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CODY

Meine Nase steckte im Leder von Levis Jacke und ich starrte ihn besitzergreifend durch das Fenster an. Ich wusste nicht, warum ich die Nähe des Alphas so dringend brauchte, aber sein Geruch war für mich beruhigend. Mit geschlossenen Augen inhalierte ich den Duft, der aus seiner Jacke strömte. Es roch nach Heimat, aber es dauerte einen Moment, bis ich den eigentlichen Duft zuordnen konnte – Pfeifentabak. Ein warmes, süßes und zugleich würziges Aroma mit einer leichten Rauchnote. Es war das Einzige, worüber sich meine Mutter nicht beschwerte, wenn mein Vater rauchte. Das Gewicht auf meinem Bein brachte mich dazu, aufzublicken und meine Gedanken zu unterbrechen.

Amy starrte auf irgendetwas auf der Jacke und versuchte, sich mithilfe meines Beins näher heranzuziehen. Ich folgte ihrem Blick auf den Reißverschluss.

„Magst du das?“, fragte ich und zog den Metallverschluss hoch und runter. Ihre Augen wurden weit, folgten meiner Hand und sie kicherte. Ich zog sie wieder hoch und drückte sie an mich, damit sie den Reißverschluss besser erreichen konnte. Ihre Finger schnappten danach und zerrten daran. Sie hatte einen festen Griff, aber weder die Kraft noch die nötige Koordination, um das Ding in Bewegung zu setzen. Die Kleine war zu niedlich, um es in Worten auszudrücken.

Ihre Liebenswürdigkeit lenkte mich jedoch nur wenige Sekunden lang ab, bis ich wieder nach oben schauen musste, um mich zu vergewissern, dass Levi immer noch vor der Tür stand. Er hatte sein Wort gehalten und war in Sichtweite geblieben.

Mir lief ein Schauer über den Rücken. Hatte ich tatsächlich nach seiner Jacke verlangt? Er hatte sie mir gehorsam ausgehändigt, als ob es eine völlig berechtigte Bitte wäre … als ob ich ein Recht darauf hätte. Ich wusste nicht, warum ich so etwas gesagt hatte – die Worte sprudelten aus mir heraus, bevor mein Gehirn Zeit zum Nachdenken hatte. Das Einzige, was ich wusste, war, dass ich Levis Jacke brauchte, wenn er aus dem Zimmer ging.

„Möchtest du etwas zu essen?“, fragte Papa P leise. Nachdem er die Bauklötze wieder in den Korb gelegt hatte, hatte er sich auf die Couch in der Nähe gesetzt.

Ich schüttelte den Kopf. Der Schokoriegel hatte meinen größten Hunger gestillt, aber die Übelkeit war zurückgekehrt. Obst war das Einzige, was sich lecker anhörte. Eventuell auch Gemüse. Ich wollte aber nicht wählerisch sein. Durfte ich überhaupt pingelig sein? Die letzten sechs Jahre hatte ich kaum eine Wahl getroffen.

Papa P beugte sich zu mir und hob mein Kinn mit einem Finger an. Mir war gar nicht bewusst, dass ich den Kopf nach unten geneigt hatte und Amys Gesicht anstarrte, ohne sie wirklich zu sehen.

„Es wäre gut, wenn du etwas essen würdest. Nicht nur deinetwegen.“ Seine Augen wanderten nach unten.

Obwohl er es nicht sagte, merkte ich, dass er von der Schwangerschaft wusste. Das Bedürfnis, die Schwangerschaft zu verleugnen, mich zusammenzurollen und zu verstecken, überkam mich fast, aber Amy lag in meinen Armen. Ich holte mehrmals tief Luft. Das hier war nicht so wie … früher.

Im Prinzip war Amy nicht in Gefahr, was bedeutete, dass auch das Baby in mir … sicher war. Vermutlich.

Es war kaum zu glauben, aber Levis Jacke gab mir Halt und erinnerte mich daran, dass dies kein Traum war – dass ich wirklich, wahrhaftig frei war.

„Auf was hast du Lust?“, fragte Papa P, „Die Jungs hier essen eine Menge, also ist es sehr wahrscheinlich, dass wir alles haben, was du willst. Ich erinnere mich, wie wählerisch ich bei Noah war. Es gab eine Woche, in der ich bei allem außer Nudelauflauf mit Thunfisch auf die Toilette rennen musste.“

Verlegen drückte ich mir die Finger an den Mund, aber Papa P lachte mitfühlend.

„Also doch kein Nudelauflauf mit Thunfisch. Was wäre dir denn lieber?“

Ich wollte nicht zur Last fallen und versuchte, mir etwas Leckeres einfallen zu lassen, das sie wahrscheinlich vorrätig haben würden. „Einen Apfel vielleicht?“

Papa P kritisierte mich nicht und forderte mich auch nicht auf, etwas Nahrhafteres zu essen, sondern nickte nur. Er erhob sich und ging in den Flur, aber Cindy war schneller und näher an der Küche als er. Mit ein paar Äpfeln, einer Schüssel und einem Messer kam sie ihm auf halbem Weg entgegen. Wieder warf ich einen Blick aus dem Fenster und Levi stand immer noch an Ort und Stelle.

„Danke.“

Während Papa P schnell einen Apfel in Stücke schnitt, nahm Cindy neben mir und Amy Platz.

„Ist sie mit allen so freundlich?“, fragte ich. „Sie kennt einfach keine Angst!“

„Sie ist ziemlich furchtlos“, stimmte Preston zu. „Aber jeder sagt mir, dass der Sinn für Gefahr durch Fremde bald kommt und dass ich sie um nichts in der Welt mehr aus der Hand geben kann. Deshalb versuchen wir, sie an möglichst viele unserer Freunde zu gewöhnen, bis es so weit ist.“

Ich fühlte mich geschmeichelt, dass sie mir so viel Vertrauen schenkten, obwohl ich wusste, dass ich kaum als Freund gelten konnte. Sie kannten mich fast gar nicht.

„Hier“, unterbrach Papa P meine Gedanken und reichte mir die Schüssel.

Ich ließ Amy auf dem Boden zwischen meinen Beinen nieder und legte die Schüssel mit den Apfelschnitzen auf meinen Oberschenkel.

Der frische, knackige Geschmack überwältigte meine Zunge fast. Genau das, was ich jetzt brauchte und es war schon ewig her, seit ich einen guten Apfel gegessen hatte. Jedes Stück Obst, das mir zur Verfügung stand, war meist überreif oder mehlig. Im Grunde genommen war mein Leben ein endloser Kreis aus Fast Food-Mahlzeiten gewesen. Das war der Traum meines dreizehnjährigen Ichs gewesen. Heute wäre ich mehr als froh, nie wieder einen Burger aus einem Fast Food-Restaurant zu sehen.

Im nächsten Moment griff Amy nach dem Schüsselrand und versuchte, ihn zu sich zu ziehen.

„Darf sie was davon abhaben?“, fragte ich und wandte mich an die anderen. Sie schüttelten allesamt den Kopf.

„Sie ist noch zu klein“, erklärte Cindy, nahm Amys Fäuste behutsam weg, zog sie auf ihren Schoß und lenkte sie mit einem Spielzeug ab. „Sie hat noch nicht einmal Zähne, nicht wahr, Schätzchen? Aber die bekommst du ganz bald. Ich schwöre“, meinte sie zu mir, „sie zahnt jetzt schon seit einem Monat und treibt ihre armen Väter mit ihrem Schlafdefizit fast in den Wahnsinn. Aber es kann jeden Tag so weit sein, nicht wahr, Süße?“

„Mama, so was kannst du nicht sagen!“ protestierte Preston. „Das bringt nur Unglück!“

„Dein Daddy ist auf seine alten Tage abergläubisch geworden“, flüsterte Cindy und sah zu Amy hinunter.

Amy lächelte zu ihr hoch, aber mein Magen schlug Purzelbäume. Ich wollte ein Baby bekommen, hatte aber keine Ahnung, wie man sich um es kümmert. Ab wann bekamen sie Zähne? Ab wann essen sie richtiges Essen? Wie wird eine Windel gewechselt? Ich hatte keinerlei Vorstellung davon, wie man ein Vater ist.

Die Realität brach mit einem Mal über mich herein. Scheiße! Was ist mit meinem Dad? Meiner Mom? Jahrelang hatte ich mein Bestes getan, um nicht an sie zu denken. Suchten sie immer noch nach mir? Welche Auswirkungen hatte mein Verschwinden auf sie? Machten sie mir Vorwürfe? Vermissten sie mich? Würden sie mein Baby akzeptieren, egal, wie es auf diese Welt gebracht worden war?

Ich versuchte, den Mund zu öffnen, um Worte zu finden, aber etwas in meiner Kehle hinderte mich am Sprechen. Dann legte Cindy ihren freien Arm um mich.

„Schon gut, Liebling. Lass es einfach alles raus. Du bist hier sicher.“

Ich weinte daraufhin nur noch heftiger. Ich wollte mich ausdrücken, doch je mehr ich es versuchte, desto schwieriger wurde es. Papa P gesellte sich zu uns auf den Boden, danach auch Preston, Amys Dad – eine nicht bedrohliche Präsenz, die bisher nur mit dem Baby gespielt hatte. Sie alle schlossen mich in ihre Arme. Am liebsten hätte ich mich gewehrt und sie weggestoßen, aber ich brauchte auch den Trost, den sie mir spendeten.

Endlich gelang es mir, keuchend hervorzubringen: „Ich muss meine Eltern anrufen.“

Das plötzliche Schweigen verriet mir einiges, aber erst als Papa P sagte: „Oh, Spätzchen … “, wusste ich es gewiss.

„Wann?“, fragte ich.

„Nicht allzu lange nach deinem Verschwinden. Über die Einzelheiten können wir später sprechen, aber sie haben weiter nach dir gesucht. Sie haben dich geliebt.“

Das ließ einen ganzen Schwall von Gefühlen frei. So viele komplexe Gefühle. Erleichterung, dass sie mir nicht böse waren. Verlust. Die Erkenntnis, dass ich völlig allein auf dieser Welt existierte. Ich hatte keine Familie.

Nein … nicht völlig allein. Ich hatte mein Baby.

Erst vor ein paar Tagen hatte ich mir gesagt, dass dieses Baby meine Rettung sein würde – der Grund, weswegen ich schließlich einen Ausweg aus meiner höllischen Lage gefunden hatte. Mir war nicht bewusst, dass er oder sie mich in mehr als nur einer Sache retten würde.

„Es ist in Ordnung, wenn du verärgert bist“, versicherte mir Papa P.

Hätte ich durch meine Tränen hindurch lachen können, hätte ich es getan. Ich war nicht unbedingt verärgert … Ich fühlte einfach nur zu viel. Aber meine Fähigkeit zu sprechen hatte ich mit dieser einen Frage aufgebraucht. Ich war ein Wrack. Ich konnte nirgendwo leben. Keine Aussicht, Geld zu verdienen. Keine Ausbildung. Alles, an was ich denken konnte, war die Freiheit, aber jetzt, wo ich sie hatte, fühlte ich mich noch verlorener als je zuvor.

Auf einmal war ich wieder in Levis Armen und ich bekam wieder Luft zum Atmen. Was hatte es mit diesem Alpha auf sich? Nicht nur Menschen hatten mich missbraucht, sondern auch Shifter. Allerdings waren Shifter seltener aufgetaucht als Menschen und ehrlich gesagt, schon seit Langem nicht mehr. Trotz alledem brachte ich diesen Mann nicht mit diesen grausamen Erinnerungen in Verbindung. Die anderen in seinem Team machten mich ein wenig misstrauisch, aber nicht ängstlich. Bei Levi war es sogar mehr als das: Ich fühlte mich sicher. Ich suchte Zuflucht in seinen Armen, als wären sie ein Schutz vor dem Sturm.