»Ich habe sie das auf gut Glück gefragt«, sagte Marie, als sie nach Simrishamn hineinfuhren. »Ich glaube nicht, dass sie irgendetwas gesehen hat. Scheint mir eher, als hätte sie sich damals interessant machen wollen. Sie tut sich vor allem selbst leid. Das sind die Schlimmsten. Haben schon so manche Ermittlung kaputt gemacht.«
Tess musterte das Wäldchen, an dem sie vorbeifuhren.
»Ich weiß nicht, ich glaube, dass sie sehr wohl etwas gesehen hat. Sie hat sich das Phantombild gar nicht richtig angeschaut. Wahrscheinlich hat sie damals mehrere Tage überlegt, was genau sie sagen soll. Solche Leute erlebt man ja auch immer wieder.«
Leer und verlassen lagen die Kopfsteinpflastergassen da. Von den Fischerbooten im Hafen drang ein Knirschen und Knallen herüber, wenn sie aneinanderstießen. Nur die Möwen trotzten dem Sturm. Ihre Schreie übertönten sogar das Meeresrauschen, wenn sie herabstießen, um sich die Reste aus den Fischernetzen zu holen.
Die Straße nach Gärsnäs führte von Simrishamn aus über das freie Feld. Tess kannte diese Gegend Schonens nur von einigen Besuchen bei Freunden in deren Ferienhäuschen in Österlen. Sie hatte oft daran gedacht, sich ebenfalls eins zu kaufen, aber für viel mehr als die Wohnung in Västra Hamnen reichte ihr Gehalt nicht aus. Entlang der Küste zogen die Preise jährlich an.
Vor vier Jahren hatten Angela und sie im Sommer eine Hütte außerhalb von Kivik gemietet. In ihrer Erinnerung war es eine wunderschöne Zeit gewesen. Jeden Tag strahlender Sonnenschein, Frühstück im Garten, lange Tage am Strand und herrliche Ausflüge in die Hügellandschaft Brösarps Backar und in die Heidelandschaft bei Haväng. Eine ganz andere Welt, so nahe an Malmö und doch so anders. Sie wäre gerne für immer geblieben, glücklicher war sie wahrscheinlich nie gewesen. Oder kam es ihr nur im Nachhinein so vor? Wie sonst hätte es zwei Jahre später plötzlich vorbei sein können?
Sie begriff es noch immer nicht. Freunde und Bekannte hatten alle möglichen Erklärungen dafür gehabt: Angela habe einfach Bindungsängste, sie liebe ihre Freiheit, und in Sachen Kinder seien sie sich doch ohnehin immer uneins gewesen. Das hätten sie aber doch gemeinsam diskutieren können! Tess wäre dazu bereit gewesen und hatte das auch deutlich gezeigt. Sie hatte gekämpft. Warum hatte sich nicht auch Angela mehr bemüht?
»Hier ist es«, sagte Marie.
Tess schreckte aus ihren Gedanken auf. Chrilles Autowerkstatt, »Die Garage«, lag neben der Eisenbahnstrecke im verschlafenen Örtchen Gärsnäs, gleich gegenüber einer Schweinezucht. Sie parkten vor dem heruntergekommenen Gebäude mit den beiden grauen Garagen und der Zapfsäule. Mehrere Autowracks und ein paar Oldtimer standen davor. Tess’ Handy summte, sie zog es heraus und sah, dass es eine weitere Nachricht von Agapimo war. Schnell steckte sie das Handy wieder ein.
»Was für ein Idyll, man spürt förmlich, wie sich hier die schönsten Zukunftsperspektiven eröffnen«, sagte Marie und stieg aus. »Hier möchte man sich doch glatt niederlassen und anfangen, in der Schweinezucht zu arbeiten.«
Sie stützte sich am Auto ab und beugte sich vor.
»Alles in Ordnung?«, rief Tess und hielt sich einen Arm vor das Gesicht, um sich vor dem Wind zu schützen.
Marie nickte.
»Es sieht verrammelt aus, vielleicht ist gar keiner da.«
Tess klopfte an die Metalltür, drückte die Klinke herunter und stellte fest, dass sie nicht abgeschlossen war. Das leise Dudeln eines Radios war zu hören, und als sie eintraten, erhob sich ein angeleinter, hellbrauner Pitbullterrier vom Boden.
Marie wich zurück.
»Ich hasse diese Viecher mit ihren runden Augen.«
Tess grinste amüsiert. Marie kam ihr selbst immer wie ein bissiger Kampfhund vor, wenn sie richtig loslegte.
»Hallo?«, rief sie in die Halle hinein.
Der Hund bellte.
»Ich komme«, rief ein Mann aus dem Raum hinter der Theke.
Tess sah sich um. Eine typische einfache Autowerkstatt, stellte sie fest. Werbeposter von verschiedenen Reifenherstellern schmückten die Wände. Es roch nach Benzin, Blech und Feuchtigkeit.
Ein zerlegter blauer Oldtimer stand in der Mitte.
An der Wand hinter der Theke hing ein großes Porträt des Schwedendemokraten Jimmie Åkesson mit der Aufschrift »Jimmie for president«.
Ein Mann in grauem T-Shirt und schwarzer Zimmermannshose trat aus dem hinteren Raum. Er nickte ihnen zu und tätschelte seinem Pitbull den Kopf, um ihn zu beruhigen.
»Also, meine Damen, was kann ich für Sie tun?«, fragte er in breitem Schonisch.
Tess erklärte, dass sie von der Polizei seien und ihm ein paar Fragen stellen wollten.
»Ist das Ihre Werkstatt?«
»Ja, seit zwanzig Jahren.«
Er richtete sich auf und reichte ihnen die Hand.
»Chrille.«
Tess berichtete von den Vergewaltigungen in Malmö und Höllviken und fragte, ob er mitbekommen habe, dass die Polizei jetzt Verbindungen zum Annika-Fall untersuchte.
»Ja, diese elende Geschichte hat uns alle lange verfolgt«, sagte Chrille und zeigte auf sein Radio aus den Fünfzigerjahren, das auf der Theke stand. »Ich habe es heute früh gehört. Dann geht jetzt wohl alles wieder von vorne los?«
»Erinnern Sie sich an einen Dänen, der 2001 hier in der Gegend herumhing? Könnte einen weißen Ford gefahren sein.«
»Nein, da fällt mir spontan niemand ein. Aber ich war auch nicht permanent hier, ich wohnte damals eigentlich in Kristianstad und hatte Leute, die in der Zwischenzeit meine Werkstatt führten. An dem Abend, als Annika verschwand, war ich allerdings vor Ort.«
Er ging zur Theke hinüber.
Tess zog eine Kopie des Phantombilds heraus.
»Das könnte jeder sein«, sagte Chrille nach einem flüchtigen Blick auf das Bild und schüttelte den Kopf.
»Ja, es ist nicht sonderlich gelungen«, pflichtete Tess ihm bei und legte es auf die Theke. »Es weckt also keinerlei Erinnerungen bei Ihnen?«
Chrille fixierte die Wand hinter ihnen und schien nachzudenken.
»Dänen sind hier in der Gegend ja nichts Besonderes. Ich meine, da war auch mal einer, der ab und zu vorbeikam. Aber ich weiß nicht mehr, warum.«
Tess Hjalmarsson nickte.
»Und der weiße Ford?«
Chrille schüttelte den Kopf.
»Weiß noch, wie sie ihn gefunden haben und dass etwas darüber in der Zeitung stand. Aber das war doch ein gestohlenes Auto, oder? Ich weiß jedenfalls nichts Näheres darüber.«
»Gibt es denn jemanden in Ihrem Bekanntenkreis, der mehr über den Dänen wissen könnte?«
Zum dritten Mal schüttelte Chrille den Kopf.
»Keiner, zu dem ich heute noch Kontakt hätte oder von dem ich wüsste, wo er sich jetzt aufhält.«
»Die Brüder Mårtensson waren oft hier. Kannten Sie die?«
»Sowohl die beiden als auch ihren Vater, Dan. Aber das ist lange her. Dan treffe ich manchmal noch auf irgendwelchen Automessen. Aber Rickard und Stefan habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen. Stefan würde sich an so einem Ort gar nicht mehr blicken lassen. Ist lange her, seit der Dreck unter den Fingernägeln hatte. Er ist sozusagen …«
Chrille streckte den Finger in die Luft und pfiff.
»Ja, wir haben gehört, dass es für ihn mit seiner Maklerfirma in Malmö gut gelaufen ist«, sagte Tess.
Chrille lachte trocken.
»Wenn man es ›gut laufen‹ nennen möchte, wenn einer baufällige Schrotthäuser an Stockholmer verscherbelt …«
»Und was halten Sie von Rickard und den Verdächtigungen gegen ihn?«
Chrille lehnte sich an den Tresen.
»Tja, was weiß man schon … Die Polizei glaubte ja, er hätte den Ford in jener Nacht gefahren. Aber die Leute hier draußen kümmern sich um ihre eigenen Angelegenheiten.«
»Kannten Sie Annika persönlich?«
»Ich wusste zumindest, wer sie ist.«
Tess schaute auf den Pirelli-Kalender mit nackten Frauen, der neben dem Plakat von Åkesson hinter Chrille an der Wand hing.
Er folgte ihrem Blick.
»Nicht strafbar, oder, Frau Wachtmeister?«
»Nein, gar nicht.«
»Sie wissen schon, dass es bei uns keinen Präsidenten gibt, oder?«, fragte Marie und zeigte auf Åkesson.
»Ist aber auch nicht strafbar, oder? Obwohl man das manchmal fast glauben könnte.«
Er stellte das Radio lauter, als der Jingle der Nachrichten von Radio Malmöhus erklang.
Anscheinend wurde die Sturmwarnung noch verschärft, mehrere Straßen in Schonen waren gesperrt worden. Diesmal war eher der Osten betroffen. Der Flügel eines Windrads war beschädigt worden und ragte über die E65 außerhalb von Skurup, weshalb die Straße gesperrt worden war, auch Teile von Malmö konnten wegen umgestürzter Bäume nicht angefahren werden.
Für den Abend wurden Orkanböen erwartet, und die Bevölkerung wurde dazu angehalten, zu Hause zu bleiben. In Nordschonen war teilweise die Stromversorgung unterbrochen.
Die Wellblechwände schepperten im Wind. Marie ging zur Tür.
»Ich geh mal zum Auto und hör nach, ob wir überhaupt nach Hause kommen.«
Chrilles Telefon klingelte.
Er ging dran und legte nach einem kurzen Gespräch gleich wieder auf. »Ich muss los, bei mir zu Hause ist ein Baum umgestürzt.«
Tess bedankte sich und bat ihn, sich zu melden, wenn ihm noch etwas zu dem Dänen einfallen sollte.
Als sie die Tür öffnen wollte, blies der Wind so stark, dass sie sich durch die Öffnung quetschen musste. Es hatte angefangen zu dämmern, und es regnete wieder. Tess kämpfte sich zum Auto vor.
»Heute noch nach Hause zu kommen, können wir vergessen«, sagte Marie, die hinter ihr auftauchte. »Die Bundesstraßen neun und elf sind gesperrt. Und ich weigere mich, bei so einem Wetter über irgendwelche Nebenstraßen nach Malmö zu kriechen. Lass uns ein Hotel suchen.«
»Ja, gesetzt den Fall, wir schaffen es noch bis Simrishamn«, sagte Tess und schnallte sich an. »Hier wird es wohl kaum etwas geben.«
Als sie am Bahnhof vorbeikamen, sahen sie, dass der Zugverkehr komplett eingestellt worden war.
»Alle Wege aus diesem verdammten Loch sind versperrt«, sagte Marie. »Was für ein Drama!«
Sie zog ihr Handy heraus.
»Cooler Typ, dieser Chrille. Dank solchen Gestalten wie ihm läuft es hier in Schweden.«
Sie hielt Tess das Handy hin.
»Er hat etwas zu verbergen. Nackte Mädels oder Schwedendemokraten sind tatsächlich nicht verboten, aber was sagst du hierzu?«
Tess hielt am Straßenrand und vergrößerte das Foto. Darauf war ein großer Blechkanister mit diversen Schläuchen zu sehen. Daneben standen Plastikkanister.
»Wo hast du das gefunden?«
»Ich habe eine Runde ums Haus gedreht, um mich umzusehen. Das Ding stand in einem Schuppen auf der Rückseite. Ausrüstungen zum Selbstbrennen sind hier draußen wahrscheinlich Standard, oder?«
Obwohl Tess immer noch ein bisschen sauer auf Marie war, musste sie lachen.
»Das können wir später vielleicht mal brauchen«, sagte sie. »Wenn wir Chrille und seinen Erinnerungen doch noch mal auf die Sprünge helfen müssen.«
Nach zwanzig Minuten auf menschenleeren Straßen erreichten sie Simrishamn, fuhren auf den Parkplatz vor dem Hotel Svea und gingen hinein.
Tess und Marie waren nicht die Einzigen, die hier gestrandet waren. Vor der Rezeption standen mehrere Grüppchen mit Gepäck.
Die Frau an der Rezeption wirkte gestresst, Schweiß rann ihr über die Stirn, während sie versuchte, die Gäste zu beruhigen.
»Noch haben wir Strom. Aber wir können nicht versprechen, dass das Reserveaggregat genügt, um alle Zimmer warm zu halten, wenn die Stromversorgung zusammenbricht.«
Kurz darauf bezog Tess ein winziges Hotelzimmer und schaute durch das Fenster auf das dunkle Meer und den Kleinboothafen hinaus. Das Hotel lag nur knapp hundert Meter vom Wasser entfernt. Sie überlegte, ob die Wellenbrecher diesen enormen Kräften gewachsen waren.
Marie war sofort schlafen gegangen. Tess dachte noch immer über die ungewollte Schwangerschaft ihrer Kollegin nach. Es war ein blödes Gefühl, sie ihr zu missgönnen, aber dass Marie so gedankenlos darüber redete, obwohl sie doch wusste, wie sehr Tess sich ein Kind wünschte, war schwer zu verdauen. Gleichzeitig widerstrebte es Tess, so in Selbstmitleid zu baden. Sie seufzte und beschloss, an etwas anderes zu denken.
Im Fernsehen gab es auf
TV
Skåne
eine Sondersendung über den Sturm. Die Berichterstattung über die Vergewaltigungen wurde ausnahmsweise von Orkantief Rut verdrängt, das heute Nacht seinen Höhepunkt erreichen sollte. Schon jetzt flackerte in regelmäßigen Abständen das Licht. Tess hatte vorsichtshalber die Taschenlampe aus dem Auto mitgenommen. Sie schaute auf ihr Handy. Eleni hatte mehrfach geschrieben, um zu fragen, wann sie nach Hause kommen würde. Tess blickte sich um. Ein schmales Einzelbett mit bunt gemustertem Überwurf.
Sie dachte daran, was Chrille gesagt hatte, dass die Leute auf dem Land sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten. Dennoch wurde hier sicher genauso viel geredet wie woanders auch, wenn nicht sogar mehr.
In den sechzehn Jahren, die inzwischen vergangen waren, waren aus Gerüchten Fakten geworden, Wahrheiten, die einem Einzelnen oder mehreren nutzten. Aber irgendwo da draußen wusste bestimmt jemand, was damals wirklich passiert war. Nicht genug damit, dass die ursprünglichen Ermittlungen unzureichend gewesen waren. Darüber hinaus war es absolut bemerkenswert, dass es keine weiteren Zeugen gab, dass niemand gesehen hatte, wie Annika in jener Nacht nach Hause gegangen war.
Nach ihrem Besuch am Tatort fühlte Tess sich in der Überzeugung bestärkt, dass Annika ihren Mörder gekannt hatte. Wenn sie keine geheime Beziehung mit einem Dänen mit psychopathischen Zügen und Serienmördercharakter gehabt hatte, dann war sie im Wäldchen jemandem aus ihrem näheren Umfeld begegnet. Jemandem, der gewusst hatte, welchen Weg sie gehen würde, und der sie dort abgepasst hatte.
Es hatte keine eindeutigen Kampf- und Abwehrspuren gegeben. Das zumindest hatte die ansonsten mangelhafte technische Untersuchung klar ergeben. Und wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass ein unbekannter Vergewaltiger sie ausgerechnet dorthin verfolgt hatte?
Tess griff nach ihrem Handy und sah sich noch einmal die Kühlschrankfotos an, die Susanne Ek ihr geschickt hatte.
Worauf hatte der Valby-Mann reagiert?
Wieder flackerte das Licht.
An den Kinderfotos konnte Tess nichts Auffälliges entdecken. Ein anderes Foto zeigte Susanne mit einem Mann, wahrscheinlich ihrem Ehemann, am Strand, vermutlich am Mittelmeer. Sie lachten und stießen mit Weingläsern an. Daneben hing ein laminiertes Foto, dessen Farben etwas verblasst waren. Darauf waren vier Personen in einem offenen Auto älteren Modells zu sehen. Tess betrachtete es lange. Eine von ihnen sah aus wie Susanne Ek in jüngeren Jahren.
Tess war sich immer sicherer. Der Grund für Annikas Verschwinden war hier zu suchen, in Simrishamn und Umgebung. Und es hatte mit den Ereignissen in den letzten Lebenstagen der jungen Frau zu tun.
Die Frage war nur, warum sich in dem Auto, mit dem sie vermutlich transportiert worden war, die Fingerabdrücke des Valby-Mannes befanden. Welche Rolle spielte er hier? Es war ein belastendes Indiz, dessen Untersuchung eine Menge Zeit und Energie fordern konnte, was am Ende vielleicht zu gar keinem Ergebnis führte.
Einen alten Fall wieder aufzurollen war an sich schon mühsam genug, und es half niemandem, wenn es unnötig kompliziert wurde. Aber es war auch möglich, dass es zum ersten Mal einen Durchbruch im Fall der vermissten Annika Johansson gab.