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Das Wochenende schleppt sich dahin. Ich habe Unmengen von Hausaufgaben zu machen und komme nur mit Unterbrechungen dazu, mich um die Website zu kümmern. Seit der Auffindung von Sierras Leiche war ich nicht in der Schule, doch Mum ist ein paarmal hingefahren, um sich von meinen Lehrern die Hausaufgaben und die Arbeitsbögen geben zu lassen. Letztere ackere ich so schnell wie möglich durch.

Von Callum habe ich nichts gehört, seit er am Samstagnachmittag nach Hause gegangen ist.

Am Montagmorgen rufe ich ihn an, um zu fragen, ob wir zusammen zur Schule gehen wollen. Eine halbe Stunde später fährt seine Mum vor unserm Haus vor und setzt uns dann am Schultor ab. Wir gehen über den Footballplatz zur Mensa. Riley und Joel sitzen allein an einem Tisch. Es ist fast so, als wären sie von einem unsichtbaren Kraftfeld umgeben, das andere von ihnen fernhält.

»Hi, Riles«, sage ich. Ihr Gesicht ist ganz käsig. Auf dem Kinn und der Stirn haben sich Pickel gebildet, an anderen Stellen ist ihre Haut mit roten Flecken übersät. Ich wende den Blick von ihrer Stirn ab und konzentriere mich auf ihre Augen. Seit der Auffindung von Sierras Leiche habe ich sie nicht angerufen, was mir jetzt ziemlich peinlich ist. Zwischen ihr und Joel herrscht Spannung. Ob sie sich wieder gestritten haben?

»Alles okay?«, frage ich sie.

»Was hast du denn getrieben?«, erwidert sie in einem Ton, der eher vorwurfsvoll als wie eine freundliche Frage klingt. Ich werde knallrot.

»Ich habe an einer Website gearbeitet … für Sierra.« Sie blickt  erstaunt drein. Mit dieser Antwort hat sie nicht gerechnet.

Callum nimmt seinen Rucksack auf, schwingt ihn sich über die Schulter und sieht Riley wütend an.

»Ich verschwinde«, sagt er und geht.

Joel wirft Riley einen Blick zu und schüttelt warnend den Kopf. Dann steht er auf, schnappt sich seinen Rucksack und verlässt uns ebenfalls.

Riley wartet, bis er weg ist. »Ich weiß über dich und Callum Bescheid«, zischt sie.

Ich werde rot.

»Das hast du mir verschwiegen.« Sie kneift die Augen zusammen.

Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll. »Da gibt’s eigentlich nichts zu erzählen … Das ging los, kurz bevor Sierra verschwunden ist. Danach ist das Ganze irgendwie in den Hintergrund geraten, weil es Wichtigeres gab.«

»Hmm«, entgegnet sie.

»Seitdem ist nichts passiert.«

»Meinst du, das glaube ich dir? Er hat doch praktisch die ganze Zeit bei dir gewohnt.«

Ich weiß nicht, warum sie annimmt, dass ich sie anlüge – oder warum sie so aggressiv ist –, doch es ärgert mich. »So ist das nicht!« Ich habe weder die Zeit noch die Energie für so was. »Und es ist mir egal, was du glaubst.« Ich schnappe mir meinen Rucksack und verlasse die Mensa.

In der ersten Stunde haben wir Mathe. Ich setze mich neben Izzy und ignoriere Riley, die so tut, als merke sie es nicht. Im Gespräch mit Callum bin ich jetzt ziemlich befangen. Er hat zwar nichts gesagt, aber ich bekomme mit, dass auch er sich von Riley fernhält. Es überrascht mich, dass er ihr von uns erzählt hat. Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll, und versuche, nicht darüber nachzudenken.

Als ich in der Mittagspause in die Mensa gehe und mich hinsetze, nimmt Riley neben mir Platz.

»Hast du was dagegen, wenn ich hier sitze?« Sie wirkt verlegen.

Ich schüttle den Kopf.

»Also, was habt ihr zwei denn nun vor?« Sie meint Callum und mich. »Du weißt schon, mit der Website.«

»Wir arbeiten etwas für Sierra aus, das klein angefangen hat – als Blog –, dann aber größer wurde.«

»Eine Website, um ihrem Leben Ehre zu erweisen?« Sie gibt sich alle Mühe, nicht spöttisch zu klingen, aber man hört es trotzdem.

»Ja.«

»Ist das nicht ein bisschen morbid?«

»Es gibt Fotos von ihr, einen Blog, einen Chatroom und eine Galerie. Ich werde die Fotos reinstellen, die Jacob Jones mir geschickt hat.« Ich starre einen Moment lang in die Ferne und suche nach den richtigen Worten. »Das könnte verhindern … dass so was jemand anderem passiert.« Plötzlich habe ich wieder einen Kloß im Hals.

Sie betrachtet mich einen Augenblick lang, dann schaut sie zum Fenster raus.

»Und das macht nur ihr zwei, du und Callum?«

»Bisher.«

»Was soll das heißen?«

Gott, ist sie etwa eifersüchtig? Ich weiß, dass sie nicht auf Callum scharf ist, also kann es nur daran liegen, dass sie Besitzansprüche auf mich erhebt. Sie ist daran gewöhnt, dass ich Single bin und ständig zu ihrer Verfügung stehe.

»Worauf willst du hinaus, Riley?«

»Na ja, ich frage mich gerade, ob ihr Hilfe braucht.«

Ich lache hämisch. »Von dir? Du hast Sierra doch gehasst.« Sofort bedaure ich meine Worte. Was bin ich doch für eine blöde, fiese Kuh. Träten treten mir in die Augen. »Tut mir leid.«

Riley schaut wieder zum Fenster raus, dann geht sie. Ich sitze allein da. Izzy sieht zu mir herüber. Ihre Gruppe hat wahrscheinlich dem Gespräch zugehört. Ich wende den Blick ab und beobachte eine andere Gruppe von Mädchen, die lachend miteinander schwatzen. Das Leben an der Schule ist ohne Sierra weitergegangen; alle machen, was sie immer gemacht haben – so, als wäre nichts geschehen.

Früher wäre es mir peinlich gewesen, so allein dazusitzen, aber jetzt ist mir das egal. Über was für einen Mist ich mir früher Gedanken gemacht habe. Was für eine Zeitverschwendung! Ich hole mein Heft heraus und mache mich daran, meinen ersten Blog zu schreiben. Am Ende der Mittagspause ist er fertig. Im Englischunterricht entwerfe ich einen Plan für die Galerieseite. In Hauswirtschaftslehre brauche ich meine Hände, deshalb kann ich nicht an meiner Website weiterarbeiten. Außerdem ruft das Hantieren mit Nahrungsmitteln heute aus irgendeinem Grund Brechreiz bei mir hervor, sodass ich mich ganz darauf konzentrieren muss, nicht zu kotzen. Ich merke, wie es mir den Rachen hochkommt. Schnell hole ich einen Kaugummi aus meinem Rucksack und kaue ihn, bis ich Pfefferminzgeschmack im Mund habe.

In der letzten Stunde habe ich Informatik, ein Fach, das ich nicht mag, bei einem Lehrer, den ich nicht mag, doch heute höre ich aufmerksam zu und stelle unzählige Fragen, die mit dem eigentlichen Unterrichtsthema nichts zu tun haben. Dadurch halte ich den Unterricht auf, bis einige meiner Mitschüler es satthaben und mich auffordern, die Klappe zu halten. Mr Samalot bittet mich, nach der Stunde noch dazubleiben, weil er mit mir sprechen möchte. Callum sagt gar nichts. Ich habe ihn den ganzen Tag kaum gesehen, obwohl wir ein paar Stunden zusammen hatten. Riley schwänzt diese Stunde. Will sie mir aus dem Weg gehen? Das wäre ziemlich krass.

Die Klingel schrillt, für heute ist der Unterricht zu Ende. Gott sei Dank. Während die anderen nach draußen strömen, bleibe ich auf meinem Platz sitzen.

»Taylor, dein Interesse am Unterricht heute hat mich sehr beeindruckt.«

Mr Samalot ist ein Computergenie, aber wegen seines Sarkasmus bei den Schülern unbeliebt.

»Es war geradezu bezaubernd. Aber hast du eigentlich richtig zugehört? Vielleicht sollte ich dir den Stoff mailen, da du dir keine Notizen gemacht hast.«

Er redet immer in sehr herablassendem Ton. Außerdem schickt er den Schülern ständig E-Mails mit zusätzlichen Informationen – daher auch sein Spitzname »Mr Spamalot«.

»Hör mal, Taylor. Würdest du mir wohl verraten, worauf du aus bist? Dann könnte ich dir vielleicht helfen. Und deine Mitschüler von ihren Leiden erlösen.« Er verdreht die Augen.

Ich weiß, dass er mir nicht wirklich helfen will. Trotzdem werde ich ihm alles erzählen.

»Ich will eine Website einrichten. Sie heißt Risiko und ist Sierra gewidmet.«

Er lächelt und nickt. Er sieht tatsächlich interessiert aus. »Das ist ein schöner Gedanke«, stellt er fest.

Ist das jetzt gönnerhaft? Keine Ahnung.

»Was genau erhoffst du dir denn von dieser Website?«, fragt er.

»Sie soll Sierras Andenken in Ehren halten. Auf der Startseite gibt es Fotos. Ich habe ein Foto für jedes Jahr ihres Lebens. Ich möchte, dass die ganze Welt sie sieht, sie kennenlernt. Ich möchte rüberbringen, dass sie ein Mensch aus Fleisch und Blut war und dass sie nur einen Fehler gemacht hat, den jeder hätte machen können. Ich möchte einen Chatroom einrichten, in dem die Leute über alle möglichen Probleme diskutieren können. Ich möchte eine Galerie erstellen, in der ich Fotos hochladen kann. Und ich möchte die Fotos, die Sierras Mörder mir geschickt hat, zeigen.«

Ich verstumme, als ich sehe, was Mr Samalot bei meinem letzten Satz für ein Gesicht macht.

»Natürlich werde ich das Gesicht des Mannes, für den Jacob Jones sich ausgegeben hat, unkenntlich machen«, fahre ich fort, »aber trotzdem möchte ich das Foto reinstellen, um anderen zu zeigen, wie leicht es für Sierras Mörder war, sich eine falsche Identität zuzulegen. Er war so clever und berechnend, und wir hatten keine Ahnung. Ich möchte eine E-Mail-Adresse haben, an die man mir private Nachrichten schicken kann – und man kann als User selbst Beiträge zum Blog schreiben und Erfahrungen teilen.« Ich weiß, dass ich vom Hundertesten in Tausendste komme, kann aber einfach nicht aufhören. »Mein erster Blogeintrag wird heißen Bist du anonym oder nicht, wenn du online bist? Ich möchte erklären, was Proxy bedeutet und wie man so etwas benutzt. Sierra hatte keine Ahnung, dass es das gibt.«

Ich atme tief durch. Mr Samalot richtet sich auf und beugt sich vor.

»Gut«, sagt er und nickt. Seine Körpersprache hat sich geändert und drückt nicht mehr sein Überlegenheitsgefühl aus. »Ich merke schon, dass dir diese Website sehr am Herzen liegt. Du hast dir offenbar viele Gedanken darüber gemacht, und ich finde dein Vorhaben fantastisch. Möchtest du, dass ich dir helfe?«

Ich reiße erstaunt die Augen auf und werde knallrot. Dabei habe ich gedacht, ich soll nachsitzen.

»Ja. Ich meine, Callum hilft mir schon.« Mr Samalot zieht eine seiner Augenbrauen hoch. »Ich weiß, dass er kein Computergenie oder so ist, aber am Wochenende haben wir ein paar Recherchen gemacht, und er hat schon eine Menge Arbeit in die Site investiert. Aber es wäre schön, auch jemand dabeizuhaben, der sich wirklich mit Computern auskennt.«

Mr Samalot reckt den Hals und blickt in Richtung Tür. »Du kannst dich gern zu uns gesellen, Callum«, ruft er.

Als ich den Kopf drehe, sehe ich Callum hereinkommen. Ich wusste gar nicht, dass er draußen im Gang stand. Nur gut, dass ich nichts Schlechtes über seine Computerkenntnisse gesagt habe. Mr Samalot überrascht mich. Auf einmal wirkt er geradezu nett.

»Kommt morgen in der Mittagspause hierher. Bringt alles mit, was ihr vorbereitet habt, damit wir eure Website auf die Reihe kriegen. Aber ich möchte, dass ihr mir versprecht, euch während des Unterrichts – sei es bei mir, sei es bei anderen – nicht mehr mit dieser Site zu beschäftigen. Im Lehrerzimmer haben sich heute schon zwei Kollegen darüber beschwert, dass ihr im Unterricht nicht richtig aufgepasst habt. Abgemacht?«

Zum ersten Mal seit Sierras Tod lächle ich unbeschwert. Der Druck in meiner Brust hat ein wenig nachgelassen

»Ja, Mr Samalot. Abgemacht.«

Er streckt seine Hand aus. Wir bekräftigen unsere Abmachung mit einem Händedruck.