. An jenem Tag war ich so stolz darauf, ihre beste Freundin zu sein. Obwohl sie so klein war, konnte sie unglaublich energisch sein.
Dann war da diese Sache in der siebten Klasse, als sie mit diesem Idioten aus der neunten Klasse Sex hatte, der hinterher allen erzählte, was sie gemacht hatten. Als er grinsend mit seinen Freunden zusammensaß, pöbelten sie Sierra an und fragten sie, ob sie ihnen auch einen blasen würde.
»Aber er hat doch solch einen winzigen Schwanz«, erwiderte Sierra mit hoher Babystimme. »Da bin ich ja überhaupt nicht auf meine Kosten gekommen.«
Daraufhin lachten die Jungen alle und ließen Sierra in Ruhe. Man merkte, dass sie eingeschüchtert waren und nicht wollten, dass Sierra so etwas auch über sie sagte.
»Haut bloß ab«, fuhr der Typ seine Freunde an.
Sierra lachte, sah ihn unverwandt an und wackelte mit ihrem dünnen kleinen Finger.
»Bye-bye«, quietschte sie mit ihrer Fee-Glöckchen-Stimme.
Ich an ihrer Stelle wäre vor Verlegenheit im Boden versunken und hätte wahrscheinlich die Schule gewechselt.
Vor ein paar Jahren machte ich mit Sierras Familie Ferien am Meer. An einem kalten regnerischen Tag bestand Sierra darauf, dass wir zum Strand runtergingen. Der Wind blies uns um die Ohren. Sierra stieß einen Schrei aus, der vom Wind davongetragen wurde. Ich warf den Kopf zurück und versuchte ebenfalls zu schreien, brachte jedoch nur einen kläglichen Laut zustande. Dann gab Sierra einen weiteren Schrei von sich, einen tiefen, röhrenden Schrei, der mich so zum Lachen brachte, dass ich mir fast in die Hosen gepinkelt hätte. Anschließend warf ich wieder den Kopf zurück und brüllte so laut, wie ich konnte. Das war unglaublich befreiend. Sierra ließ sich in den Sand plumpsen und lachte hysterisch. Dann sprang sie auf, reckte die Arme vor wie ein Grizzlybär und rannte schreiend ins Wasser. Als sie bis zur Taille im Wasser stand, machte sie kehrt und kam genauso laut schreiend zurück. Ihre Energie war ansteckend. Brüllend stürzten wir uns immer wieder in die Wellen und amüsierten uns über unsere Verrücktheiten. Nach einer Weile trieften wir vor Nässe, waren über und über mit Sand beschmiert, und vom vielen Lachen taten uns die Gesichter weh, doch wir fühlten uns frei und glücklich.
Ich kann mir nicht vorstellen, je wieder mit jemandem so ausgelassen zu sein wie mit Sierra, je wieder jemandem so nahezustehen.
Das jetzt ist nicht die Trauer, die ich nach Dads Tod empfand. Dad wurde nicht ermordet. Er war krank, und zum Schluss erkannte man ihn kaum wieder. Lange Zeit kämpfte er tapfer gegen die Krankheit an, und als er von uns ging, waren wir darauf vorbereitet. Sein Tod war uns fast willkommen, weil das bedeutete, dass seine Schmerzen ein Ende hatten. Das Plötzliche und die Sinnlosigkeit von Sierras Tod sind unbegreiflich. Empörend. Ich werde niemals akzeptieren, was ihr passiert ist.