Die Woche schleppt sich dahin. Ich habe mehrmals beobachtet, wie Callum und Riley in der Mittagspause in einem anderen Mensabereich als bisher zusammensaßen und sich unterhielten, jedoch habe ich immer so getan, als sähe ich sie nicht. Wenn ich in ihrer Nähe vorbeiging, bemerkte ich aus den Augenwinkeln, dass Callum abrupt verstummte und sein Blick mir folgte. In diesen Momenten waren all meine Sinne nur auf ihn eingestellt, mein Gehör derart geschärft, dass ich mir sogar einbildete, ihn atmen zu hören. Erst wenn ich an ihrem Tisch vorüber war, nahm ich die anderen Geräusche ringsum wieder wahr.
Danach gehe ich nicht mehr in die Mensa, denn ich habe kapiert, dass sie mich nicht in ihrer Runde dabeihaben wollen. Deshalb verbringe ich die kleinen Pausen und die Mittagspause allein im Computerraum, um an Risiko zu arbeiten.
Der letzte Blog, den ich gepostet habe, hat die Zahl der Aufrufe auf vierzigtausend hochgepusht. Da ich mich mit niemandem darüber freuen kann, lässt mich das jedoch ziemlich kalt.
»Sierra, bist du da?«, flüstere ich. »Tausende von Menschen lieben dich!«
Ich blicke umher, um festzustellen, ob irgendetwas darauf hinweist, dass sie bei mir ist. Nichts.
In der letzten Stunde haben wir Englisch. Am liebsten würde ich schwänzen, weil das gegenwärtige Unterrichtsthema »Konflikt« mir nicht passt. Sicher weiß Ms Duerden, dass Callum, Riley und ich uns zerstritten haben, und hat das Thema deswegen gewählt.
Die Tische im Klassenzimmer sind U-förmig aufgestellt. Da ich erhitzt bin, nehme ich in der Nähe der Tür Platz, um möglichst viel von der kühlen Luft abzubekommen, die die Klimaanlage in den Raum bläst. Das hilft zwar, bringt mein Haar aber völlig durcheinander, was bei mir überhaupt nicht so sexy wirkt wie bei Delta Goodrem mit ihren Riesenventilatoren.
Ms Duerden sitzt vorne am Lehrertisch. Ich vermeide es, zu Callum oder Riley hinzusehen, weiß aber genau, wo sie sind. Zwischen mir und Riley sitzen ein paar andere Schüler. Sicher hat sie sich dorthin gesetzt, damit sie mich nicht im Blick hat.
»Guten Tag allerseits. Heute wollen wir uns mit dem Thema Wahrnehmung beschäftigen. Konflikte ergeben sich oft aus Unterschieden in der Wahrnehmung. Vor jedem von euch liegt ein Arbeitsblatt. Nachdem einer von euch den Text vorgelesen hat, werden wir über Unterschiede in der Wahrnehmung diskutieren.«
Alle stöhnen.
»Anschließend werdet ihr etwas in der Art dieses Textes schreiben«, fährt Ms Duerden mit erhobener Stimme fort, »nichts allzu Langes, denn schließlich ist dies die letzte Stunde am Freitag, und ich weiß, dass ihr alle ganz wild darauf seid, ins Wochenende zu starten, aber vorher werdet ihr wenigstens eine Seite schreiben und eine Situation aus zwei verschiedenen Blickwinkeln schildern. Taylor, würdest du uns jetzt bitte den Text vorlesen.«
Ich nehme das Arbeitsblatt in die Hand und fange an vorzulesen.
Sie sitzt neben ihm und lässt den Blick über die Stadt schweifen, während er den Wagen über die Brücke lenkt. Im Westen ballen sich Quellwolken zusammen, die mit ihrer purpurnen, mit Weiß und Blau durchsetzten Färbung einen spektakulären Anblick bieten. Diese perfekte Mischung aus atmosphärischen Gasen und Sonnenlicht wird nicht lange zu sehen sein, weil die spätnachmittägliche Sonne immer tiefer sinkt und die Lichtverhältnisse sich ändern. Lächelnd genießt sie das schöne Bild.
Er wechselt die Fahrspur, blickt aus dem Fenster und stößt einen Pfiff aus.
»Da braut sich ja ein gewaltiges Unwetter zusammen«, sagt er.
Alle lachen über diese Pointe. Die Beschreibung erinnert mich an eines von Cabe Osrics Fotos – das mit den bizarren Wolken über einer Stadt, die bei perfekten Lichtverhältnissen aufgenommen wurden …
… und sie erinnert mich auch an diese Aufnahme mit dem Gewitterhimmel über dem Strand, die Fliss mir geschickt hat …
Scheiße!
Ich stehe so abrupt auf, dass mein Stuhl umkippt.
»Tayl…« Ms Duerden verstummt mitten in meinem Namen.
Ich bekomme kaum noch Luft. Das Foto mit dem Gewitterhimmel über dem Strand stammt von Cabe Osric. Fliss’ Typ ist auf einem Bild von Cabe Osric zu sehen. Ich muss mir die Aufnahme noch einmal ansehen. Callums Blick und meiner treffen sich. Er sitzt wie gelähmt da und starrt mich an. Er weiß, dass irgendetwas nicht stimmt.
»Ich brauche einen Computer«, sage ich zu Callum.
»Taylor, was ist denn los?«, fragt die Lehrerin.
»Ich brauche einen Computer. Ich muss mir Cabe Osrics Website ansehen und mich bei Risiko einloggen.«
Callum und Riley wissen sofort Bescheid. Blitzschnell holt Riley ihren Laptop hervor und geht online. Mit zittrigen Fingern tippt sie auf die Tasten.
»Ich bin auf Cabe Osrics Site«, sagt sie.
Inzwischen ist die Klasse unruhig geworden. Ich meine zu hören, wie einige Schüler Ms Duerden fragen, was hier vor sich geht, achte aber nicht darauf. Ich gehe zu Riley hinüber und drehe ihren Laptop zu mir. Meine Aufmerksamkeit konzentriert sich auf den Bildschirm. Ich zittere am ganzen Körper, während ich mir die Fotogalerie von Cabe Osric ansehe. Da ist es. Genau das hat Fliss mir geschickt, da bin ich mir absolut sicher.
»Ich habe mich bei Risiko eingeloggt«, verkündet Callum mit heiserer Stimme.
Ich ziehe seinen Laptop neben den von Riley. Ms Duerden hat sich hinter mich gestellt. Callum springt über den Tisch, damit er auch alles sehen kann. Ich klicke die Privatmail von Risiko an und öffne das Foto von Fliss …
Ja, es ist die Aufnahme von Cabe Osric, in die der Typ mit Photoshop eingefügt worden ist. Und obwohl der Mann auf diesem Foto nicht derselbe ist wie auf meinem, erinnert er stark an ihn. Er hat das Gesicht von der Kamera abgewandt. Seine Haut ist sonnengebräunt, sein Haar sandfarben, sein Körper athletisch. Er muss irgendwie auch so aussehen.
»Fliss … das Mädchen, das mir dieses Foto geschickt hat … trifft sich heute mit ihm. Mit ihm, verstehst du!«, sage ich zu Callum.
»Mein Gott«, erwidert Callum und fährt sich mit den Händen durchs Haar. »Wir müssen sofort die Polizei benachrichtigen.«
»Hast du die Nummer von diesem Kriminalbeamten bei dir?«, frage ich.
»Ich hab sie«, sagt Riley. Sie kramt in ihrem Rucksack herum und holt ihr Portemonnaie heraus, dem sie eine Visitenkarte entnimmt.
Während ich die Nummer wähle, sehe ich nach, wie spät es ist. In einer halben Stunde ist die Schule aus. Mein Anruf landet sofort bei der Voicemail. Ich wähle noch einmal. Dasselbe Lied.
»Er geht nicht ran!«, sage ich.
»Ruf 000 an«, schlägt Callum vor.
Ich folge seinem Rat. Vor Aufregung sind meine Finger ganz feucht.
»Polizei, Feuerwehr oder Ambulanz?«
»Polizei«, sage ich. Ich werde durchgestellt und höre, wie es klingelt. Das dauert viel zu lange. Scheiße. Scheiße. Scheiße. Ich blicke auf die Uhr. Das ist doch absurd.
»Polizeinotruf. Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragt eine Frau.
»Die Polizei muss sofort zum Jachthafen St. Kilda fahren …« Was, wenn sie zur Mole gehen? »… und vielleicht auch zur Mole.« Ich spreche so schnell, dass ich mich fast verhasple.
»Ihren Namen bitte.«
»Taylor Gray.«
»Ihre Adresse?«
»Was?« Wenn ich könnte, würde ich durchs Telefon greifen und diese Frau schütteln.
»Ihre Adresse bitte.«
»Das ist wirklich dringend. Die Polizei muss sofort zum Hafen fahren.«
»Je schneller Sie meine Fragen beantworten, desto schneller wird die Polizei hinfahren. Ich brauche Ihre Adresse.«
Ich gebe sie ihr.
»Ihr Geburtsdatum?«
Was soll die Scheiße? Ich nenne ihr auch mein Geburtsdatum.
»Worum geht es bei Ihrer Anzeige?«
»Am Jachthafen St. Kilda oder an der Mole wird demnächst eine Entführung stattfinden.«
»Was veranlasst Sie zu dieser Annahme?«
»Ein Mädchen namens Fliss hat mir ein Foto von ihrem Typ geschickt, aber der ist ein Mörder. Dieser Mann hat meine Freundin Sierra Carson-Mills umgebracht – und Fliss will sich heute nach der Schule mit ihm treffen.«
»Wie lautet Fliss’ voller Name?«
»Den kenne ich nicht! Ich weiß noch nicht einmal, ob Fliss ihr richtiger Name ist! Diesen Namen benutzt sie auf meiner Website!«
»Wie sieht sie aus?«
Verdammt noch mal!
»Auch das weiß ich nicht! Ich weiß nur, dass sie sich mit diesem Mann treffen will.«
»Wie ist der Name dieses Mannes?«
»Keine Ahnung. Das letzte Mal hat er sich Jacob Jones genannt.«
»Wie alt ist Jacob Jones und wie sieht er aus?«
»Das weiß ich nicht! Kann sein, dass er sandfarbenes Haar und einen athletischen Körper hat … äh … ehrlich gesagt, ich weiß es einfach nicht. Wenn ich das alles wüsste, hätte die Polizei ihn längst geschnappt.«
»Ich schicke einen Wagen zum angegebenen Ort. Bitte bleiben Sie am Apparat.«
Ich höre, wie sie etwas auf einer Tastatur eingibt.
»Okay«, sagt sie mit leicht genervter Stimme. »Der Wagen ist unterwegs.« Sie macht eine kurze Pause. »Ich brauche noch weitere Einzelheiten, also bleiben Sie bitte am Apparat. Wir suchen nach Fliss, was vielleicht nicht ihr richtiger Name ist, Aussehen unbekannt, und Jacob Jones, der anders heißt, Aussehen unbekannt. Das sind sehr vage Angaben. Können Sie mir sonst noch etwas sagen?«
Ich sehe erneut nach, wie spät es ist.
»Ich weiß doch nicht mehr! Ich weiß nur, das Fliss in Gefahr ist! Sie will sich mit einem Mörder treffen!«
»Okay. Trotzdem brauche ich weitere Einzelheiten. Könnten Sie mir bitte noch mal erzählen, wie Sie an diese Informationen gekommen sind?«
O mein Gott. Wie oft soll ich das denn noch wiederholen?
»Schicken Sie doch endlich die Scheißbullen los!«
»Bitte unterlassen Sie solche Ausdrücke, Ms Gray. Die Polizei ist bereits unterwegs.«
Ich blicke auf die Uhr. Wenn ich sofort aufbreche, könnte ich es noch schaffen.
»Tut mir leid. Hören Sie, könnten Sie mir einen Gefallen tun? Könnten Sie Oberinspektor Kel Parkinson kontaktieren und ihm sagen, dass Jacob Jones sich wieder mit einem Schulmädchen trifft, Benutzername Fliss, und zwar heute Nachmittag am Jachthafen St. Kilda oder an der Mole. Er wird wissen, was zu tun ist.«
Während die Frau tippt, wiederholt sie, was ich sage. Dann liest sie es noch einmal vor und bittet mich, den Wortlaut zu bestätigen.
»Ja, richtig«, sage ich. Als die Frau fragt, warum meine Nachricht ausgerechnet an Oberinspektor Parkinson weitergeleitet werden soll, lege ich auf und renne los. Ich kann es noch schaffen.
»Wo willst du denn hin?«, ruft Callum mir hinterher.
»Zum Jachthafen St. Kilda. Ich glaube, ich schaff’s noch«, rufe ich zurück, während ich schon den Gang entlangrase.
Ich höre, wie hinter mir alles in Aufruhr gerät. Ms Duerden fordert mich auf, stehen zu bleiben. Callum schreit etwas, das ich nicht verstehe. Ich habe keine Zeit, stehen zu bleiben. Ich habe Sierra im Stich gelassen, als ich sie nicht begleitet habe. Fliss werde ich nicht im Stich lassen. Ich sprinte über den Sportplatz. Zu dieser Tageszeit geht alle zwanzig Minuten ein Zug. Hinter mir höre ich eine Stimme. Callum folgt mir. Ich blicke nicht zurück und bleibe nicht stehen. Ich erreiche den Fußweg, der zum Bahnhof führt. Meine Lungen brennen wie Feuer. Trotzdem renne ich weiter in Richtung Bahnhof. Ich höre, wie gerade ein Zug einfährt. Als ich über die Überführung eile, macht er am Bahnsteig halt. Ich sehe den Zug mit offenen Türen dastehen, während ich die Rampe hinunterhaste.
Die Türen gehen zu, der Zug setzt sich langsam in Bewegung.
»Nein!«, schreie ich. »Wartet doch!« Die Geräusche des aus dem Bahnhof fahrenden Zugs übertönen meine Worte.
Vor lauter Wut und Frust kommen mir die Tränen. Obwohl ich gegen den Waggon hämmere und aus voller Kehle schreie, hält der Zug nicht an. Ich blicke über die Gleise zur Straße hinüber, wo ich einen Taxistand sehe. Doch aus der Stadt kommt gerade ein Zug. Da er am Bahnhof sein wird, bevor ich die Überführung überquert habe, werden mir die Fahrgäste alle Taxis vor der Nase wegschnappen. Ich nehme die Gleise in Augenschein und schätze die Höhe von den Gleisen zum Bahnsteig auf der anderen Seite ab. Ob ich es schaffe, in der kurzen Zeit so hoch zu klettern? Callum ruft von der Überführung aus meinen Namen. Ich blicke kurz nach oben, doch mein Entschluss steht bereits fest.
Ich stürze zum Rand des Bahnsteigs und springe von dort auf die Gleise. Ich komme unglücklich auf und falle fast hin. Ich habe keine Zeit zu verlieren. Der Zug nähert sich dem Bahnhof.
»Taylor!«, schreit Callum.
Doch der Lokführer hat mich gesehen. Callums Stimme geht im Kreischen der Zugbremsen unter. Ich kann es schaffen. Ich renne über den Schotter und klettere in aller Hast auf den Bahnsteig, bevor der Zug auch nur in meine Nähe kommt. Ich habe es geschafft.
Ich stürme zum ersten Taxi.
»Zum Jachthafen St. Kilda, bitte.«
Der Fahrer dreht sich zu mir um. Offenbar überrascht ihn das Fahrziel. Ich atme schwer, mein Gesicht ist knallrot. Der Fahrer mustert mich mit skeptischem Blick.
»Hast du denn Geld?«
»Ja«, schwindle ich.
»Diese Strecke kostet ungefähr achtzig Dollar. Zeig mir dein Geld mal.«
»Bitte, es ist dringend.«
»Meine Frau und meine Kinder zu ernähren ist auch dringend. Und jetzt verschwinde aus meinem Taxi!«
»Jemand ist in Lebensgefahr!« Meine Augen füllen sich mit Tränen.
»Raus!«, sagt er. Er steigt aus, kommt zu meiner Tür und reißt sie auf. »Steig aus und hau ab, sonst ruf ich die Polizei.«
Ich klettere aus dem Taxi und sehe den Fahrer verächtlich an.
Callum steht drüben auf dem Bahnsteig und beobachtet alles. Seine Brust hebt und henkt sich, weil er so schnell gerannt ist. Ich blicke auf meine Uhr. Die Zeit wird immer knapper. Ich kann es nicht mehr schaffen.
Ich denke angestrengt nach. Rachel wohnt hier ganz in der Nähe. Aber sie hasst mich …
Ich zermartere mein Gehirn, doch mir fällt nichts anderes ein.
Ich muss es einfach versuchen.
Mit einem flauen Gefühl im Magen renne ich los.
Bitte sei zu Hause, bitte sei zu Hause, bitte sei zu Hause, murmle ich unterwegs vor mich hin.
Ich klopfe viel lauter als beabsichtigt an die Haustür. Ich höre, wie sie zur Tür eilt.
»Rachel«, sage ich. »Ich brauche deine Hilfe. Es ist dringend.«
Mein überfallartiger Auftritt schockiert sie so, dass sie ganz bleich wird.
»Rachel, es tut mir leid, dass ich hergekommen bin. Ich hätte nie … Aber ich bin völlig verzweifelt. Ich brauche deine Hilfe. Bitte …«
Rache klappt der Unterkiefer runter.
»Bitte«, wiederhole ich. »Jacob Jones will sich wieder mit jemandem treffen. Das Mädchen weiß nicht, dass er es ist.« Tränen strömen mir über die Wangen. »Ich weiß, dass ich Sierra hätte begleiten müssen. Und ich werde es ewig bereuen, es nicht getan zu haben. Bitte … vielleicht können wir verhindern …«
»Taylor, ich bin wohl kaum die richtige Person, um Jagd auf diesen Typ zu machen, von dem du aus irgendeinem Grund annimmst, dass er Jacob Jones sein könnte.«
»Ich weiß … ich weiß, dass du nicht die richtige Person bist, aber du bist die Einzige, an die ich mich wenden kann. Gerade habe ich den Zug verpasst, und der Taxifahrer hat sich geweigert, mich zum Jachthafen zu bringen, weil ich kein Geld habe. Bitte. Bitte hilf mir, die Zeit wird immer knapper.«
Rachel reibt sich die Schläfen.
»Taylor, ich kann das nicht machen. Das ist Sache der Polizei. Ruf sie an. Und geh jetzt bitte.«
»Ich habe die Polizei schon angerufen. Kel konnte ich nicht erreichen, und die Frau vom Notruf hat gesagt, sie hätte einen Wagen hingeschickt, aber ich glaube, sie dachte, ich hätte das alles erfunden oder so, weil ich ihr keine Einzelheiten nennen konnte. Rachel, von mir aus kannst du mich ewig hassen – ich kann nichts an dem ändern, was passiert ist –, aber wenn du mir jetzt nicht hilfst, verhältst du dich genau wie ich damals. Was willst du Fliss’ Mutter sagen, wenn ihre Tochter heute Abend nicht nach Hause kommt?«
Rachel zuckt zusammen. Ich weiß, dass ich einen wunden Punkt getroffen habe, und komme mir grausam vor.
»Entschuldige«, sage ich. »Das hätte ich nicht sagen dürfen. Ich geh dann.« Ich steuere auf die Haustür zu.
»Warte«, sagt sie. »Ich bring dich hin.«
Ich schließe die Augen und atme tief durch. »Danke«, sage ich. »Aber wir müssen uns beeilen. Ich weiß noch nicht mal, ob wir es noch rechtzeitig schaffen.«
Unterwegs sagen wir kein einziges Wort. Rachel schlängelt sich durch den Verkehr, während ich unablässig mit den Fingern auf mein Bein trommle und alle dreißig Sekunden auf die Uhr sehe. Jeder Halt an einer roten Ampel treibt mich fast in den Wahnsinn. Die Sekunden werden zu Minuten. Gerade ist es halb vier geworden. Jetzt ist die Schule aus. Wenn Kel es nicht geschafft hat, Fliss aufzuhalten, ist sie bereits auf dem Weg zu ihrem Treffen.
Kurz nach vier kommt endlich der Jachthafen in Sicht. Der Verkehr ist so dicht, dass wir nur im Schneckentempo vorankommen. Da bin ich zu Fuß schneller.
»Ich werd hier aussteigen«, sage ich zu Rachel.
Rachels Augen füllen sich mit Tränen. »Sei vorsichtig«, sagt sie.
Bei ihren Worten knicken mir fast die Beine weg, als ich sie aus dem Wagen schwinge. Ich drehe mich zurück und sehe sie an. Dann knalle ich die Autotür zu und renne los.
Das Adrenalin braust so durch meinen Körper, dass ich schnell und mühelos vorankomme. Überall sind Menschen – Skater, Hundebesitzer, die mit ihren Vierbeinern Gassi gehen, Händchen haltende Pärchen, Jogger, Leute, die herumstehen oder irgendwo sitzen. Ich lasse den Blick über den Parkplatz und den am Strand entlangführenden Weg schweifen, kann jedoch nirgendwo ein Polizeiauto entdecken. Auf einer Bank sitzt ein junges Paar dicht beieinander, doch ohne sich anzufassen. Das Mädchen ist klein und brünett. Ich habe mir Fliss immer so blond wie Sierra vorgestellt, aber das hat natürlich nichts zu besagen. Der Typ hat hellbraune Haare. Das könnten sie sein. Ich rufe Fliss’ Namen. Das Mädchen zeigt keine Reaktion. Ich rufe den Namen noch einmal und renne auf sie zu. In dem Moment stehen sie auf und steuern auf ein Auto zu.
»Fliss, bleib stehen! Fliss!«, schreie ich. Als ich sie eingeholt habe, packe ich sie beim Arm. Sie springt erschrocken zurück. »Bist du Fliss?«, frage ich.
»Nein!« Sie schüttelt den Kopf und weicht mit weit aufgerissenen Augen vor mir zurück. Der Typ stellt sich schützend vor sie.
Als ich ihn ansehe, fällt mir ein, dass ich Jacob Jones ein Foto von mir geschickt habe. Er weiß, wie ich aussehe. Mir läuft es eiskalt über den Rücken. Ich blicke an ihm vorbei und schaue das Mädchen an.
»Ich bin Taylor von der Website Risiko«, teile ich ihr mit gesenkter Stimme mit. »Kennst du mich?«
»Nein. Ich habe keine Ahnung, wer du bist«, fährt sie mich an.
»Dann entschuldige bitte«, erwidere ich und wende mich von ihnen ab. Anschließend halte ich weiter nach jemand Ausschau, der Fliss sein könnte. Ein anderes Pärchen kommt den Weg am Strand entlang. Ich renne ihnen entgegen und rufe dabei Fliss’ Namen.
Das Mädchen ist ziemlich groß und älter, als Fliss es vermutlich ist. Die zwei scheinen sehr vertraut miteinander zu sein. Ich glaube nicht, dass sie das ist. Trotzdem werde ich fragen.
»Entschuldige, ich suche Fliss. Bist du Fliss?«
Das Mädchen lächelt mich an. »Nein, bedaure«, erwidert sie.
Ich rase weiter in Richtung Strand. Ein blondes Mädchen sitzt im Schneidersitz im Sand. Ihr Typ liegt, auf die Ellbogen gestützt, mit ausgestreckten Beinen neben ihr. Er hat aschblondes Haar. Das Mädchen ist zierlich und sieht wie ungefähr fünfzehn aus. Gerade wirft sie den Kopf zurück und lacht. Ich merke, dass sie total auf den Typ abgefahren ist. Als ich den Strand erreicht habe, verlangsame ich mein Tempo. Mein Herz hämmert wie wild.
»Fliss? Bist du das?«, sage ich, als wäre ich eine alte Freundin.
Sie dreht sich zu mir und sieht mich kurz mit verwirrtem Ausdruck in den Augen an. Dann wendet sie sich wieder ihrem Typ zu.
»Fliss?«, frage ich noch einmal.
Sie dreht sich erneut um. »Redest du mit mir?«
»Ja, sorry, ich suche Fliss. Bist du Fliss?«
»Nein. Du musst mich mit jemand verwechseln.«
Ich glaube ihr kein Wort. Das muss sie sein.
»Warst du auf der Website Risiko? Ist dein Benutzername Fliss?«
»Tut mir leid, aber ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest.«
»Ich bin Taylor. Ich habe dir eine Mail geschickt.«
Ich schaue sie forschend an.
»Hör mal, ich hab doch gesagt, ich bin nicht Fliss. Könntest du jetzt bitte verschwinden? Du nervst nämlich!« Der Typ hat sich aufgerichtet und sieht mich abweisend an.
Ich ziehe mich zurück.
Als ich umherblicke, fällt mir ein schwarzes Auto auf. Das Fenster ist heruntergelassen. Der Fahrer hat das Gesicht von mir abgewandt. Dann dreht er den Kopf und schaut in Richtung Meer. An seinem Gesicht, seiner verspiegelten Sonnenbrille, seinem Lächeln ist etwas, bei dem mir eiskalt wird. Ganz langsam fährt er an mir vorbei. Ich stehe wie angewurzelt da und weiß nicht, was ich tun soll. Dann sprinte ich los. Ich muss unbedingt sehen, wer der Beifahrer ist.
Im Nu habe ich den Strand hinter mir gelassen und renne den Weg entlang. Ich sehe, dass das Auto nach links abbiegen will und auf die Ampel zusteuert. Als ich über den Parkplatz rase, bekomme ich die Beifahrerin kurz zu sehen. Sie ist jung, viel jünger als er, aber stark geschminkt, als versuche sie, älter zu wirken. Ihr erdbeerfarbenes Haar flattert im Wind.
»Fliss!«, schreie ich. Meine Stimme ist nicht laut genug. Ich bleibe stehen, um Atem zu schöpfen. »Fliiiss!«, schreie ich mit aller Kraft.