Das Fenster auf der Beifahrerseite schließt sich.
Das Auto muss an der Ampel warten. Ich renne ihnen hinterher, so schnell ich kann, schaffe es aber nicht mehr, da die Ampel vorher auf Grün springt. Der Wagen setzt sich in Bewegung.
Nein. Nein. Nein. Das darf nicht sein. Tränen verschleiern meinen Blick. Ich wische sie weg und kneife die Augen zusammen, um das Nummernschild zu erkennen.
Unablässig wiederhole ich im Geiste die Zahlen und Buchstaben. Dann sage ich sie laut vor mich hin, weil ich Angst habe, sie durcheinanderzubringen. Um sie mir fest einzuprägen, wiederhole ich sie unzählige Male.
In der Ferne heult eine Polizeisirene. Ich hole mein Handy heraus und wähle die Nummer des Kriminalbeamten. Er geht sofort ran. Die Sirene gehört offenbar zu seinem Auto, denn ich kann sie durchs Telefon hören. Er ist unterwegs, aber sie werden genauso zu spät kommen wie ich. Sein Wagen kommt auf den Parkplatz des Jachthafens gerast und hält mit quietschenden Reifen neben mir an. Kurz darauf nehme ich einen brenzligen Geruch wahr, der von den Bremsen herrührt.
Kel sitzt auf dem Beifahrersitz. Ich beuge mich zum Fenster runter und sage ihm das Kennzeichen an. »Schnell, schreiben Sie es auf, bevor ich es vergesse.«
Kel stellt mir verschiedene Fragen und gibt meine Antworten telefonisch weiter. »Wir haben Fliss identifiziert«, informiert er mich. »Gleich schicken sie ein Foto von ihr.«
Wir warten. Wenige Sekunden später piept sein Handy. Er öffnet das Foto und zeigt es mir. Ich erkenne Fliss sofort wieder.
»Ja, das ist sie. Das ist das Mädchen, das ich im Auto gesehen habe. Das Auto ist schwarz.«
Rachel macht hinter dem Polizeiwagen halt, steigt aus und stellt sich neben mich. Kel bittet sie, mich nach Hause zu fahren. Während ich in Rachels Auto steige, rasen die Kriminalbeamten davon.
Rachel und ich sitzen schweigend nebeneinander. Völlig erschöpft lehne ich mich gegen die Beifahrertür, halte aber meine Tränen zurück. Ich will nicht, dass Rachel mich weinen sieht. Ich schließe die Augen. Die Heimfahrt kommt mir ewig vor.
Als sie endlich in unsere Auffahrt einbiegt, drehe ich mich zu ihr. »Danke, dass du mir heute geholfen hast. Ich weiß …« Mir versagt die Stimme. »Ich weiß, dass es nicht richtig war, zu dir zu kommen, aber ich wusste einfach nicht, an wen ich mich sonst hätte wenden sollen.«
Rachel sieht mich an, während ihr Tränen in die Augen treten. »Du hast das Richtige gemacht, Taylor.«
Mum öffnet mit besorgtem Gesichtsausdruck die Autotür. Sicher war sie beunruhigt und hat sich gefragt, wo ich abgeblieben bin. Beim Aussteigen fange ich an zu weinen. Nachdem wir uns umarmt haben, gehe ich ins Haus und überlasse es Rachel, alles zu erklären.
Ich lege mich aufs Bett und starre zur Decke. Ich bin müde, wage es aber nicht, die Augen zu schließen, weil ich dann jedes Mal Fliss’ hübsches junges Gesicht vor mir sehe – und, wie sie in diesem schwarzem Auto an mir vorbeifährt.
Ich war zu spät. Ich habe sie nicht gerettet.
Ich stehe auf und gehe nach unten ins Wohnzimmer.
Unruhig laufe ich hin und her. Mum sitzt auf dem Sofa und mustert mich. Sie ist wütend.
»Dieser Typ ist gefährlich, Taylor. Versprich mir, dass du nie, nie wieder auf ihn Jagd machst.«
»Ich weiß, dass er gefährlich ist«, fahre ich sie an. »Und jetzt hat er Fliss. Was hätte ich denn sonst tun sollen?«
Wir starren uns eine Weile zornig an. Ich weiß, dass sie mein Verhalten versteht. Sie hätte genauso gehandelt.
Es klopft an der Haustür. Callum und Riley sind gekommen. Rileys Augen sind gerötet und verquollen. Callum sieht nicht viel besser aus. Riley und ich umarmen uns. Niemand sagt ein Wort. Callum nimmt Mum gegenüber auf dem anderen Sofa Platz – ein Déjà-vu-Erlebnis, denn genauso war es nach Sierras Verschwinden, bei der Auffindung ihrer Leiche und als sich nach ihrem Begräbnis durch Miffy the Kat ein neuer Anhaltspunkt ergeben hatte. Callum hat ganze Tage auf unserem Sofa verbracht und bedrückt vor sich hingeschwiegen.
Mum beugt sich vor. »Taylor, da deine Freunde jetzt da sind, würde ich gern schnell zu Rachel fahren, damit sie nicht alleine ist.«
»Rufst du uns dann an? Ich möchte selbst die geringste Kleinigkeit wissen.«
Sie nickt, schnappt sich ihre Schlüssel und geht. Ich würde sie gern begleiten, weiß aber, dass das zu viel für Rachel wäre. Diese ganze Sache mit Fliss hat sie unter Garantie total aufgewühlt.
Es gefällt mir ganz und gar nicht, so ausgeschlossen zu sein.
Eine halbe Stunde später klingelt mein Handy. Ich stürze zum Apparat. Es ist Mum.
»Mum?«
»Taylor.« Schon am Ton ihrer Stimme merke ich, dass sie schlechte Nachrichten hat. »Rachel hat mit Kel telefoniert. Er hat gesagt, die Polizei habe in der ganzen Stadt vergeblich nach dem Auto gefahndet. Fliss’ Handy schaltet sofort auf Voicemail, wenn man sie anruft. Deshalb versucht die Polizei jetzt, aus Fliss’ Freunden so viele Informationen wie möglich herauszubekommen. Doch bisher hat niemand eine Ahnung, wo sie ist oder wo sie hingefahren sind.«
Ich lasse mich auf den Fußboden sinken und schließe die Augen.
»Taylor, bist du noch da?«, höre ich Mum sagen.
»Ja«, flüstere ich.
Callum kniet sich vor mich, Riley kauert neben mir. Sie haben zwar nicht gehört, was Mum gesagt hat, merken aber an meiner Reaktion, dass es nichts Gutes war. Riley stützt den Kopf in die Hände und stöhnt vor sich hin.
»Ist alles mit dir in Ordnung?«, erkundigt sich Mum. »Wenn du mich brauchst, komme ich sofort nach Hause.«
»Nein. Callum und Riley sind ja da. Rachel braucht dich.«
»Du konntest ihnen das Kennzeichen sagen. Inzwischen werden sie wissen, wer er ist, und ihn finden.«
Das nützt Fliss allerdings nicht mehr viel, denke ich bei mir, nachdem ich aufgelegt habe.
Ich teile den anderen mit, was Mum mir erzählt hat. Callum stößt den Atem aus, als hätte ihn jemand in den Rücken getreten.
»Warum bin ich bloß nicht früher darauf gekommen? Selbst eine Stunde hätte schon etwas gebracht«, sage ich.
»Vielleicht finden sie sie ja noch rechtzeitig«, meint Callum. Ich umarme ihn. Ich liebe seinen Optimismus, obwohl ich ihn nicht teile.
Wir setzen uns wieder aufs Sofa. Ich mache warmen Kakao, und wir stellen uns auf eine lange Nacht ein. Wir reden, weinen ein bisschen und reden weiter. Riley sagt, Joel fehle ihr und Sierra fehle ihr auch. Dann weint sie wieder. Seit Sierras Tod stand zwischen Riley und mir eine Mauer, die heute Abend allmählich zerbröckelt.
»Tut mir leid, dass ich behauptet habe, du wärst wie Sierra geworden«, sagt sie.
Ich warte, dass sie fortfährt.
»Es … es war nur so, dass ich immer das Gefühl hatte, dass Sierra mich nicht für voll nimmt, weißt du? So als hätte sie mich nie richtig wahrgenommen. Und als ich dir diesen Vorwurf gemacht habe, hast du mir auch dieses Gefühl gegeben. Aber jetzt habe ich kapiert, wie sehr du leidest und dass dir das, was du machst, hilft, alles zu verkraften. Wir alle versuchen, es irgendwie zu verkraften.«
»Das tut mir so leid.« Ich breche in Tränen aus. »Dieses Gefühl wollte ich dir nie geben.« Riley setzt sich neben mich, und wir umarmen uns, worauf meine Tränen noch stärker fließen.
Ich bin so froh über dieses Gespräch. Unsere Vertrautheit miteinander hat mir gefehlt. Und jetzt sehe ich Riley in einem ganz neuen Licht, ebenso wie Callum und Joel. Wir alle haben Schlimmes durchgemacht … Es ist fast so, als hätten wir uns voneinander entfernen müssen, um zu überleben. Sierras Tod hat uns aus der Bahn geworfen und uns an unterschiedlichen Punkten aufkommen lassen. Aber jetzt … jetzt scheinen wir zu einem gemeinsamen Treffpunkt zurückgekrochen zu sein. Allerdings sind wir immer noch schwer angeschlagen. Individuell, aber auch als Gruppe von Freunden liegt noch ein weiter Weg vor uns. Vielleicht ist das etwas, was ich lernen muss. Mum war bei Rachel so hartnäckig, obwohl Rachel gesagt hat, sie wolle niemanden von uns sehen. Ich wage gar nicht, an die Dinge zu denken, die Rachel Mum möglicherweise an den Kopf geworfen hat, geschweige denn daran, wie verletzt Mum sich gefühlt haben mag. Sie trauert doch auch, denn sie hat Sierra ebenfalls sehr geliebt.
Eine Stunde später ruft Mum an. Keine Neuigkeiten.
»Wie geht es Rachel?«
»Nicht so gut. Sie trinkt Gin, was nicht sonderlich hilfreich für ihr Befinden sein dürfte. Dave ist gerade gekommen. Seit er hier ist, ist Rachel wesentlich ruhiger geworden. Würde mich nicht wundern, wenn sie sich wieder zusammenraufen.«
Wir reden noch ein paar Minuten, dann legen wir auf.
»Wo er sie wohl hinbringt? Nach Ballarat?«
Das ist eine rhetorische Frage, sodass sich niemand die Mühe macht zu antworten.
Ich hoffe wirklich, dass Dave und Rachel wieder zusammenkommen. Vielleicht sind sie in gewisser Weise wie wir aus der Bahn geworfen worden. Erst hat Rachel Dave rausgeschmissen, dann hat Cassy beschlossen, ebenfalls zu gehen, weil sie das Gefühl hatte, Rache sei sauer auf sie, aber jetzt finden sie eventuell wieder zueinander.
Callum und ich sitzen auf einem der Sofas, auf dem anderen hat Riley sich ausgestreckt. Wir warten. Sagen kaum ein Wort. Warten einfach. Und warten.
Und warten.
***
Um zwei Uhr morgens kommt Mum zur Haustür herein. Wir alle fahren erschrocken hoch. Mum weint. Sie sieht die anderen an, dann richtet sie den Blick auf mich. Mir wird das Herz schwer.
»Fliss ist wieder da. Er hat sie laufen lassen.« Mum bleibt kurz stehen, ringt die Hände und kommt ins Wohnzimmer. Sie stellt ihre Handtasche so vorsichtig auf den Couchtisch, als sei sie voller Wasser, das sie nicht verschütten will. Wir lassen sie nicht aus den Augen. Mein Herz fängt an zu pochen. Callum schluckt so heftig, dass ich es höre. Mum setzt sich neben Riley auf die Sofakante und holt tief Luft. Ich halte den Atem an.
»Sie haben ihn nicht erwischt«, sagt Mum.
Ich spüre ein derart starkes inneres Brennen, dass ich mir die Brust massiere.
»Aber Fliss ist okay?«
»Anscheinend. Allerdings ist sie nicht sonderlich kooperativ. Sie behauptet, in den Kerl verliebt zu sein und dass die Polizei einen Fehler gemacht hätte.«
»Was?«, stößt Riley aus. »Diese dumme Schl…« Sie zügelt sich und sieht mich an. »… Kuh.«
Callum reibt sich übers Gesicht. Er schaut blass aus und hat dunkle Ringe unter den Augen.
»Hat die Polizei denn überhaupt irgendwelche Hinweise?«, fragt Callum.
»Ja. Sie haben das Kennzeichen – davon hat Taylor euch sicher erzählt. Das ist ein konkreter Anhaltspunkt. Vielleicht wissen sie noch mehr, aber das entzieht sich meiner Kenntnis. Sie haben gesagt, mehr könnten sie uns im Moment nicht mitteilen.«
»Und was geschieht jetzt mit Fliss?«, frage ich.
»Nun, sie ist das Opfer eines versuchten Verbrechens, deshalb wird sie mit Samthandschuhen angefasst. Ihre Aussage wird von entscheidender Bedeutung für den Fall sein, wenn sie den Typ erst mal geschnappt haben.« Mum dreht sich zu Riley. »Und auch wenn du sie als dumm bezeichnest – vergiss nicht, wie geschickt dieser Kerl vorgeht.« Ihre Stimme hat einen leicht scharfen Ton angenommen.
»Fliss tut mir so leid«, sage ich. »Stellt euch doch mal ihre Gefühle vor, wenn sie kapiert, dass sie gerade ein romantisches Date mit einem Mörder gehabt hat.« Ich erschaudere. Das geht mir derart nahe, dass ich lieber nicht weiter darüber nachdenken möchte.
»Warum hat er Sierra nicht auch laufen lassen?«, sagt Riley, während ihr dicke Tränen über die Wangen kullern.
»Das hat Rachel auch gefragt. Die Polizei könnte im Moment nur Vermutungen anstellen, deshalb halten sie sich bedeckt. Ich persönlich glaube, dass Sierra während ihres Dates vielleicht etwas über seine wahre Identität herausgefunden hat oder so.«
»Wer weiß schon, warum dieser verdammte Psychopath tut, was er tut … Wie kann er denn einfach so verschwinden? Herrgott noch mal, wie bescheuert sind diese Polizisten eigentlich?«, empört sich Callum.
»Warten wir’s ab«, meint Mum. »Das Kennzeichen ist, wie gesagt, jedenfalls ein guter Anhaltspunkt. Ich bin da ziemlich optimistisch. Die Spezialeinheit, die mit dem Fall befasst ist, wird ihr Möglichstes tun. Die schienen ganz zuversichtlich zu sein.«
Ich hole tief Luft und beschließe, mich an dem Wort »zuversichtlich« festzuhalten.
»Es ist schon nach zwei«, sagt Mum. »Ich geh ins Bett. Und ihr drei solltet auch versuchen, ein wenig zu schlafen.« Sie gibt mir im Vorbeigehen einen Kuss auf die Stirn, und ich streichle ihr über den Arm.
Gegen sechs Uhr morgens schlummern Riley und Callum ein. Ich gehe in mein Zimmer. Nachdem ich mein Handy auf den Nachttisch gelegt habe, steige ich ins Bett und sinke endlich in einen barmherzigen Schlaf.