In den vierzehn Tagen zwischen der Auffindung von Sierras Leiche und dem Begräbnis wechseln sich Phasen überwältigender Trauer mit Phasen ab, in denen wir wie gelähmt sind, weil wir das alles einfach nicht glauben können. Bedrückt wandern Mum und ich unruhig von Zimmer zu Zimmer. Auf Schreibtischen, Couchtischen und auf dem Fußboden neben dem Sofa stehen halb volle Tassen mit Tee und Teller mit Essensresten. Keine von uns hält es für wichtig, aufzuräumen. Ich konzentriere mich voll und ganz darauf, den Tag zu überstehen.
Ich suche Janelle auf, die mir den Prozess des Trauerns erklärt, wie sie es schon einmal getan hat. Doch zusätzlich spricht sie auch viel von den Schuldgefühlen der Überlebenden, was damals nach Dads Tod kaum der Fall war. Sie rät mir, meinen Schmerz zuzulassen, mich nicht davor zu fürchten, so furchtbar es auch sein mag.
In mir tobt ein Chaos von Gefühlen – Trauer, Wut, Schuld und Angst. Manchmal bin ich innerlich ganz ruhig, manchmal empfinde ich überhaupt nichts. Erschöpft bin ich immer.
Mum und ich ziehen uns an, um zum Begräbnis zu gehen. Ich entscheide mich für ein schwarzes Kittelkleid, das Sierra sehr gemocht hat. Mum trägt ein schwarzes Kostüm. Im Auto reden wir zunächst noch über dies und das, doch dann verstummen wir, da wir beide uns vor dem, was uns bevorsteht, gruseln.
Die Trauerfeier findet in einer großen Basketballhalle statt, neben der ein Fußballplatz liegt. Unser Schulleiter hat gesagt, dass auch andere Schulen den Wunsch haben könnten, an der Feier teilzunehmen – um Solidarität und Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen. Deshalb also das Sportzentrum – damit mehr Leute kommen können. Sierras Familie ist zwar nicht gläubig, aber trotzdem finde ich es ein wenig seltsam, dass die Feier ausgerechnet hier stattfindet.
Mum und ich gehen zum vorderen Teil der Halle. Wir sind so früh dran, dass bis auf Sierras Familie noch niemand da ist. Wir nehmen einige Reihen hinter ihnen Platz. Auf einem riesigen Bildschirm ist ein Foto von Sierra zu sehen. Ihr glänzendes glattes Haar fließt ihr über die Schultern. Sie blickt lachend in die Kamera, mit leicht zurückgeworfenem Kopf. Dieses Foto kenne ich gar nicht. Sie ist wunderschön, ihr perfektes Gesicht in einem perfekten, glücklichen Moment festgehalten.
Auf einem Podest steht ein weißer Sarg, über den pinkfarbene Rosen gestreut sind. Dort in diesem Kasten ist sie. Wie gebannt starre ich ihren Sarg an. Am liebsten würde ich ihn aufmachen, um sie zu sehen. Um mich zu überzeugen, dass sie tatsächlich dort liegt und niemand einen Fehler gemacht hat. Und wenn sie es ist, würde ich sie gern ein letztes Mal berühren, ihr sagen, dass ich sie lieb habe und dass es mir leidtut. Mum drückt meine Hand. Ich fahre zusammen und Tränen laufen mir über die Wangen.
Allmählich füllt sich die Halle. Seit wir da sind, hat sich niemand von Sierras Familie gerührt. Sie sitzen wie versteinert da und haben den Trauergästen den Rücken zugekehrt. Haben mir den Rücken zugekehrt. Sie begrüßen niemanden, niemand geht zu ihnen. Es tut so weh, ihren Schmerz zu sehen, zu wissen, was sie verloren haben … und das Gefühl zu haben, dass sie mich ausschließen. Ich hätte gern etwas im Namen von Sierras Freunden gesagt, bin aber nicht dazu aufgefordert worden. Niemand ist dazu aufgefordert worden. Mr Williams, unser Schulleiter, ist der Einzige aus der Schule, der eine Rede hält. Ich halte nach Callum und Riley Ausschau und sehe, dass sie zusammen mit Joel im hinteren Teil der Halle sitzen. Seit Sierra gefunden wurde, habe ich kaum mit ihnen gesprochen. Ich wollte allein sein.
Alles hat sich verändert, und ich kann mir nicht vorstellen, dass es je wieder in Ordnung kommt.
Als die Halle voll ist, fängt die Trauerfeier an. Dies ist kein feierlicher Rückblick auf Sierras Leben. Aus dem Mund der Redner kommen nur bittere Worte. Niemand sagt »Zumindest muss sie nicht mehr leiden« oder »Immerhin hatte sie ein langes, glückliches und erfülltes Leben«. Ihr Tod war brutal und sinnlos. Aus dem, was gesagt wird, sprechen Empörung, Fassungslosigkeit, Zorn.
Als die Reden zu Ende sind, wird der Sarg von sechs Männern, die ich nicht kenne, hinausgetragen. Rachel, Dave und Cassy erheben sich, um dem Sarg zu folgen. Erst jetzt bekomme ich ihre Gesichter zu sehen. Rachel und Cassy stöhnen leise vor sich hin. David, dem Tränen über die Wangen strömen, gibt keinen Laut von sich. Ich versuche, Rachels Blick zu erhaschen, als sie an mir vorübergeht, habe jedoch keinen Erfolg. Beim Anblick der Familie brechen viele in der Halle in lautes Schluchzen aus.
Mum und ich klammern uns aneinander, während wir mit der Menge nach draußen gehen. An der Tür erwartet uns ein Meer von Schuluniformen. Tausende von Schülern sind gekommen – von unserer Schule, von der staatlichen Schule ganz in der Nähe und von anderen Schulen, darunter auch Windridge, der Schule, auf die Jacob Jones zu gehen behauptete. Die Schüler stehen in zwei Reihen um den Fußballplatz herum, eine gewaltige Ehrengarde. In der Mitte des Platzes haben sich weitere Schüler aufgestellt, zusammen mit Erwachsenen, die Plakate hochhalten: »Hände weg von unseren Kindern«, »Mehr Sicherheit für unsere Kinder«, »Gebt unseren Kindern die Unbeschwertheit zurück«.
Langsam fährt der Wagen des Bestattungsinstituts an der Ehrengarde vorbei, in einem anderen Auto folgt Sierras Familie. Das Schweigen der Menge ist richtig unheimlich. Am Tor bleiben die Wagen kurz stehen. Ich beuge mich vor, um einen letzten Blick auf Sierras Sarg zu werfen. Mein Schmerz ist so groß, dass ich ihn hinausschreien möchte. Ich renne dem Auto hinterher und presse die Hände gegen die Scheiben. Mum packt mich und zieht mich weg.
»Nein. Nein. Nein«, schreie ich wieder und wieder. Ich presse die Hände gegen den Kopf und schwanke hin und her, während ich dem Auto hinterherblicke, das meine beste Freundin für immer fortbringt.