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CODY

Als die Männer sagten, sie seien hier, um mich zu retten, war mein Verstand wie leergefegt. Sie sagten, ich sei in Sicherheit.

Ich konnte es nicht glauben.

„Ich werde ihn wohl oder übel über meine Schulter werfen müssen, um ihn hier rauszuholen. Ich glaube, Levis Kugel und die Tatsache, dass wir in den Raum gestürmt sind, haben den Jungen in seine Glücksoase gestoßen – wo auch immer das sein mag.“

Ich wünschte, dass ich eine Glücksoase hätte. Nichts als Leere war das Einzige, was ich ertragen konnte. Das einzige Mal, dass ich so etwas ähnliches wie Glück empfunden hatte, war, wenn sie mir etwas gespritzt hatten und mit diesem Gedanken konnte ich nicht fertig werden. Während der letzten 24 Stunden hatte ich nur an eines gedacht: das wachsende Leben in mir zu schützen. Wenn sie mich betäuben konnten, bedeutete das, dass ich gescheitert war.

Arme hievten mich hoch und dann starrte ich an jemandes Rücken hinunter, genau auf den toten Mann. Ich konnte ihn nicht ansehen. Ich musste irgendwo anders hinschauen.

Alles, was ich noch sehen konnte, war der Teppich. Wie hatte ich das furchtbare Rautenmuster in der Farbe von Senf und Ketchup nicht bemerkt? Plötzlich bewegte sich der Mann, der mich trug, und wir setzten uns in Bewegung. Die Erschütterungen trugen nicht zur Beruhigung meiner Gedanken oder meiner Sicht bei.

Wir stolperten über etwas und dann sah ich Schnauzer mit glasigen Augen auf dem Boden liegen. Sein Gesicht war blutverschmiert und starrte zur Decke hinauf.

Dieser Trip war völlig abgefuckt. Ich musste aber irgendwann wieder runterkommen. Der Rausch hielt nie endlos an, egal, welche Droge sie verwendeten. Aber dieser Trip war seltsam – alles war so beständig. Ich erkannte keinen dieser Typen wieder – mit Ausnahme der Toten. Gewöhnlich stellte ich sie mir auf einem Trip nicht tot vor …

Auf einmal rutschte ich nach hinten, als der Mann mich in seine Arme fallen ließ und in einen Lieferwagen hievte. Danach kletterte er hinter mir hinein und schloss die Seitentür. Der Wagen setzte sich immer wieder in Bewegung, und bei einem der Zwischenstopps öffnete sich die Beifahrertür, ein Mann sprang hinein und der Wagen fuhr wieder los.

Der neue Mann roch umwerfend – wie eine Erinnerung an zu Hause und Urlaub – Dinge, an die ich jahrelang keinen Gedanken mehr verschwendet hatte. Ich wollte mich nach vorne beugen, um einen besseren Riecher zu bekommen, aber das könnte den Strom beeinflussen – der Geruch könnte verloren gehen. Dieses Risiko war ich nicht bereit einzugehen. Am liebsten würde ich mich für immer in diesen Erinnerungen verkriechen.

Wir wechselten in ein Flugzeug, dessen Sitze sich in zwei Reihen an die Wände des Rumpfes pressten, und ich endete dem gut riechenden Mann direkt gegenüber. Sein Duft war noch intensiver geworden. Er erwiderte meinen Blick und ich verlor mich völlig in seinen Augen und konnte aus Angst, er könnte plötzlich verschwinden, kaum blinzeln. Dann knurrte mein Magen und er unterbrach den Kontakt – allerdings nur für eine kurze Minute. Unter seinem Sitz zog er eine Tasche hervor, fischte einen kleinen Riegel heraus und warf ihn mir zu.

Der Riegel landete glücklicherweise in meinem Schoß. Ich bezweifelte, dass ich ihn hätte auffangen können. Zaghaft hob ich ihn auf. Es war ein Proteinriegel mit Schokolade.

Wie aufs Stichwort bekam ich einen Bärenhunger und verschlang den Riegel mit drei Bissen.

Irgendetwas an diesem Mann, der nach Zuhause roch, wirkte so real. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf ihn und spürte, wie seine Anwesenheit mich verankerte. Er lächelte mir zu und erlaubte mir, mich sattzusehen.

Nach der Landung blieb ich auf meinem Platz, während die anderen anfingen, die Gurte abzuschnallen. Dabei beobachtete ich, wie die beiden betäubten Omegas auf den Schultern der anderen aus dem Flugzeug getragen wurden. Wie ich getragen worden war, stellte ich fest.

Ich zuckte zusammen, als eine Hand meine Schulter berührte, doch es war mein Anker. Er machte Halt und ich entspannte mich. Wortlos schnallte er mich langsam ab und schob seinen Arm unter meine Knie, wobei er jede Bewegung leise ankündigte, bevor er sie ausführte.

„Um der Liebe zu Mama Cs Hackbraten willen, Levi, beeil dich. Wirf ihn dir einfach wie einen Sack Kartoffeln über deine Schulter und lass uns die Sache hinter uns bringen.“

Der Brustkorb des Mannes bebte, als er knurrte und mich an sich drückte. „Halt die Schnauze, Ezra. Ich frage mich manchmal, wer es für eine gute Idee hielt, dich zu trainieren und auf Rettungsmissionen zu schicken. Du hast das Einfühlungsvermögen einer Fliege.“

„Ach, ich bitte dich, Levi! Ich besitze mindestens so viel Einfühlungsvermögen wie ein Eichhörnchen.“

„Du meinst wohl eher, die Aufmerksamkeitsspanne eines Eichhörnchens“, brummte mein Anker – Levi.

Es war keine Einbildung. Dieses Gespräch hatte ich mir nicht nur ausgedacht. Das war real … nicht wahr?

Ich strich mit dem Finger über das Leder von Levis Jacke. Über die rauen Zacken des Reißverschlusses. Das hier war sehr real. Ich vergrub mein Gesicht in seiner Jacke und hielt mich an dem Stoff fest. Es war gelungen – der Anruf hatte Erfolg gehabt! Ich war in Sicherheit. Mein Baby war in Sicherheit!

„Gut gemacht heute, Männer.“

Ich erkannte die Stimme nicht, wohl aber den autoritären Tonfall. „Boomer, Zeke – schafft die beiden auf die Krankenstation. Levi, ich kann Cody zu Papa bringen, wenn du nach Hause willst.“

Levi – mich verlassen? Ich klammerte mich an ihn, nicht in der Lage zu sprechen, da mich die Angst überwältigte. Levi flüsterte beruhigende Worte in meine Ohren – Worte, die ich nicht verarbeiten konnte –, aber sein Tonfall drang durch den Nebel der Panik und milderte meine Ängste.

„Ich werde dich nicht allein lassen“, konnte ich ihn schließlich deutlich sagen hören.

„Na gut.“ Die Stimme des Anführers klang amüsiert. „Folge mir, Levi.“

Meine Angst war endlich in Levis Armen so weit abgeklungen, dass meine Neugierde erwachte, und ich begann, die neuen Informationen zu verarbeiten. Das wichtigste zuerst: Levi roch nicht nur absolut himmlisch, sondern war auch ein Alpha. Ich war schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr in der Nähe eines echten Alphas gewesen. Hatten denn alle eine so beruhigende Ausstrahlung?

Ein zweiter Riecher war alles, was ich brauchte, um zu wissen, dass die Antwort darauf Nein lautete. Der Anführer ihrer Truppe war definitiv auch ein Alpha, aber ich hatte kein Verlangen danach, mich in seinen Armen zu verkriechen und dort zu leben.

Wir gingen nicht in das große Gebäude, in dessen Nähe wir gelandet waren. Stattdessen überquerten wir den Rasen, gingen über einen Hügel und kamen zu einem schönen, zweistöckigen Haus. Ohne anzuklopfen öffnete der Anführer die Tür, woraufhin wir ihm hinein folgten.

„Das ist bestimmt Cody“, rief eine zarte Stimme. „Jonah hat dich bereits angekündigt.“ Es war ein etwas älterer Mann mit freundlichen Augen – ebenfalls ein Omega, wie ich.

„Natürlich hat er das“, meinte der Anführer und warf seine Tasche zu Boden.

Levi nahm den Arm nach unten, um mich auf den Boden zu setzen, aber dazu war ich noch nicht imstande. „Stopp“, befahl ich verzweifelt. Levi blieb stehen und stützte wieder meine Beine mit seinem Arm.

„Setz dich doch“, bat der ältere Mann.

Nach einem Nicken meinerseits suchte Levi einen Sessel aus, setzte mich auf seinen Schoß und schob seinen Arm von meinen Beinen um meine Taille. Das war sogar noch besser, als von ihm getragen zu werden. Ich war dankbar, dass er einen Sessel und nicht die Couch gewählt hatte. So nah wollte ich anderen Menschen noch nicht sein.

Der ältere Mann kniete sich neben uns hin, sodass sein Kopf auf gleicher Höhe mit meinem war. „Mein Name ist Justin, Cody. Aber wenn du willst, kannst du mich Papa P nennen – wie alle anderen auch.“

Schüchtern nickte ich und war ein wenig erstaunt, dass jeder meinen Namen kannte, auch wenn ich derjenige war, der sie angerufen und ihnen gesagt hatte, wo sie nach mir suchen sollten.

„Möchtest du etwas Wasser? Oder etwas zu essen?“

Ich schüttelte den Kopf. Levi wollte gerade den Mund öffnen, um etwas zu sagen, als ein kleiner, lauter Omega ins Zimmer platzte. „Wo steckt mein Gefährte? Ich muss ihm zur Belohnung einen Kuss geben, weil er nicht verletzt wurde.“

Der Anführer zog den kleinen Omega in seine Arme und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss, bei dem ich mit unverhohlenem Enthusiasmus zusah. Ich hatte in Sachen Sex viel Erfahrung – zu viel – aber diese offensichtliche Leidenschaft zwischen den beiden Männern hatte ich noch nie gesehen.

Dann bemerkte ich, wie eine Frau hinter den beiden auftauchte. Auf ihrem Arm trug sie ein Baby.

Es war zwar kein Neugeborenes, aber trotzdem noch ein Baby.

„Das ist Preston, Noahs Gefährte“, flüsterte Levi mir leise ins Ohr. „Und Prestons Mutter, Cindy. Sie hält die Tochter der beiden, Amy. Sie heißt eigentlich Amelia, aber wir nennen sie alle Amy. Das bringt Preston zur Weißglut.“

Als Noah Preston endlich absetzte, war mein Blick voll und ganz auf das Baby fixiert.

„Ich gehe Dad suchen und erstatte ihm Bericht – kommt ihr hier zurecht?“, fragte Noah.

„Kein Grund, mich zu suchen.“ Da betrat ein weiterer Mann den Raum. Ein Mann, der wie eine ältere Version von Noah aussah. „Hier bin ich.“

Ich konnte meine Augen nicht von Amy abwenden. Endlich lösten sich meine Finger, die wie Krallen Levis Jacke umklammerten. „Ist es okay, wenn ich …?“

Levi folgte meinem Blick. „Oh! Hey, Preston, ist es in Ordnung, wenn Cody die kleine Amy hält?“

Ich konnte kaum noch atmen, während Preston sein kleines Mädchen aus den Armen seiner Mutter nahm und sie zu mir brachte. „Pass auf“, warnte er mich, „sie ist eine Herzensbrecherin. Falls sie versucht, sich aus deinen Armen zu befreien, kannst du sie beruhigt auf den Boden legen.“

Mit einem Nicken beugte ich mich vor, um an ihrem Kopf zu riechen. Sie war aufgeweckt und rein, wie ein Baby eben sein sollte. Würde ich tatsächlich ein solches Kind bekommen? War ich wirklich frei und in Sicherheit?

Ja, redete ich mir ein und spürte Levis beruhigende Präsenz um mich herum. Noch kannte ich diese Menschen nicht, aber ich spürte, dass sie sich von den Männern unterschieden, von denen ich jahrelang gefangen gehalten worden war. Sie hatten mit den Männern, die mich über Jahre hinweg missbraucht hatten, nichts gemeinsam. Und Levi …

Ich war nicht sicher, woran es lag, aber irgendetwas war besonders an ihm.