Susanne kam langsam wieder zu sich. Vorsichtig öffnete sie ein Auge, sah aber nichts als Dunkelheit. Sie wusste, was passiert war. Sie lag im Flur auf den Steinfliesen und spürte die Spiralen der Fußbodenheizung unter sich. Bei all der Angst flößte ihr die Wärme eine Art Geborgenheit ein, etwas zum Festhalten. Ihre Beine waren nackt, der gelbe Bademantel hochgerutscht. Sie versuchte, die Arme zu bewegen, er hatte sie ihr über dem Kopf gefesselt, und ihre Muskeln verkrampften sich.
Behutsam drehte sie den Kopf, um die Augenbinde zu lockern. Hauptsache, er ist noch nicht oben, dachte sie. Egal was geschieht, aber bitte nicht das! Sie versuchte, ihre gefesselten Beine zu befreien, brachte aber nur kleine, zuckende Bewegungen zustande. Ihre Ohnmacht mischte sich mit Wut.
Das leichte Knarren des Wohnzimmerparketts beruhigte sie zumindest ein wenig: Er war noch unten. Aus reinem Selbsterhaltungstrieb blieb sie reglos liegen, tat als wäre sie noch bewusstlos. Stellte sich tot. Vielleicht interessierte sich das Monster nicht für Kadaver. Ihr Widerstand schien ihn nur noch mehr getriggert zu haben. Und noch ein weiteres Mal würde sie nicht überleben.
Sie hatte es kaum glauben können, als er sich erneut mit seinem ganzen Gewicht auf sie legte. Kaum eine halbe Stunde nach dem ersten Mal. Diesmal von hinten. Sie hatte die Klinge an ihrem Hals gespürt. Seinen keuchenden Atem in ihrem Nacken. Schließlich hatte sie sich selbst ausgeschaltet, ihr Körper musste allein zurechtkommen.
Trotz allem war es ein befreiendes Gefühl gewesen, mitten im Schmerz den Körper verlassen zu können, wegzugleiten.
Als alles vorbei war, hatte sie ein leises Stöhnen gehört und wie er seufzte. Dann war er aufgestanden, hatte sich die Hose hochgezogen. Es fühlte sich an, als hätte er ihr den Unterleib mit einem Handtuch abgewaschen, etwas lief ihr die Oberschenkel hinab. Ihre Beine schmerzten, als hätte sie versucht, Spagat zu machen. Er hatte nach Zigarettenrauch gestunken, noch immer hatte sie diesen Geruch in der Nase.
Ihr war schlecht. Magensäure stieg in ihrem Hals auf, die Socke in ihrem Mund drohte sie zu ersticken.
Das maskierte Monster ging in ihrem Haus von Zimmer zu Zimmer, zog Schubladen heraus und öffnete Türen. Wonach suchte es?
Links von ihr lag ihr Arbeitszimmer. Als sie den Kopf drehte, bemerkte sie ein schwaches Licht, als hätte sich ein Streifen Sonnenlicht über ihre Stirn gelegt.
Sie hörte, wie draußen auf der Straße ein Auto anhielt, und konzentrierte sich auf den Motor, der noch lief. Ein lautes, aggressives Hupen ließ sie zusammenzucken. Nein, bitte nicht hupen, kein Geräusch! Sie kniff die Augen zusammen und hoffte, es möge bald aufhören.
Erneut knarrte das Parkett, diesmal in der Küche.
Er näherte sich dem Flur, wo sie lag. Tu mit mir, was du willst, aber geh nicht nach oben, flehte sie innerlich. Vielleicht hatte er sie noch nicht entdeckt. Die Mädchen schienen noch zu schlafen. Doch mit jedem Geräusch, das er machte, wuchs ihre Angst, er könnte sie wecken und sie würden anfangen, sich zu unterhalten, würden die Treppe herunterkommen, um nachzusehen, was passiert war. Dann wäre es zu spät. Sie könnte sie nicht beschützen.
Sie bewegte sich vorsichtig, rieb den Hinterkopf an den Fliesen. Die Augenbinde lockerte sich ein wenig, es gelang ihr, an einer Ecke hindurchzuschauen. Sie konnte etwas sehen, die Öffnung war nur wenige Millimeter groß, aber dennoch. Durch den Spalt blickte sie in den großen Flurspiegel, in dem sie die Küche erkennen konnte. Der Mann war im Profil zu sehen, er hatte den Kühlschrank geöffnet.
Neben dem Kühlschrank stand die Mikrowelle, und sie blinzelte, um zu schauen, welche Uhrzeit sie anzeigte. Schließlich erkannte sie die spiegelverkehrten Ziffern: 07:20 Uhr. Ihr Mann war auf der Arbeit, wusste nicht, was an diesem Morgen bei ihnen zu Hause passiert war. Um kurz nach sechs, nur zehn Minuten nachdem er das Haus verlassen hatte, hatte es an der Tür geklingelt. Und als sie öffnete, fiel das Monster mit der Sturmhaube über sie her.
Jetzt drehte der Mann sich zu Susanne um, und sie schloss die Augen. Als sie wieder hinschaute, war der Sehschlitz noch ein wenig größer geworden, und sie sah etwas mehr von seinem Kopf. Er hatte die Sturmhaube abgenommen, stand da und trank aus einer Coladose. In seinem dichten schwarzen Haar zeichnete sich ein weißes Viereck ganz oben auf dem Schädel ab. Sie schluckte. Sein Gesicht war schwarz geschminkt .
Er schloss den Kühlschrank und starrte die Tür an, bückte sich und schien eines der Fotos genauer zu betrachten. Dann stellte er die Coladose auf den Küchentisch und sah sich um. Erst zu ihr herüber, dann wieder zum Kühlschrank. Er kam auf sie zu. Stand direkt vor ihr. Durch den Schlitz sah sie, dass er wie ein Froschmann gekleidet war. Handschuhe und Schuhe – alles schloss lückenlos mit der Kleidung ab. Sie machte die Augen zu und betete, er möge nicht gemerkt haben, dass die Binde sich gelockert hatte.
Als sie ihn die Treppe hinaufgehen hörte, schlug sie die Augen wieder auf. Langsam nahm er eine Stufe nach der anderen und sah dabei zu, wie ihre Panik wuchs. Sie strampelte und versuchte zu schreien. Wegen des dicken Stoffballs in ihrem Mund brachte sie jedoch nur klägliche Laute zustande. Der Mann warf den Kopf in den Nacken und lachte sie laut aus, dann war er mit ein paar raschen Schritten oben. Susanne nahm all ihre Kraft zusammen, um sich zu befreien, aber das Tape und das Seil saßen zu fest. Sie presste die gefesselten Arme gegen die Ohren, um nichts hören zu müssen. Kurz darauf ertönte von oben ein Schrei. Dann war es still, als wäre jemandem ein Kissen aufs Gesicht gedrückt worden.
Sekunden später gab es einen heftigen Aufprall und ein weiterer Schrei war zu hören. Eine Tür wurde aufgetreten, und jemand kam heruntergerannt. Sie konnte gerade noch erkennen, dass es Lea, die Freundin ihrer Tochter, war, die in einem hellblauen Nachthemd die letzten Stufen heruntersprang und im Flur landete. Das Mädchen starrte sie überrascht an, ihre Blicke trafen sich. Susanne schüttelte den Kopf. Lauf! Das Mädchen stürzte zur Tür, öffnete sie und rannte auf die Straße hinaus. Ihre Hilferufe gellten durch das ganze Viertel bis an die Frühstückstische der Nachbarn.