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Zehn Monate ist es jetzt her, seit Sierras Mörder festgenommen wurde und sich schuldig bekannt hat. Heute wurde er zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Ich dachte, die Tatsache, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde und er lange Zeit im Gefängnis sitzen wird, würde mir Genugtuung verschaffen, aber da habe ich mich gewaltig geirrt. Ich verspüre lediglich eine gewisse Erleichterung. Sierra ist nach wie vor tot, daran kann nichts und niemand etwas ändern.

Die Leute begeben sich auf ihre Plätze. Die Stadtverwaltung veranstaltet regelmäßig öffentliche Diskussionsabende zu aktuellen Problemen. Das heutige Thema ist »Sicherheit im Internet«. Dieses Thema hat man bewusst gewählt, weil heute das Urteil in Sierras Fall ergangen ist. Auf diese Weise wird das Ganze gleichzeitig eine Gedenkveranstaltung. Deshalb bin ich einer der Gastredner. Sierras Familie wurde ebenfalls gebeten, ein paar Worte zu sagen, hat aber abgelehnt. Ich weiß noch nicht einmal, ob die drei überhaupt kommen. Rachel hat mir nach wie vor nicht vergeben, und es tut mir jedes Mal von Neuem weh, wenn Mum zu ihr fährt und ich zu Hause bleiben muss. Mum hat gesagt, nach der Gerichtsverhandlung heute Nachmittag sei Rachel sehr aufgewühlt gewesen. Deshalb sei es eher unwahrscheinlich, dass Rachel zu der heutigen Veranstaltung kommen wird.

Mum sitzt zusammen mit Kel in der vordersten Reihe. Er ist ebenfalls Gastredner. Jetzt, da der Fall abgeschlossen ist, darf er in der Öffentlichkeit darüber sprechen. Aus der fünften Reihe winkt mir Mr Samalot zu. Callum und Riley sitzen in der dritten Reihe. Als ich Callums Blick auffange, zwinkert er mir zu. Ich bin nervös und aufgeregt. Mum hatte recht mit der Agentin – ich habe gar keine gebraucht. Nachdem ich an ein paar Nachbarschulen gesprochen habe, hat sich keine weitere Schule mit mir in Verbindung gesetzt, was bedeutet, dass ich noch nie ein so großes Publikum hatte wie heute Abend.

Ich habe meinen Vortrag unzählige Male geprobt und es kein einziges Mal geschafft, zwischendurch nicht zusammenzubrechen. Meine Wut auf Sierras Mörder ist so stark wie an dem Tag, als ihre Leiche gefunden wurde. Manchmal gelingt es mir, diese Wut vorübergehend zu verdrängen, doch schon im nächsten Moment stellt sie sich wieder mit voller Wucht ein.

Ich bin als Erste dran. Auf dem Podium steht ein Tisch mit meinem Computer, dahinter befindet sich ein großer Bildschirm. Weitere Bildschirme hängen über den Raum verteilt von der Decke, damit mich alle Anwesenden sehen können.

Als ich aufs Podium steige, kommt das Publikum zur Ruhe, und alle Augen richten sich auf mich. Ich blicke noch einmal umher. Während ein paar Nachzügler zu ihren Plätzen gehen, wird das Licht gedämpft.

Nachdem man die Tür geschlossen hat, kommen ganz leise noch drei Personen herein. Ich erstarre und stehe wie angewurzelt da, während ich nach Atem ringe. Es ist Rachel. Sie steht im Mittelgang. Sie hat ein schwarzes Kostüm an, ihre Haare sind frisch blondiert und im Nacken zu einem Knoten geschlungen. Unter ihrem Arm klemmt eine schwarze Clutch. Cassy und Dave stehen rechts und links von ihr und haben sie bei der Hand gefasst. Ich wusste zwar, dass Dave und Rachel wieder zusammen sind, aber bei diesem Anblick bricht mein Herz in Jubel aus.

Einige der Anwesenden drehen sich zurück, um festzustellen, wo ich hinstarre. Mum steht auf und gibt mir mit einer Geste zu verstehen, zu ihr zu kommen. Ich steige die Stufen des Podiums hinunter. Mum ergreift meine Hand und drückt sie. Dann gehen wir zu Sierras Familie. Nachdem Mum Rachel umarmt hat, tritt sie zur Seite. Rachel sieht mich an und streckt mir die Hände entgegen. Wir fallen uns in die Arme. Ich kann mich nicht mehr beherrschen.

»Es tut mir so leid«, schluchze ich. »Es tut mir ja so leid«, sage ich immer wieder, während Rachel mich festhält.

»Mir tut es auch leid, Taylor. Ich war einfach … ich …« Rachel versagt die Stimme.

»Ist schon okay«, erwidere ich. »Ich versteh das.«

Im Saal ist es mucksmäuschenstill. Plötzlich taucht Kel neben uns auf und führt uns beiseite.

»Guten Abend, meine Damen und Herren«, erklingt da auf einmal Callums zittrige Stimme.

Ich blicke zum Podium hoch. Er hat das Mikrofon so fest gepackt, dass seine Knöchel weiß hervortreten.

»Der heutige Tag ist für viele von uns sehr emotionsgeladen.« Jetzt hört sich seine Stimme schon ein bisschen fester an. »Heute wurde Sierras Mörder zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Weil die erste Rednerin noch einen Moment für sich braucht, möchte ich Ihnen einen Mann vorstellen, der zu den vielen gehörte, die Tag und Nacht an Sierras Fall gearbeitet und für Gerechtigkeit gesorgt haben. Meine Damen und Herren, bitte heißen Sie Oberinspektor Kel Parkinson willkommen.«

Callum sieht mich an und atmet tief durch. Es war sehr mutig von ihm, aufs Podium zu klettern und das Wort zu ergreifen.

Ich forme das Wort »Danke« mit den Lippen.

Kel geht zum Podium, steigt die Stufen hoch, nimmt das Mikrofon und erzählt seine Geschichte, die damit beginnt, dass er einen Anruf bekam, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass ein Mädchen vermisst wird. Das Publikum hört wie gebannt zu. Mum führt Rachel, Dave und Cassy zur vordersten Reihe, damit ich die Möglichkeit habe, wieder zu mir zu kommen. Nachdem ich mehrmals tief durchgeatmet habe, gehe ich zum Nebeneingang hinaus, verschränke meine Hände hinter dem Kopf und recke und strecke mich. Kurz darauf höre ich das Publikum applaudieren. Jetzt bin ich dran.

Ich kehre in den Saal zurück und besteige das Podium. Während ich rede, sehe ich ununterbrochen Rachel an. Und wie beim ersten Mal in der Schule geht auch diesmal der Vortrag, den ich vorbereitet habe, den Bach runter. Diesen Vortrag halte ich für Rachel.

»Diesen schrecklichen Freitagabend habe ich unzählige Male in Gedanken durchgespielt, ebenso wie die Tage davor. Nicht ein einziges Mal ist mir in den Sinn gekommen, dass dieses Treffen gefährlich sein könnte. Als Sierra am nächsten Tag nicht auftauchte, war ich wütend auf sie.« Tränen schießen mir in die Augen. Ich versuche sie wegzublinzeln. »Dafür schäme ich mich so …«

Ich wische mir übers Gesicht und starre ein paar Sekunden lang zu Boden. Als ich wieder aufblicke, sehe ich, dass Dave tröstend den Arm um Rachel gelegt hat, die in Tränen ausgebrochen ist. Trotzdem lächelt sie mir zu, was wie eine Aufforderung an mich ist, fortzufahren.

»Sierra und mich verband eine ganz besondere Freundschaft, und ich vermisse sie jeden einzelnen Tag. Wenn ich diesen Freitag in Gedanken durchspiele, ändere ich manchmal alles. Dann kommt Sierra zurück und unser aller Leben geht wie gehabt weiter. Das lindert einen Moment lang meinen Schmerz. Manchmal träume ich auch davon, dass Sierra noch am Leben ist. Beim Aufwachen durchströmt mich dann für wenige Sekunden ein ungeheures Glücksgefühl, das jedoch nur so lange anhält, bis die grausame Wirklichkeit sich wieder zurückmeldet. Tage, die so anfangen, sind besonders hart, und ich muss mir ständig in Erinnerung rufen, dass Sierra sich wünschen würde, dass ich glücklich bin.

Auch die Verbundenheit mit Sierras Familie war sehr stark«, fahre ich fort, »und ich vermisse sie ebenfalls jeden Tag. Aber ich habe begriffen, dass es aus vielen Gründen ungeheuer schmerzlich für sie ist, mich zu sehen.« Ich vergesse das Publikum und spreche nur noch zu Rachel. »Euch zu sehen ist auch schmerzlich für mich, weil es mich daran erinnert, wie früher alles war und was ich verloren habe. Damit meine ich nicht nur meine beste Freundin. Es tut weh, aber ich kann es verstehen. Und ihr sollt wissen, dass sich meine Liebe zu euch trotz allem, was in den letzten zehn Monaten passiert ist, nicht im Geringsten geändert hat. Rachel, du warst nach Dads Tod wie eine Mutter zu mir – du hast dich um mich gekümmert, hast mich bei dir aufgenommen und mich zu einem Mitglied deiner Familie gemacht. Das werde ich dir nie vergessen.«

Obwohl das nicht der Vortrag war, den ich eigentlich halten wollte, merkt Callum, dass ich alles gesagt habe, was ich sagen will. Er steht auf und verteilt Wunderkerzen und Feuerzeuge ans Publikum. Dann kommt er zum Podium und gibt auch mir eine Wunderkerze und ein Feuerzeug.

Ich lächle. »Sierra hat hell wie eine Flamme gebrannt, bis man sie ausgelöscht hat. Deshalb möchte ich Sie alle bitten, Ihre Wunderkerzen anzuzünden und in die Höhe zu halten, sobald ich von zehn an rückwärts gezählt habe. Zehn, neun, acht …« Das Publikum zählt mit. »… drei, zwei, eins.«

Das Licht wird ausgemacht, das Knistern der Wunderkerzen erfüllt den Raum. Die Helligkeit ist so stark, dass sie einen fast blendet. Als die Wunderkerzen abgebrannt sind, bleibt das Licht noch eine Minute lang gelöscht – ein Moment der Trauer, des stillen Nachdenkens und des Respekts. Ich berühre das Touchpad und stelle Taylor Wolfes Lied »She shone like the stars« an. Die einsetzende Musik hellt die Stimmung im Saal auf. Gleichzeitig wird eine Diashow mit Schnappschüssen aus Sierras Leben gezeigt.

»Diese schönen, traurigen, lustigen, berührenden Momente, die die Kamera eingefangen hat, sind nur eine Auswahl aus all denen, an die ich mich erinnere. Die Erinnerung an Sierras Lachen, ihre Liebe und ihre Energie werde ich ewig im Herzen bewahren. Und ich hoffe, ihre Geschichte macht anderen bewusst, welchen Gefahren sie in der heutigen Welt ausgesetzt sind. Danke, dass Sie heute Abend Zeit gefunden und diesen wichtigen Tag mit uns geteilt haben.«

Das Licht geht wieder an. Ich bleibe noch auf dem Podium, weil etliche Menschen nach vorne kommen, um mir ein paar Worte zu sagen. Als dann alle in Richtung Ausgang streben, packe ich meine Sachen zusammen. In dem Moment tritt ein Mädchen mit erdbeerfarbenem Haar auf mich zu. Ich erkenne sie auf Anhieb wieder.

Es ist Fliss.

Sie sieht mich an und lächelt unsicher.

»Hi«, sage ich und lächle zurück. »Fliss?«

»Ja. Eigentlich heiße ich Felicity. Hi.«

»Wie geht’s dir?«

»Ganz gut. Ich hab zwar immer noch Hausarrest, aber abgesehen davon kann ich nicht klagen.«

Ich lache kurz auf, aber die Traurigkeit kehrt sofort zurück.

»Hör mal, Fliss … Felicity … danke, dass du der Polizei doch noch geholfen hast. Ich weiß, wie schwer das für dich war … Ich weiß, er war nett zu dir und du hast dich in ihn verknallt und so …« Ich verstumme, weil ich das Gefühl habe, schon zu viel gesagt zu haben.

Ihre Augen füllen sich mit Tränen.

»Ich schäm mich ja so«, sagt sie. »Selbst nachdem mir klar geworden war, dass die Polizei die Wahrheit sagt, wollte ich ihnen nicht helfen, weil ich nicht zugeben wollte, wie dumm und leichtgläubig ich gewesen bin. Das tut mir so leid. Und es tut mir leid, dass ich euch – Sierras Familie und allen anderen – noch zusätzlich Kummer gemacht habe. Ich bin heute Abend extra gekommen, um euch das zu sagen. Ich wollte, dass ihr wisst, wie leid es mir tut.«

Ich gehe die Treppe hinunter und umarme sie.