Mum sitzt eine halbe Stunde mit mir im Auto und wartet, bis ich mich beruhigt habe. Als ich aufgehört habe zu weinen, lehne ich den Kopf gegen die kühle Scheibe. Ich sage zu Mum, dass ich außerstande bin, zur Totenwache zu gehen. In Wirklichkeit weiß ich jedoch, dass ich dort nicht willkommen bin. Mein Anblick würde Rachel noch mehr Schmerz zufügen.
Wir fahren direkt nach Hause. Ich habe mich ausgeweint und fühle mich innerlich ruhiger.
Ich sehe mir die Fotos auf Sierras Instagram-Account an und drucke ein paar davon aus: Auf einigen ist sie mit mir zu sehen, auf einigen allein, auf manchen zusammen mit anderen. Ich schneide die Fotos aus und klebe sie in ein Album. Anschließend notiere ich einige Dinge, die sie häufig gesagt, über die sie gelacht hat oder die sie geärgert haben. Mum kommt zur Tür meines Zimmers und blickt herein.
»Was machst du denn da?«
»Ich wollte etwas für Sierra tun«, antworte ich. Ich zeige ihr die Fotos. »Und für mich. Ich möchte etwas zur Erinnerung an sie machen, vielleicht ein Album.«
Mum nickt. »Das würde ihr gefallen.« Sie geht weg, und ich höre, wie sie die Dusche anstellt. Mum ist völlig fertig.
Ich werfe einen Blick auf das Album und denke über Mums Worte nach. Das würde ihr gefallen. Aber das stimmt nicht. Sie wäre gerührt, aber nicht beeindruckt. Die Fotos sind auf normalem A4-Papier ausgedruckt. Meine Handschrift ist ziemlich krakelig.
Sie würde sich etwas Professionelleres, Glamouröseres, Anspruchsvolleres wünschen.
Und etwas, das sich alle ansehen können.
Ich lege mich aufs Bett und schließe die Augen. Ich sehe das Funkeln in ihren Augen vor mir, höre ihr Lachen, spüre ihre Energie … Ich weiß nicht, ob ich diese Dinge einfangen kann. Tiefe Trauer überkommt mich. Wie konnte er nur? Wie konnte er es wagen, ihr auf diese Weise das Leben zu nehmen? Ich vermisse sie so sehr, dass es wehtut. Den ganzen Tag habe ich an sie gedacht, wie ich es jeden Tag tue – seit dem Freitag, als ich sie zum letzten Mal gesehen habe. Ich sehe sie vor mir, lebendig, und dann sehe ich sie vor mir, verscharrt im Wald, nackt und allein.
Wenn ich an Sierras Mörder denke, steigt unbändige Wut in mir auf. Ich hasse ihn. Ich hasse ihn, weil er uns so zum Narren gehalten hat, dass wir es völlig okay fanden, dass sie ihn getroffen hat. Wir haben doch gar nichts Ungewöhnliches gemacht. Viele Leute lernen sich online kennen. Doch Sierras Mörder hat jedes Risiko vermieden. Er war zwar online, aber anonym. Er hat mich getäuscht … und ich war so naiv, so ahnungslos. Sein Foto und das von den Bootsschuppen … in all meiner Leichtgläubigkeit habe ich ihm keine Sekunde lang misstraut. Wie viele Mädchen es wohl geben mag, die jetzt gerade online sind und Risiken eingehen, von denen sie noch nicht einmal etwas ahnen?
Ich schreibe auf ein Stück Papier: »Bist du anonym oder nicht, wenn du online bist?«
Wie hat der Kriminalbeamte diese Funktion, die einen unsichtbar macht, noch mal genannt? Ich denke angestrengt nach, bis es mir wieder einfällt.
Proxy.
Ich gebe den Begriff in die Suchmaschine ein. Unmengen von Informationen erscheinen auf meinem Bildschirm. Ich lese ein paar Seiten, und innerhalb einer halben Stunde habe ich einen Decknamen und eine Adresse in Sri Lanka. Das war ganz einfach und hat nichts gekostet. Jetzt bin ich unsichtbar, wenn ich online gehe.
Dicke Tränen kullern mir übers Gesicht.
All das wusste ich nicht.
Sierra wusste es ebenfalls nicht.
Wir waren ja so blind.
Er hat sie getötet und ist dann von der Bildfläche verschwunden, einfach, weil er es konnte.
Unter dem Deckmantel meiner Anonymität klappere ich Chatrooms ab, mische mich in Gespräche ein und gebe beleidigende und zickige Kommentare ab, wenn jemand versucht, ein Mädchen aufzugabeln.
Dann stoße ich auf einen Typ, der in mehreren Chatrooms ist und mit mehreren Mädchen gleichzeitig redet.
Ich beobachte dich, mische ich mich ein.
? kommt zurück.
Wie viele Minderjährige hast du in der letzten Zeit denn angemacht?, frage ich.
Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.
Ich werde dich schon erwischen, du Mörder! Du Vergewaltigerschwein!
Ich unterbreche die Verbindung, sinke nach vorn und breche in Schluchzen aus. Plötzlich steht Mum neben mir. Sie zieht mich hoch und nimmt mich in die Arme. Weinend schmiege ich mich an sie und erzähle ihr von Proxy und wie leicht es ist, sich im Internet unsichtbar zu machen. Dann gestehe ich ihr, was ich gerade gemacht habe.
»Meinst du, Sierra würde wollen, dass du das tust?«, fragt sie.
»Nein.« Ich schüttle den Kopf.
Mum streicht mir übers Haar.
Unablässig fließen mir Tränen übers Gesicht. »Sie hat Hass verachtet.« Am liebsten würde ich irgendwas zerschmettern – ein Fenster oder eine Lampe, irgendwas. »Ich fühle mich so hilflos.« Wut, Verzweiflung und Hass fressen mich innerlich auf. Ich will, dass dieser Schmerz weggeht. Ich will den Tod dieses Dreckskerls, und ich will Sierra wiederhaben.
»Was würde Sierra jetzt von dir erwarten?«
Ich zucke die Achseln. Ich habe mir nur Gedanken darüber gemacht, was Sierra wollen würde, wenn sie hier wäre. Wenn sie am Leben wäre. Aber das ist sie nicht.
»Ich gehe ins Bett«, sagt Mum. »Möchtest du bei mir schlafen?«
»Vielleicht später«, erwidere ich.
»Meinst du, dass du klarkommst?«
Ich nicke. »Denke schon, es ist nur so hart.« Erneut strömen mir Tränen über die Wangen.
»Möchtest du, dass ich hierbleibe?«
»Nein. Ich möchte, dass du schlafen gehst. Du bist völlig erschöpft.«
Ich gebe Taylor Wolfe in die Suchmaschine ein und bekomme einen Link, der mich zu ihrer Website bringt. Dort finde ich ein Foto von Taylor, die mir mit traurigem Lächeln entgegenblickt. Sie trägt ein weißes Hemd mit roter Borte. Ich lache. Genau solch ein Hemd hatte Sierra. Jetzt weiß ich, warum sie es sich gekauft hat.
Das Foto macht Werbung für den Clip ihres Songs »Bad from day one«. Ich klicke »Play« an. Taylor Wolfe liegt allein auf der Lichtung eines Kiefernwäldchens. Ich erschaudere. Sie hat enge Jeans und ein weißes T-Shirt an. Hinter ihr steht ein schwarzer Wolf, der den Himmel anheult. Ihr Haar ist dunkler als sonst und sieht irgendwie schmutzig und zerzaust aus. So haben sicher auch Sierras Haare ausgesehen, als die Polizei sie gefunden hat.
Taylor Wolfe erhebt sich und blickt umher. Sie wirkt verloren und traurig. Das Erste, was man außer dem Heulen des Wolfs hört, ist eine Stimme im Off. Im Hintergrund setzt unheimliche Musik ein.
Alles ist so schnell außer Kontrolle geraten. Ich war nicht darauf vorbereitet. Plötzlich war es zu spät, und ich konnte nichts mehr dagegen tun.
Es könnte Sierra sein, die da spricht. Die Härchen auf meinen Armen und in meinem Nacken richten sich auf. Ich sitze im Schneidersitz da und starre wie gebannt auf Taylor Wolfe.
Meine Erinnerung daran ist so verzerrt wie etwas, das man in einem kaputten Spiegel sieht. Ich bin auch kaputt, und das wusste er. Das Blöde daran ist, dass ich wusste, wie böse er ist, sobald ich ihn sah. Ich wusste es vom ersten Tag an. Als wir uns kennenlernten, war mir klar, dass er sich nichts aus mir macht. In seinen Augen war Dunkelheit, sein Lächeln hatte etwas Grausames. Warum habe ich das ignoriert? Ich glaube, ich wusste von vornherein, dass es so enden würde – dass er mich allein lassen und wie ein Schatten in die Nacht verschwinden würde.
Ich halte den Atem an.
Ich kann einfach nicht glauben, dass ich mich in ihn verknallt und getan habe, was ich getan habe. Und jetzt gibt es kein Zurück mehr. Ich bin tot und begraben.
Ich stoße die Luft aus. Das ist Sierra. Das ist ihre Botschaft aus dem Grab. Sie spricht zu mir. Ich erschaudere, wende mich aber nicht ab. Ich höre zu, Sierra.
Die Musik wird wesentlich schneller. Dann fängt Taylor Wolfe an zu singen.
Ich lausche auf jedes Wort, und als das Lied zu Ende ist, bin ich bis ins Mark erschüttert.
Es ist, als wäre Sierra auferstanden, hätte mich bei den Schultern gepackt und mir dieses Lied vorgesungen.
Ich sehe mir den Clip wieder und wieder an.
Das Lied habe ich schon unzählige Male gehört. Als es rauskam, wurde es dauernd im Radio gespielt. Ich habe bloß nie richtig zugehört. Ich wusste nicht, dass es darin um einen Mörder geht. Jetzt ist es für mich Sierras Lied.
Und plötzlich ist mir klar, was Sierra sich wünschen würde. Ich weiß, was ich zu tun habe; ich weiß, wie ich der ganzen Welt zeigen kann, wie schön und wie ungewöhnlich sie war.
Als ich mich schließlich ins Bett lege, geht mir Taylor Wolfes Lied immer noch im Kopf herum. Nachdem ich eine gefühlte Ewigkeit in die Dunkelheit gestarrt habe, schlafe ich endlich ein.