21

Der Wunsch, dass die Polizei Sierras Mörder erwischt, ist kaum noch zu ertragen. Das ganze Wochenende über gehe ich Mum nicht von der Pelle, weil ich dabei sein will, wenn man ihr telefonisch mitteilt, dass man Sierras Mörder gefunden hat. Doch das ganze Wochenende über passiert nichts dergleichen.

Am Montagmorgen vor der Schule spreche ich erneut mit Mr Samalot und Callum, kann mich aber kaum auf das, was ich sage, konzentrieren, weil meine Enttäuschung mir schwer zu schaffen macht.

»Gestern Abend haben mich ein paar Schulen aus unserer Umgebung kontaktiert«, berichte ich, »und angefragt, ob ich daran interessiert wäre, zu ihnen zu kommen und über meinen Blog zu sprechen. Ich glaube, das würde ich gern machen. Auf diese Weise erreichen wir noch mehr Leute. Vielleicht sollten wir auf unserer Site Informationen darüber bringen, falls man an anderen Schulen ebenfalls mehr über Sierra und Risiko hören möchte.«

»Darum kann ich mich kümmern«, sagt Callum.

Die Aussicht, so vielen Leuten Sierras Geschichte erzählen zu können, versetzt mich plötzlich in Aufregung. »Letztes Jahr sind ja verschiedene Leute zu uns gekommen, um zu den Schülern zu sprechen. Wie ist man denn mit denen in Verbindung getreten?«, frage ich Mr Samalot.

»Ich glaube, das lief über eine Agentur, die Termine für sie arrangiert. Aber vielleicht solltest du erst mal deinen Auftritt heute abwarten, bevor du dich zu weiteren Auftritten verpflichtest. Bist du bereit?«›, fragt Mr Samalot.

Callum war die ganze Zeit sehr still. Ich weiß, was für eine Angst er davor hat, in der Aula zu sprechen, und bewundere seinen Mut.

»Ja«, erwidere ich.

Als die Klingel ertönt, setzen wir uns alle in Bewegung. Bei der letzten Versammlung in der Aula wurde den Schülern Sierras Tod mitgeteilt. Ich bin wütend, weil ich ihnen nicht mitteilen kann, dass man Sierras Mörder gefunden hat.

Alle sitzen still auf ihren Plätzen und starren mich an. Callum stellt sich hinten auf das Podium und hält sich bereit, bis er dran ist. Ich atme mehrmals tief durch, um die Nervosität zu überwinden, die mich plötzlich befällt. Gleich werde ich über etwas sprechen, das mir sehr am Herzen liegt.

Mr Williams begrüßt die Schüler und stellt mich vor.

Alle Blicke folgen mir, als ich das Podium überquere, das Mikrofon aus der Halterung nehme und hinter einen Tisch trete, auf dem mein Computer steht – ich habe eine Präsentation für die Schule vorbereitet.

»Guten Morgen, liebe Mitschüler und Lehrer. Mein Name ist Taylor Gray. Man hat mich gebeten, heute über unsere Website zu sprechen, die zu Ehren meiner Freundin Sierra Carson-Mills entwickelt wurde.«

Ein Raunen geht durch die Menge.

»Inzwischen weiß sicher jeder hier, wie Sierra ihren Mörder kennengelernt hat …« Mir versagt die Stimme. In der Aula ist es totenstill. Als ich in die Menge blicke, fällt mir die abfällige E-Mail, die ich bekommen habe, wieder ein sowie die fiesen Dinge, die Izzy zufolge manche Leute über Sierra sagen. Die Worte »zu Ehren meiner Freundin« hallen in meinem Kopf wider.

Ich trete vom Tisch weg. »Äh … eigentlich hatte ich eine Rede vorbereitet, in der ich darlegen wollte, dass es auf unserer Website Risiko darum geht, wie gefährlich es ist, jemanden online kennenzulernen, aber … äh … ich glaube, ich möchte lieber über etwas anderes sprechen.«

Ein paar Leute kichern, was die Situation entspannt.

Ich lächle unsicher. »Ich habe unzählige Male mit Freunden in Chatrooms geplaudert. Mit Fremden habe ich selten gechattet, und nie habe ich mich mit jemandem getroffen, den ich online kennengelernt hatte. Aber ich kenne viele Mädchen – und auch Jungs –, die das getan haben. Ich habe sogar schon von älteren Leuten gehört, die jemanden geheiratet haben, den sie online kennengelernt hatten. Das ist weit verbreitet, und meistens geht nichts dabei schief.«

Verstohlen blicke ich zu unserem Schulleiter hinüber, der sich wahrscheinlich fragt, worauf ich hinauswill.

»Einige der hier Anwesenden haben fiese, abfällige Bemerkungen über Sierra gemacht. Vielleicht ist es ja tatsächlich leichter, Sierra zu kritisieren, als sich mit dem, was passiert ist, auseinanderzusetzen.

Denn die traurige Wahrheit ist, dass das, was Sierra passiert ist, jedem von uns hätte passieren können. Sie hat nichts anderes gemacht als all die Leute hier, die online jemanden kennengelernt und sich dann mit ihm getroffen haben. Anders daran war nur, dass Sierra sich mit einem Mörder getroffen hat.«

Hier und da ist ein leiser, entsetzter Aufschrei zu hören. Ich hoffe, dass ich mich irgendwie verständlich mache. Als ich ein paar Gesichter in der Menge betrachte, wird mir klar, dass ich nicht lockerlassen darf.

»Woher sollte Sierra wissen, dass er sie …«, ich blinzle meine Tränen weg, »… dass er tun würde, was er getan hat?« Ich schüttle den Kopf und lege eine kurze Pause ein, indem ich auf dem Podium hin und her gehe. Bei dem, was ich sage, muss alles stimmen. Sierra hat mich so oft tapfer verteidigt, und jetzt ist es an mir, ihr den gleichen Dienst zu erweisen. Ich richte den Blick auf die Anwesenden und spreche laut und deutlich weiter.

»Sierra hat sich in ihn verknallt – innerhalb weniger Stunden. Ich weiß, das klingt lächerlich. Wie kann sich denn jemand in einen anderen verknallen, nachdem man nur ein paar Stunden miteinander gechattet hat? Statt zu sagen, Sierra sei leichtgläubig oder dumm gewesen, wie es manche tun, sollte man an dieser Stelle über ihren Mörder nachdenken. Über das, was er gemacht hat. Er hat jeden Schritt genau berechnet. Er hat Sierra über die sozialen Netzwerke ausspioniert, um gezielt ihr Interesse an ihm zu wecken und dafür zu sorgen, dass sie an ihn glaubt, sich in ihn verliebt. Er war so gerissen, ihr einzureden, er sei der perfekte Partner für sie. Das weiß ich besser als sonst wer …«

Alle Augen sind auf mich gerichtet. Erneut befällt mich Nervosität, weil ich im Begriff bin, vor der ganzen Schule ein Geständnis abzulegen.

»… weil ich mich auch in ihn verknallt habe.«

Die Menge wird wieder unruhig. Ich fahre mit erhobener Stimme fort, um das Gemurmel und Getuschel zu übertönen.

»Ich habe auch mit diesem Typ gechattet und bin nach kurzer Zeit auf sein Spielchen hereingefallen. Im Rückblick komme ich mir lächerlich vor. Aber damals waren meine Gefühle durchaus echt.«

Ich werde knallrot, und obwohl ich versuche, meine Tränen zurückzuhalten, laufen sie mir übers Gesicht. Schnell wische ich sie weg. Ich sehe, wie sich einige Mädchen in der vordersten Reihe ebenfalls die Tränen wegwischen.

»Nachdem ich ein paar Stunden mit Sierras Mörder gechattet hatte, war ich total verliebt und hätte die Gelegenheit, mich mit ihm zu treffen, sofort genutzt. Doch er hat sich für Sierra entschieden.« Wieder versagt mir die Stimme. »Deshalb stehe ich heute hier oben … und nicht Sierra.«

Die letzten Worte bringe ich nur noch im Flüsterton heraus. Ich muss mich zusammenreißen, wenn ich meine Ausführungen zu Ende bringen will. Ich wende den Blick vom Publikum ab, gehe zum Tisch zurück und berühre das Touchpad meines Computers, um meine Website aufzurufen.

»Zu Ehren Sierras habe ich eine Website namens Risiko ins Leben gerufen. Wenn ihr Interesse habt, seht sie euch bitte an, nehmt an den Diskussionen teil und gebt den Link an eure Freunde weiter.«

Alle richten den Blick auf die Homepage, die auf dem großen, an der Wand angebrachten Bildschirm erscheint. Buntes Laub trudelt nach unten und verwandelt sich in Fotos von Sierra. Ich halte nach Callum Ausschau, der jetzt übernehmen und etwas über Proxy erzählen soll, doch er ist nicht mehr da. Ich sehe gerade noch, wie er die Aula durch den Seiteneingang verlässt. Ich hätte meinen Vortrag nicht in letzter Minute ändern sollen; Callum war auch so schon nervös genug.

Bei dem Gedanken, Callums Teil des Vortrags, auf den ich nicht vorbereitet bin, übernehmen zu müssen, gerate ich in Panik. Ich verzichte darauf und zeige stattdessen das Video mit Taylor Wolfes Song »Bad from day one«.

Alle sehen die Ähnlichkeit zwischen Sierra und Taylor Wolfe und begreifen, wie unheimlich der Text ist. Am Ende des Lieds ist in der ganzen Aula kaum noch ein Auge trocken.

Ich weiß nicht recht, ob ich wirklich alle zum Weinen bringen wollte. Vielleicht war der Taylor-Wolfe-Song ein bisschen zu viel.

Nach der Veranstaltung kommt Riley zu mir und umarmt mich. Ihr Gesicht ist rot und fleckig. Sie ist die Einzige hier, die die ganze Geschichte schon kannte.

»Tut mir leid, dass ich neulich nicht vorbeigekommen bin«, sagt sie. »Ich bin dabei, Verschiedenes aufzuarbeiten.«

»Das tun wir doch alle«, erwidere ich lächelnd, um ihr das Gefühl zu geben, dass sie nicht allein ist, doch an ihrem verletzten Gesichtsausdruck merke ich, dass meine Antwort nicht das war, was sie erhofft hat. Im Moment sind wir von zu vielen Leuten umgeben, als dass wir die Sache ausdiskutieren könnten. Riley verschwindet in der Menge. Ich werde mich später mit ihr befassen.

Ich suche nach Callum, um mich bei ihm zu entschuldigen, weil ich meinen Vortrag geändert habe, doch er hat sich ebenso wie Riley verdünnisiert.

In der Mittagspause stoße ich draußen auf Riley. Sie ist allein.

»Hey«, sage ich.

Dieses Gespräch ist schon nach einem Wort unangenehm.

»Hey.«

»Wie läuft denn alles so?«

Riley sieht mich an, als sei das eine Fangfrage.

Ich senke den Blick. »Tut mir leid, was ich neulich gesagt habe … du weißt schon .. dass du Sierra nicht mochtest.«

Riley nickt.

»Bist du sonst okay?«

»Mal so, mal so. Alles hat sich geändert. Alle haben sich geändert …«

»Ich weiß, was du meinst«, sage ich.

Sie sieht mich skeptisch an.

»Du hängst immer noch jeden Tag mit Callum rum«, sagt sie.

»Er hat mir bei der Website geholfen«, erwidere ich in einem Ton, als müsste ich mich rechtfertigen. »Was hat er denn … über uns gesagt?«, fahre ich in milderem Ton fort.

»Zu mir gar nichts. Er hat Joel erzählt, dass ihr rumgemacht habt.«

»Hat er sonst noch was gesagt?«

»Keine Ahnung. Da musst du Joel fragen. Oder Callum, das wär noch besser.«

Das führt zu nichts, deshalb wechsle ich das Thema. »Verschiedene Schulen haben bei mir angefragt, ob ich bei ihnen über das, was passiert ist, sprechen würde.«

Riley scheint nicht zu wissen, was sie darauf erwidern soll.

»Deshalb habe ich in der Pause Agenturen gegoogelt«, fahre ich fort, »und eine Anfrage an eine von ihnen geschickt. Winston & Zeal heißen die. Stell dir mal vor, wie das wäre, einen Agenten zu haben!«

Riley starrt mich an, als käme ich von einem fremden Stern. Ich achte nicht weiter darauf und hole mein Handy heraus, um meine E-Mails zu checken. Eine ist von Mila Park, die bei der Agentur Winston & Zeal arbeitet.

»O mein Gott, Riley, sie haben geantwortet! Nicht zu fassen«, sage ich ganz aufgeregt. »Ich muss los. Ich gehe in den Computerraum, damit ich ihnen in aller Ruhe antworten kann.«

Riley zuckt übertrieben die Achseln und zieht irritiert die Augenbrauen hoch. Ohne mich weiter darum zu kümmern, mache ich mich in Richtung Hauptgebäude davon.

Ich öffne Mila Parks Mail, die allgemeine Informationen und Links für die Website von Winston & Zeal enthält. Ihre E-Mail klingt sehr positiv, so als wäre es wirklich machbar, dass sie mich vertreten. Die Idee gefällt mir – und Sierra würde sie besonders gut gefallen, weil sie das Ganze für glamourös halten würde. Ich habe noch nicht mit Mum darüber gesprochen, bin mir aber sicher, dass sie nichts dagegen hat. Mila Park. Das hört sich an wie ein Ortsname. Mila Park. Ich sage ihren Namen wieder und wieder vor mich hin. Ich habe eine Agentin, ihr Name ist Mila Park. Rufen Sie meine Agentin an. Der Gedanke, dass ich diese Worte tatsächlich einmal sagen könnte, bringt mich zum Kichern. Doch gleichzeitig nagen im tiefsten Innern Schuldgefühle an mir. Ich weiß, dass ich nicht so aufgeregt sein sollte, dass es mir nicht so gefallen dürfte, plötzlich derart gefragt zu sein, weil das alles auf so schreckliche Weise zustande gekommen ist, aber da ich stolz auf meine Website bin, ignoriere ich diese Gefühle. Auf meiner Website könnte stehen: »Wenn Sie Taylor Gray für einen Vortrag engagieren wollen, dann kontaktieren Sie bitte Mila Park von Winston & Zeal.« Ich kichere wieder vor mich hin.

Mir bleiben noch fünf Minuten von der Mittagspause, um Callum zu finden und ihm diese Neuigkeit mitzuteilen. Gerade als die Klingel ertönt, entdecke ich ihn bei den Schließfächern, wo so großes Gedränge herrscht, dass ich mich zu ihm durchboxen muss. Eigentlich wollte ich mich ja bei ihm entschuldigen, weil ich das Thema meines Vortrags geändert habe, aber in Gegenwart so vieler anderer wäre mir das peinlich, deshalb verschiebe ich es auf später.

»Callum, rate mal, was passiert ist.«

Er kneift die Augen zusammen. »Na?«

»Ich habe eine Agentur kontaktiert, und sie haben geantwortet.« Vor Begeisterung hüpfe ich auf und ab. »Vielleicht habe ich bald eine Agentin! Haben wir bald eine Agentin! Ist das nicht unglaublich? Natürlich müssen wir erst unsere Eltern um Erlaubnis fragen, aber ich glaube nicht, dass sie etwas dagegen haben.«

»Ist ja toll, Taylor.« Er knallt sein Schließfach zu.

»Was ist denn los mit dir?«

»Nichts.«

»Callum!«

Wir starren uns einige Sekunden lang an. Mir wird ganz flau im Magen.

»Mit dieser Sache möchte ich nichts zu tun haben. Das kannst du alles alleine machen.«

»Was? Ich weiß ja, ich hätte den Vortrag nicht in letzter Minute ändern sollen, tut mir leid, aber als ich da oben stand, da dachte ich plötzlich …«

Er geht davon.

»Callum, nun warte doch! Ich hab gesagt, es tut mir leid.«

Callum bleibt stehen, dreht sich zu mir zurück und schüttelt den Kopf. Dann geht er weiter. Ich starre ihm hinterher. Wieso ist er denn so wütend? Hinten im Gang erblicke ich Riley und steuere auf sie zu. Sie schaut weg und setzt ihren Weg fort.

Den ganzen Tag ist Callum schroff und kurz angebunden, während Riley sich wieder von mir fernhält. Ich verstehe das alles nicht. Das ist der erste Tag, wo ich etwas gehobenerer Stimmung bin. Sierra wäre hin und weg von der Idee, eine Agentin zu haben.

Als der Unterricht zu Ende ist, gehe ich allein über den Sportplatz. Callum läuft vor mir her. Er weiß, dass ich hinter ihm bin, wartet aber nicht auf mich. Er bleibt neben dem Auto seiner Mum stehen. Als ich näher komme, tritt er auf mich zu.

»Morgen fahre ich vielleicht wieder mit dem Fahrrad zur Schule.«

»Oh.«

Er macht kehrt und lässt sich auf den Beifahrersitz fallen. Auf dem ganzen Nachhauseweg sagt er kein Wort. Schließlich machen wir auf unserer Auffahrt halt.

»Vielen Dank fürs Mitnehmen an all den Tagen«, sage ich zu seiner Mum. »Morgen habe ich etwas vor und geh allein zur Schule.«

»Okay, Taylor. Bis dann«, erwidert sie.

»Tschüs. Tschüs, Callum.«

Er grunzt etwas. Als ich aussteige, bin ich völlig geklatscht.

Ich wünschte, ich hätte meinen Vortrag nicht geändert. Ich fühle mich schrecklich. Ich wusste doch, wie sehr Callum es hasst, öffentlich zu reden … Aber er selbst hätte doch genau das sagen können, was geplant war. Warum ist er denn bloß so wütend? Im Geiste gehe ich den Tag noch einmal durch. Bei dem Gespräch mit Mr Samalot war Callum sehr still, was ich darauf zurückgeführt habe, dass man Sierras Mörder immer noch nicht geschnappt hat und dass Callum die Aussicht, vor der ganzen Schule reden zu müssen, nervös machte. Oder täusche ich mich? Lag es an etwas ganz anderem? Vielleicht war mein neuer Vortrag zu emotionsgeladen. Oder hat es etwas damit zu tun, dass die Website so einschlägt? Ich selbst bin ja auch davon überwältigt …

Wenn er doch bloß sagen würde, worum es geht! Seit Sierras Tod ist alles so kompliziert. Ich weiß nicht mehr, was was ist, und habe keine Ahnung, wie ich mit Callum oder Riley umgehen soll.

Ich logge mich bei Risiko ein, lese und beantworte Mails und schlage vor, folgendes Thema zu diskutieren:

Gemischte Gefühle: Wenn alle um einen herum trauern, wie verhält man sich dann am besten? Woher weiß man, was man tun und sagen soll?

Die Leute springen sofort darauf an, äußern ihre Meinung und erzählen ihre Geschichte. Einige haben Freunde durch Selbstmord verloren, andere durch Autounfälle oder Krankheit. Es gibt viel Leid in der Welt, und einige der Diskussionsteilnehmer haben kluge Dinge zu sagen.

Ich checke meine E-Mails. Einige Mädchen haben mir Fotos von Typen geschickt, die sie noch gar nicht persönlich kennengelernt haben, mit denen sie sich aber bald treffen wollen. Das scheint mir eine Art von Nur-für-den-Fall-dass-Strategie zu sein – nach dem Motto: Wenn ich verschwinde, dann hast du wenigstens dieses Foto.

Ich sehe mir jedes Bild genau an. Bisher habe ich ungefähr dreißig Fotos gespeichert. Ich klicke sie alle noch mal an. Insgesamt wirken die meisten eher peinlich – hauptsächlich lachende Typen am Strand, die sich große Mühe geben, freundlich und nett und lustig zu wirken. Ein Typ hat sich auf einem Fahrrad ablichten lassen, ein anderer sitzt in einem Kajak. Einer hat sein erkennungsdienstliches Polizeifoto geschickt. Er hält sich eine Tafel vor die Brust, auf der sein Name und eine Zahl stehen. Auf seine Finger sind grüne Buchstaben tätowiert, die auf einer Hand das Wort LIEBE ergeben, auf der anderen das Wort HASS. Dann sehe ich, dass unter der Zahl auf der Tafel noch die Abkürzung GSOH steht – Good Sense Of Humour, Guter Sinn für Humor. Das Ganze ist also ein Scherz. Lächelnd überlege ich, ob dieses Foto vielleicht doch ein Körnchen Wahrheit enthält und ob er tatsächlich mal im Gefängnis war … möglicherweise ist er ja der Einzige auf diesen Fotos, der nichts verheimlicht.

Die Kommentare all dieser Mädchen erinnern mich stark an Sierra:

Es ist, als würden wir uns schon ewig kennen.

Ich glaube, wir sind uns schon in einem anderen Leben begegnet.

Ich kann einfach nicht glauben, dass wir uns schon so gut kennen, obwohl wir uns erst vor Kurzem begegnet sind.

Genau das habe ich bei Jacob Jones auch empfunden. Die ganze Sache macht mich regelrecht krank. Ob sie alle gestalkt werden? Oder werde ich allmählich paranoid?

Ein Mädchen namens Fliss ist total von ihrem Typ begeistert. Obwohl sein Foto aus der Ferne aufgenommen wurde, sieht er ganz süß aus. Er geht einen Strand entlang, trägt ein weißes T-Shirt und Jeans, deren Beine bis zum Knie hochgekrempelt sind. Der Gewitterhimmel hinter ihm ist wunderschön. Irgendetwas an diesem Strand kommt mir bekannt vor, ich weiß aber nicht, was.

Ich lese mir die Mail von Fliss mehrmals durch und muss sofort an Sierra denken:

OMFG! Dieser Typ ist einfach perfekt! Ich glaube, ich hab mich verliebt! Wir wollen uns treffen – Freitagnachmittag am Jachthafen St. Kilda. Kann’s kaum erwarten!!!

Das erinnert mich so sehr an den Großen Tag. Unwillkürlich fällt mir ein, wie Sierra in der Schule in einem fort über dieses Thema geredet hat. Fliss’ E-Mail könnte auch von Sierra sein. Und gleichzeitig fällt mir ein, wie ich mich selbst in all meiner Blödheit bis über beide Ohren in Jacob Jones verknallt habe.

Tu’s nicht, Fliss, würde ich am liebsten zurückschreiben. Du kennst den Typ doch gar nicht.

Aber andererseits weiß ich, dass nicht jeder Typ ein Verbrecher ist.

Hey, Fliss, danke für deine Mail. Viel Glück! T x

An der Haustür klopft es. Es ist Callum. Mein Herzschlag beschleunigt sich.

»Hi«, sage ich und trete zur Seite, um ihn einzulassen.

»Ich habe gesehen, welches Thema du zur Diskussion gestellt hast.«

»Oh«, erwidere ich und versuche festzustellen, ob er sauer ist.

»Warum hast du mich nicht einfach gefragt? Du brauchst doch nicht jedes Problem, das du hast, in die Öffentlichkeit zu zerren.« Er atmet schwer, denn er ist gerade vom Fahrrad gestiegen.

»Möchtest du was trinken?«, frage ich.

»Warum machst du das, Taylor?«

Ich drehe mich zur Seite und sehe ihn an. »Was denn?«

Er verdreht die Augen. »Warum gehst du jeder Konfrontation aus dem Weg?«

Stimmt. Ich hasse Konfrontationen und breche nie eine vom Zaun. Ich stehe in der Küche und weiß nicht, was ich sagen soll.

»Offenbar möchtest du wissen, was los ist.«

»Das habe ich dich doch schon in der Schule gefragt«, erwidere ich. »Nichts hast du gesagt. Was erwartest du denn jetzt von mir? Wenn ich dich weiter mit Fragen löchere, ist das nervig. Und das will ich nicht sein.«

Er fährt sich mit den Händen durchs Haar. »Es ist unmöglich, lange auf dich wütend zu sein. Allein das ist schon ärgerlich.«

Ich starre ihn an. Etwas an ihm ist anders. Er ist plötzlich wieder sehr bestimmt – so wie er es vor Sierras Verschwinden war. Dieser Callum gefällt mir.

»Na, dann rede mit mir. Schließlich stehe ich gerade vor dir. Also lass mich nicht rumrätseln.«

»Jacob Jones.«

Dass so unvermittelt sein Name fällt, ist wie ein Schlag ins Gesicht. Ich weiche zurück, bis ich zu einem Hocker gelange und mich daraufplumpsen lasse.

»Du hast mir nie erzählt, dass du dich in Jacob Jones verknallt hast«, fährt Callum fort. »Dass du dich mit ihm treffen wolltest und es getan hättest, wenn es möglich gewesen wäre. Du hast mir nie erzählt, dass du in ihn verliebt warst. Das musste ich in Anwesenheit der ganzen Schule erfahren.« Callums Gesicht ist rot.

Ich schlucke. Plötzlich habe ich einen Kloß im Hals. Ich kann einfach nicht glauben, dass ich so gedankenlos war.

»Ich wollte bloß klarmachen, dass Sierra nicht die Einzige war. Dass sie nicht dumm war und nichts gemacht hat, was andere nicht hätten machen können. Ich wollte, dass sie besser dasteht, weil schlimme Sachen über sie gesagt worden sind … Sierra hatte den Ruf, ein bisschen wild zu sein – im Gegensatz zu mir. Wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre … Es ist schrecklich, aber dann wären die Leute viel schockierter gewesen. Ich wollte nur klarmachen …« Ich verstumme.

»Taylor, was bedeutet das für uns?« Mir gefällt, wie er uns sagt. Er presst die Lippen aufeinander – seine perfekten Lippen. Ich kann den Blick nicht von ihnen wenden. Er sieht mich unverwandt an.

»Nichts«, erwidere ich.

Er schaut zu Boden. Das war die falsche Antwort.

»Sieh mal«, sage ich, »heute war ein guter Tag für mich. Der erste gute Tag seit Sierras Tod.«

Bei dem Wort Tod zuckt er zusammen.

»Ich bin ganz aufgeregt, weil ich vielleicht bald eine Agentin haben werde«, erkläre ich, »und freue mich total über den Erfolg der Website – das könnte dazu beitragen, den Mörder zu finden. Und wenn nicht, hindert es möglicherweise ein anderes Mädchen daran, den gleichen Fehler wie Sierra zu machen.«

»Den du fast gemacht hättest, meinst du«, stößt er hervor.

»Bist du eifersüchtig? Geht es darum?«

Er vermeidet es nach wie vor, mich anzusehen.

»Tut mir leid, Callum, dass sich in meinem Leben nicht alles um dich gedreht hat. Ich war auch in Jacob Jones verknallt. Und ja, damals habe ich mir gewünscht, dass ich mich mit ihm treffen würde.«

»Ich muss gehen«, sagt er.

Er steht auf und steuert auf die Haustür zu.

»Kannst du nicht bleiben, Callum, und weiter mit mir reden? Wir sind doch noch nicht fertig.«

»Da täuschst du dich, Taylor. Wir sind fertig.« Nachdem er mich fest angesehen hat, geht er zur Tür hinaus, die der Wind hinter ihm zuschlägt. Ich zucke zusammen. Wahrscheinlich nimmt er jetzt an, ich hätte das getan.

Ich gehe in die Küche zurück. Sierra, ich wünschte, du wärst hier. Ich brauche dich. Warum musste es gerade dich treffen?

Ich rufe Riley an, die sofort rangeht.

Als ich ihre Stimme höre, fange ich an zu weinen.

»Was ist passiert?«, fragt sie in zittrigem Ton.

»Nichts, was mit Sierra zu tun hat«, sage ich rasch.

Ich höre, wie sie aufatmet.

»Ich hatte gerade Streit mit Callum, und er ist gegangen.« Riley hüllt sich in Schweigen. »Bist du noch da?«, frage ich.

»Worum ging’s denn in dem Streit?« Ihre Stimme klingt eisig.

»In meinem Vortrag habe ich doch gesagt, dass ich auch in Jacob Jones verknallt war.«

Sie atmet genervt ein und aus. »Ja, und am nächsten Tag hast du mit Callum rumgemacht. Bestimmt fühlt er sich sehr geschmeichelt.«

»Was soll das heißen? Das hatte nichts damit …«

»Das Problem ist, Taylor«, fällt sie mir ins Wort, »dass du seit Sierras Tod wie sie geworden bist. Es geht nur noch um dich – nach dem Motto: Seht alle mal her, meine Website ist ja so toll, bald habe ich eine Agentin, ich war auch in Jacob Jones verknallt. Und wenn der Junge, der wirklich in dich verliebt ist, in Gegenwart von siebenhundert Mitschülern erfährt, dass er dein Trostpreis war, dann machst du es genau wie Sierra und wunderst dich, warum er so angepisst ist. Schon vor ihrem Tod wolltest du wie sie sein, Taylor, und jetzt bist du sie geworden. Diese ganze Geltungssucht machte sie so ätzend und unbeliebt.« Riley legt auf.

Wie benommen presse ich das Handy noch ein paar Sekunden lang ans Ohr. Riley täuscht sich. Ich bin nicht dabei, mich in Sierra zu verwandeln. Ich lege das Handy auf den Tisch. Dann gehe ich nach oben, strecke mich auf dem Bett aus und starre zur Decke. Ich bin wie betäubt und spüre eine seltsame Leere in mir, ohne irgendetwas zu denken oder zu empfinden. Das ist eigentlich ganz schön. Ich liege ganz still, damit sich nichts an diesem Zustand ändert.

»Ist alles okay?« Mums Stimme lässt mich zusammenfahren. Ich habe gar nicht gehört, wie sie hereingekommen ist.

»Ja«, erwidere ich, während meine Empfindungslosigkeit sich verflüchtigt und ich von Schmerz überflutet werde. Ich drehe mich ihr zu. »Ist bei dir auch alles okay?« Womit ich eigentlich meine, wie es Rachel geht, denn sicher war Mum bei ihr.

»Die Miffy-the-Kat-Sache hat nichts ergeben.« Mum kommt zu mir und setzt sich aufs Bett. »Sie haben zwar ein paar Aufnahmen von ihrem Treffen entdeckt, aber denen ließ sich nicht viel entnehmen. Rachel hat die Aufnahmen nicht zu Gesicht bekommen, aber Kel hat ihr erzählt, dass zu sehen ist, wie Miffy the Kat und der Typ im Imbissbereich vom Greendale Shopping Centre sitzen. Er trägt ein Baseballcap, sodass sein Gesicht nicht zu erkennen ist. Als Miffy auf dem Weg zur Toilette ist, bleibt sie stehen, um mit einer Frau zu sprechen, wie sich herausgestellt hat, eine Freundin ihrer Mutter. Miffy war sehr überrascht, sie zu treffen, und blickte ständig über die Schulter zurück – man merkt, wie nervös sie ist.

Der Typ hat das alles beobachtet, und nachdem sie in der Toilette verschwunden war, stand er ganz lässig auf und steuerte auf den nächsten Ausgang zu. Die Polizei meint, dass das Auftauchen der Frau ihn wahrscheinlich verscheucht hat. Er und Miffy hatten sich für Greendale entschieden, weil Miffy dort niemanden kannte. Sie wollte nicht, dass ihre Mum etwas von dem Treffen erfährt. Das einzig Gute daran ist, dass Miffy imstande sein wird, ihn zu identifizieren, falls man ihn je schnappt.« Mums Augen füllen sich mit Tränen. »Ich muss ständig daran denken, was für ein Glück Miffy hatte, als sie diese Freundin ihrer Mutter traf …«

Was Mum da berichtet, macht mich völlig fertig. Ich war mir so sicher, dass dieser neue Anhaltspunkt zu seiner Festnahme führen würde. Ich habe mich darauf verlassen.

»Ist Miffy jetzt in Gefahr?«

»Vermutlich wäre sie das, wenn der Typ wüsste, dass die Polizei sich mit ihr in Verbindung gesetzt hat, aber da du ihre Mitteilung nicht auf der Website veröffentlicht hast, kann er nichts wissen. Ihre Eltern … na, du kannst dir sicher vorstellen, wie die reagiert haben. Das ganze Was-wäre-gewesen-wenn …«

Ich gehe nach unten und logge mich bei Risiko ein. Weitere Fotos sind eingetroffen. Während ich sie speichere, fällt mein Blick auf das Bild, das Fliss mir geschickt hat. Plötzlich kommt mir der dunkle Himmel irgendwie unheimlich und bedrohlich vor. An dieser Aufnahme stimmt irgendetwas nicht. Sie ist nicht so wie die, die ich von Jacob Jones bekommen habe, erinnert mich aber aus irgendeinem Grund daran. Der Typ schaut genau wie Jacob Jones nicht in die Kamera, sodass man nicht feststellen kann, wie er aussieht. Den Strand kann ich nicht identifizieren, obwohl er mir bekannt vorkommt. Fliss’ Mail, das Foto … das alles beunruhigt mich.

Ich starre das Foto eine Weile an. Ich weiß, ich bin paranoid. Wird das jemals wieder weggehen?

Ich prüfe nach, wie viele Leute die Website inzwischen aufgerufen haben: über fünfundzwanzigtausend. Ich überlege, wie sich das noch steigern lässt. Ich möchte auf eine Million kommen.

Dann sehe ich mir die Fotos von Sierra auf der Homepage an. Sierra als unschuldiges Baby, das in die Kamera lächelt. Sie sah von Anfang an umwerfend aus. Mir fällt ein, was Riley über Sierras Geltungssucht gesagt hat. Ja, sie war geltungssüchtig. Warum war sie so? Kannten wir Sierra wirklich? Auf jedem Foto merkt man, dass sie vor Lebensfreude sprüht. Wenn sie je unsicher war, hat sie es gut kaschiert.

Ich checke meine E-Mails. Zwei weitere Schulen fragen an, ob ich daran interessiert wäre, bei ihnen meine Geschichte zu erzählen.

Mum kommt in die Küche und setzt sich neben mich, um zu sehen, was ich da gerade lese.

»Ein paar andere Schulen würden gern Sierras Geschichte hören«, erkläre ich ihr.

»Möchtest du denn so was machen?«

»Ich denke schon«, erwidere ich. »Ich habe ein paar Agenturen gegoogelt …« Mein Gesicht wird knallrot. Ich öffne Mila Parks E-Mail und drehe den Computer zu Mum, damit sie sie lesen kann.

»Die haben aber schnell geantwortet«, meint Mum.

»Ja, das alles hat sich heute abgespielt.«

Mum beugt sich vor, um die Mail genau zu lesen. »Diese Frau wäre dann deine Agentin, ja? Und du würdest für die Vorträge Geld bekommen?«

»Nehme ich zumindest an. Aber ich würde es auch umsonst machen.«

»Vielleicht solltest du erst mal abwarten, ob sich weitere Schulen bei dir melden, bevor du dich auf die Agentur einlässt.«

»Glaubst du, das mit der Agentin ist keine gute Idee?« Ihre Reaktion enttäuscht mich ein wenig.

»Das nun nicht. Wenn du zu viele Vorträge zu halten haben solltest, ist es sogar eine hervorragende Idee. Aber vielleicht wartest du trotzdem erst mal, ob weiterhin Anfragen von Schulen bei dir eingehen. Wenn das der Fall ist, kannst du ja immer noch einen Vertrag mit der Agentur schließen.« Mum umarmt mich. »Sierra wäre wirklich stolz auf das, was du gemacht hast.«

Ich senke den Blick.

»Kann sein. Callum und Riley sind es jedenfalls nicht.« Das mit Callum tut mir sehr weh und furchtbar leid, während Rileys Vorwürfe mich einfach nur wütend gemacht haben. Es kann doch nicht sein, dass ich mich schlecht fühle, weil ich etwas für Sierra mache. Sierra würde sich für mich freuen – und das sollte Riley eigentlich auch.

Mum sieht mich an.

»Möchtest du darüber reden?«

»Eigentlich nicht. Jedenfalls jetzt noch nicht. Ich brauche ein bisschen Zeit zum Nachdenken.«

»Meinst du, dass du morgen in der Schule klarkommst?«

Ich nicke. »Ich werde mich einfach auf die Website konzentrieren und sie so perfekt wie möglich machen.«

»Wie steht’s mit deinen Schularbeiten? Holst du da auf?«

»Nach und nach.«

»Die Schule hat Nachhilfeunterricht angeboten. Was hältst du davon, wenn wir noch zwei Wochen warten, und wenn du weiterhin im Rückstand bist, kümmern wir uns darum.«

»Ja, das wäre wahrscheinlich das Beste.«

Mum steht auf, um das Abendessen zuzubereiten, während ich mich mit Risiko befasse. Ich gehe die bisherigen Diskussionen durch und füge da, wo ich es für richtig halte, Kommentare hinzu. Dann schreibe ich den Blog, über den ich schon nachgedacht habe.

Schuldgefühle der Überlebenden: Ich habe sie.

Durch den Verlust Sierras ist mein ganzes Leben durcheinandergeraten, und ich habe große Schwierigkeiten, das alles zu verkraften. Ich weiß nicht mehr, was ich empfinden darf, wie ich mich verhalten oder was ich zu Freunden sagen oder nicht sagen soll. Dinge, die früher völlig klar waren, sind mir jetzt ein Rätsel. Die Prioritäten, die ich gesetzt habe, haben sich derart verschoben, dass ich jede Orientierung verloren habe. Was ich vorher für wichtig gehalten habe, kommt mir jetzt belanglos vor. Ich habe mich meinen Freunden gegenüber nicht gut benommen, vielleicht weil ich das Gefühl habe, sie nicht zu verdienen. Meine Therapeutin sagt, dass ich an etwas leide, dass man als Überlebensschuld-Syndrom bezeichnet.

Ich bin froh darüber, hier zu sein, am Leben zu sein. Aber das heißt nicht, dass ich froh darüber bin, dass nicht ich, sondern Sierra es war, die sich mit dem Mann getroffen hat, der ihr dann das Leben genommen hat. Weil diese Gefühle sich zu widersprechen scheinen, fühle ich mich schuldig. Darf ich mich erleichtert fühlen, ohne dass das meiner Trauer um Sierra Abbruch tut? Darf ich Angst und Panik empfinden, wenn ich mir vorstelle, wie nahe ich daran war, statt Sierra zu diesem Treffen zu gehen, ohne dabei egoistisch oder gefühllos zu wirken?

Ich bin froh, am Leben zu sein. Dass es Sierra nicht mehr gibt, erfüllt mich mit unerträglichem Schmerz.

Diese beiden Aussagen haben nichts miteinander zu tun.

Habt ihr schon einmal Schuldgefühle gehabt? Wie seid ihr damit umgegangen?

Ich poste den Eintrag und teile ihn auf Twitter und Facebook.

Bei jedem Eintrag, den ich schreibe, spüre ich, wie die Last auf meinen Schultern abnimmt. Es verschafft mir Erleichterung, meine Gefühle auszudrücken. Ich möchte, dass andere mich verstehen. Ich möchte, dass Callum und Riley Bescheid wissen. Und Rachel. Vor allem Rachel. Ich möchte, dass sie meine Website liest. Manches, was ich schreibe, ist genau das, was ich ihr gern sagen würde.