Nach der Schule gehen Callum und ich nach Hause und arbeiten an der Website. Im Laufe des Abends telefonieren wir sechs Mal miteinander, um Details zu besprechen. Als ich meinen Teil erledigt habe, verbringe ich einige Zeit damit, mich im Internet über vermisste Personen zu informieren. Da gibt es viele ungelöste Fälle. Ich kann nur hoffen, dass Risiko etwas bewirkt und anderen vor Augen führt, was passieren kann.
Am nächsten Tag kommt Riley nicht zur Schule.
»Wo ist Riley?«, frage ich Joel.
»Keine Ahnung«, erwidert er und fährt sich mit den Händen durch seinen Justin-Bieber-Haarschnitt. »Wir haben uns gestern gestritten, und seitdem habe ich nicht mehr mit ihr gesprochen. Sie war echt stinkig.« Er verzieht das Gesicht.
»Hmm … Ich hab mich auch mit ihr gestritten. Das hat ihre Laune sicher nicht gebessert.«
Ich bin immer noch genervt davon, dass sie auf mich sauer war, doch jetzt fühle ich mich auch schuldig, weil ich möglicherweise dazu beigetragen habe, ihr den Tag zu verderben. Ich will nicht, dass sie sich mies fühlt. Bevor Sierra verschwand, hat Riley sich so gemein über sie geäußert, dass ihr jetzt furchtbar zumute sein muss. Ich schnappe mir mein Handy und schreibe:
Hey, Riles, hoffe, alles ist okay xx
Dann tippe ich auf Senden.
Die Mittagspause kann gar nicht schnell genug kommen. Als es endlich so weit ist, platze ich fast vor Ungeduld. Ich stelle meinen Laptop auf den Tisch und zeige Mr Samalot, was Callum und ich bisher gemacht haben. Mr Samalot gibt etwas auf seiner Tastatur ein.
»Offenbar hat Callum den größten Teil der Arbeit schon erledigt, sodass für mich nicht mehr viel zu tun bleibt.«
Er zeigt uns, wie man Daten lädt, Informationen editiert und Menüpunkte hinzufügt.
Ich zeige ihm meine Startseite, die er ins Netz stellt. Das macht er auch mit meinem Blog. Dann bringt er mir bei, wie man im Chatroom ein Diskussionsthema ankündigt und wie man Kommentare zensiert. Als Nächstes kommt die Galerie dran, für die ich nur zwei Fotos habe. Auf dem ersten Bild, das Jacob Jones mir geschickt hat, habe ich das Gesicht des Mannes unkenntlich gemacht.
Ich sehe Callum an. Er sagt nicht viel, scheint mit dem, was Mr Samalot gemacht hat, aber zufrieden zu sein.
»Ich möchte Links zu einschlägigen Zeitungsartikeln adden, damit man Sierras Fall weiterverfolgen kann. Und sobald etwas in den Medien erscheint, möchte ich das auch aufnehmen können. Ich habe mit dem Gedanken gespielt, auch andere Fälle vorzustellen, aber davon gibt es zu viele. Unmengen von Leuten werden vermisst.« Ich zeige ihm einige Artikel. »Stattdessen könnten wir auf dieser Seite vielleicht Links zu anderen Sites angeben, auf denen über Vermisste berichtet wird.«
Keiner erhebt Einwände, doch Callum zieht die Augenbrauen zusammen. »Was, wenn du etwas herausfindest, das die Polizei nicht bedacht hat, und du dadurch die Aufmerksamkeit irgendeines Verrückten auf dich lenkst?«
Wir sehen Mr Samalot erwartungsvoll an. Er reibt sich sein spitzes Kinn und schürzt die Lippen. »Das dürfte kein Problem sein. Polizeiliche Ermittlungen sind wesentlich gründlicher, als sich den Berichten in den Medien entnehmen lässt. Ich glaube nicht, dass Taylor in Schwierigkeiten geraten könnte, indem sie Zeitungsartikel zusammenträgt. Das sind öffentliche Informationen.«
»Ja, vermutlich wird Taylor auf nichts stoßen, was der Polizei unbekannt ist«, stimmt Callum ihm zu.
»Okay, Leute«, sagt Mr Samalot. »Heute Nachmittag kümmere ich mich um alles. Höchstwahrscheinlich werdet ihr schon heute nach der Schule mit der ersten Fotoseite und dem Blog online gehen können. Die anderen Sachen erfordern mehr Zeit, aber das kriegen wir nach und nach schon hin.«
Vor Aufregung wird mir ganz flau im Magen. Sierra würde das alles sehr gefallen. Ich breche in Tränen aus, womit ich diesmal gar nicht gerechnet habe.
»Danke.« Ich umarme Mr Samalot, der stocksteif und mit hängenden Armen dasteht, was mich zum Grinsen bringt.
Nach dem Unterricht gehen Callum und ich wieder zu Mr Samalot, der immer noch an unserem Projekt arbeitet. Sein Engagement beeindruckt mich derart, dass ich mir fest vornehme, mir von jetzt an in seinem Unterricht große Mühe zu geben und ihn nie wieder »Mr Spamalot« zu nennen. Mir wird klar, dass seine Verachtung gegenüber bestimmten Schülern daher rührt, dass sie kein Interesse an seinem Unterricht zeigen. Zu Schülern, die sich Mühe geben, ist er echt nett.
»Ich gebe dem Ganzen nur noch den letzten Schliff. Übrigens habe ich es so eingerichtet, dass man auch über Facebook oder seinen Twitter-Account Zugang hat.« Er dreht sich um und lächelt uns an. »Okay … alles fertig. Jetzt seid ihr die stolzen Betreiber einer eigenen Website. Jedenfalls eines Teils davon.« Er springt auf. »Seht’s euch mal an und sagt mir, was ihr davon haltet.«
Völlig aufgewühlt nehme ich Platz. Callum holt sich einen Stuhl, setzt sich neben mich, drückt meine Hand und wartet darauf, dass ich anfange. Ich klicke die Homepage an.
Herbstlaub – gelbe, rote und orangefarbene Blätter – wehen über den Bildschirm. Bevor die Blätter den unteren Rand des Bildschirms erreichen, machen sie eine letzte Drehung und verwandeln sich in Fotos von Sierra. Die Texte kommen wie eine sanfte Brise angeweht und nehmen ihren Platz unter den Fotos ein. Dann kommt das größte Foto, in leuchtenden Farben, und nimmt nach und nach die Farbgebung an, die ich mit Photoshop ausgearbeitet habe. Auf jedem Bild sieht sie wunderschön aus. Sie würde es lieben.
Ich klicke mich durch alle Menüpunkte. Nicht zu glauben, wie professionell das Ganze wirkt. Alles ist genau so, wie ich es haben wollte. Als ich den Blog anklicke, bin ich vor Begeisterung sprachlos.
Ich drehe mich Mr Samalot zu und nicke dankbar, weil ich kein Wort herausbekomme. Er lächelt.
»Danke, Mr Samalot«, sagt Callum. »Das ist großartig.«
»Wie schon gesagt, Callum, warst du auf dem richtigen Weg. Das hat mir meine Aufgabe erleichtert.«
»Und wie stellen wir das jetzt ins Netz?«, frage ich.
Mr Samalot drängt sich zwischen uns. Wir rücken zur Seite. Nachdem er auf ein paar Tasten gedrückt hat, ist alles erledigt. Unsere Website steht nun offiziell im Netz. Mr Samalot verspricht uns, sich noch um den Rest zu kümmern. Außerdem erzählt er uns allerlei über Suchmaschinen und darüber, wie man den Datenverkehr lenken kann, doch ich bin so begeistert, dass ich nur mit halbem Ohr hinhöre.
Rasch gehe ich auf Facebook und Twitter und poste einen Link zu unserer Website. Callum folgt meinem Beispiel. Nachdem wir Mr Samalot nochmals herzlich gedankt haben, gehen wir.
Zu Hause versuche ich, wieder zur Ruhe zu kommen und mich auf meine Hausaufgaben zu konzentrieren, kann aber einfach nicht aufhören, mir immer wieder meine Website anzusehen. Der Link auf Facebook hat dreißig Likes und wurde ungefähr genauso oft geteilt. Im Laufe des Abends nimmt die Zahl noch zu, und Kommentare unterschiedlichster Art treffen ein. Manche sagen, sie hätten weinen müssen, manche finden das Ganze wunderbar, andere sagen, dass sie Sierra unglaublich vermissen. Den ersten Blog sehen sich viele an und versehen ihn mit Kommentaren. Die meisten gestehen, dass sie nicht anonym online sind, und drücken ihr Entsetzen und ihre Empörung aus. Ich lese mir meinen ersten Blog-Eintrag noch einmal durch.
Ich möchte euch meine Freundin Sierra vorstellen. Sie ist fünfzehn Jahre alt. Im Januar – kurz bevor die Schule wieder anfing – hat Sierra an einem Donnerstagnachmittag online einen Typ kennengelernt. Sie ist zufällig im Mysterychat auf ihn gestoßen und kam mit ihm ins Gespräch. Zuerst haben wir das Ganze als Scherz betrachtet, doch zu unserer Überraschung stellte sich der Typ als cool und witzig raus. Sierra mochte ihn von Anfang an und blieb an den folgenden Tagen online mit ihm in Kontakt. Sie tauschten Fotos aus und chatteten stundenlang miteinander. Am Montag war Sierra so auf ihn abgefahren, dass sie vorhatte, sich am Freitag nach der Schule mit ihm zu treffen.
Während Sierra dieses Date hatte, rief sie mich an. Sie sagte, er sei einfach toll und sie wolle die Nacht bei ihm verbringen. Sie versprach, am Samstagmorgen zurückzukommen. Sie klang glücklich und aufgeregt – sie war verliebt.
Das war das letzte Mal, dass ich mit Sierra gesprochen habe. Am Samstagmorgen ist sie nicht aufgetaucht. Am Sonntagnachmittag wurde der Polizei ihr Verschwinden gemeldet.
Eine Woche später wurde Sierra in der Nähe von Ballarat tot aufgefunden.
Die Polizei sucht immer noch nach ihrem Mörder. Sie sagt, es werde schwierig sein, ihn zu finden, weil er sich mithilfe von Proxy unsichtbar gemacht hatte. Diese Einrichtung erlaubte es ihm, sich im Internet zu bewegen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Als er Sierra all seine Lügen auftischte, damit sie sich in ihn verknallte, wusste er ganz genau, dass man ihn nie finden würde.
Sierra hatte keine Ahnung von Proxy und wusste nicht, dass sie in Gefahr war. Das machte sie zu einer leichten Beute.
Indem ihr die Fragen unten beantwortet, könnt ihr herausfinden, ob und inwieweit ihr selbst gefährdet seid.
Auf meinem Bildschirm wird angezeigt, dass die erste E-Mail zum Thema eingetroffen ist.
Liebe Taylor,
das mit deiner Freundin Sierra tut mir schrecklich leid. Deine Website ist so schön, dass sie mich zum Weinen gebracht hat. Dann habe ich deinen Blog gelesen. OMG. Als ich diese Sache mit Proxy gelesen habe, wurde mir ganz schlecht. Ich habe schon mehrere Typen online kennengelernt, ohne dass es irgendwelche Probleme gab. Aber einmal habe ich mich mit einem Typ getroffen, der echt seltsam war. Er war viel älter, als er zu sein behauptete, und hatte irgendwie was Unheimliches an sich. Ich sagte zu ihm, ich würde schnell mal auf die Bahnhofstoilette gehen, und habe dann die Fliege gemacht. Als ich wieder zu Hause war, habe ich online nach ihm gesucht – und konnte ihn NIRGENDWO finden. Er behauptete, er heiße Jack Palmer, aber das war sicher ein falscher Name. Ich schicke dir sein Foto. Das ist er tatsächlich, aber ich glaube, er hat es mit Photoshop bearbeitet, damit er jünger aussieht.
Ich hoffe, sie finden Sierras Mörder bald.
Buffy
Während ich Buffys Text lese, bekomme ich eine Gänsehaut. Ich öffne den Anhang. Fast erwarte ich, das gestohlene Foto zu sehen, das Jacob Jones mir geschickt hat. Nein. Ich stoße den Atem aus, den ich angehalten habe, ohne es zu merken. Das Foto zeigt einen Typ mit Sonnenbrille. Hinter ihm ist eine weiße Wand zu sehen, die Aufnahme muss also drinnen gemacht worden sein. Sein Alter ist schwer zu schätzen. Er hat aschblonde Haare, die zu einem Pferdeschwanz gebunden sind. Die Farbe seiner Augen kann man natürlich nicht erkennen. Er wirkt in keiner Weise unheimlich. Zumindest hat er ein Foto von sich und kein gestohlenes geschickt. Ich speichere das Foto und schreibe seinen Namen darunter. Dann antworte ich Buffy kurz, um ihr für ihre E-Mail zu danken.
Dann setze ich mich an meine Hausaufgaben, schaffe es aber immer noch nicht, mich zu konzentrieren. Ich fange zwar damit an, doch dann lande ich wieder bei meiner Website. Ich leite die Updates an Callum weiter, der jedes Mal sofort antwortet.