Ruben Szymuk war bereits hinzugezogen worden, als der Heckenschütze Peter Mangs sein Unwesen in der Stadt getrieben hatte. Mangs war jedoch gefasst worden, bevor sein Bild an die Presse gegangen war.
Diesmal war Ruben Szymuk ein kahler Raum in der Abteilung Gewaltverbrechen zugewiesen worden. Nichts sollte Susanne Ek ablenken und ihre Erinnerung beeinflussen.
Zusammen saßen sie vor dem Computer und versuchten mithilfe von
E
-
FIT
ein Bild des Valby-Mannes zu erstellen, basierend auf Susanne Eks Erinnerungen an sein Spiegelbild im Flur. Wenn die Zeugen die Fähigkeit dazu besaßen, konnten sie auch mit Bleistift und Papier selber zeichnen. Aber meist kam der Computer zum Einsatz, und der Zeuge saß daneben, um das Bild zu korrigieren, während es entstand.
Die Software, mit der es erstellt werde, entwirft lediglich ein frontales Porträt, da Menschen im Profil nicht wiedererkannt würden, hatte Szymuk ihnen erklärt.
Tess stand hinter den beiden und sah zu. Sie hatte niemandem von den merkwürdigen Geräuschen und der Zigarette in ihrem Treppenhaus erzählt. Im Grunde war ja auch nichts passiert. Den Zigarettenstummel bewahrte sie dennoch auf.
Sie musterte das angefangene Porträt und fragte sich, ob das auch der Mann war, der gestern vor ihrer Tür gestanden hatte. Szymuk hatte mit dem dichten schwarzen Haar begonnen, das auch die Zeugin in Dänemark am besten hatte beschreiben können. Auf der rechten Schädelhälfte des Mannes befand sich demnach eine abgegrenzte weiße Stelle. Ein Pigmentfleck, dachte Tess.
Sobald das Bild herauskam, würde er sich, wenn er einigermaßen schlau war, die Haare abrasieren, deshalb galt es auch, den richtigen Moment abzupassen, um es an die Presse zu geben.
»Im Nacken etwas länger, ungefähr so«, sagte Susanne Ek und zeigte mit der Hand.
Ruben Szymuk war dafür bekannt, eine gute Atmosphäre zu schaffen, sodass sich auch traumatisierte Zeugen, wie Susanne Ek, entspannten.
Phantombilder waren umstritten und wurden in Schweden im Vergleich zu den
USA
, Deutschland und England nur selten eingesetzt. Im Schnitt wurden höchstens etwa zehn Bilder pro Jahr erstellt. Im Laufe der Zeit hatte es besonders zwei gegeben, die ungewöhnlich gut getroffen waren und der Polizei bei der Verfolgung der Täter sehr geholfen hatten. Das eine war das des Lasermanns mit seinem halblangen, strähnigen roten Haar und der Brille gewesen, das andere das des Haga-Manns in Umeå. Letzteres hatte ebenfalls Ruben Szymuk angefertigt.
»Wir müssen uns vor allem auf drei Dinge konzentrieren«, sagte er zu Susanne. »Ich nenne es
ZAP
: Zeit, Abstand und Perspektive. Diese drei Aspekte entscheiden darüber, wie gut das Bild wird. Und es geht hier nicht um einen Wettbewerb, in dem Fall wären Sie sowieso die einzig mögliche Gewinnerin, denn nur Sie haben ihn gesehen.«
Susanne Ek lächelte zaghaft.
»Da Sie ihn im Spiegel gesehen haben, müssen wir alles umgekehrt denken, zum Beispiel den Pigmentfleck in seinen Haaren.«
Nach und nach entstand auf dem Bildschirm das Gesicht des Valby-Mannes. Die Kieferpartie war kräftiger als bei dem Phantombild aus Dänemark, und er hatte ein Kinngrübchen. Die Augenbrauen waren breit und dunkel. Das dicke dunkle Haar leicht nach rechts gekämmt. Der Mund sah aus wie ein Strich, mit leicht herabgezogenen Mundwinkeln, die ihm ein grimmiges Aussehen verliehen. Seine Augen standen ein klein wenig schräg. Wieder kam er Tess irgendwie bekannt vor, ohne dass sie hätte sagen können, an wen er sie erinnerte.
Als Susanne Ek zur Toilette ging, wandte Ruben sich an Tess.
»Sie ist gut, sie hat ein Gefühl für Gesichter, besser als der Durchschnitt. Die meisten Zeugen sind unbrauchbar, aber das wissen Sie ja selbst.«
Tess nickte. Manchmal prüfte sie ihr eigenes Personengedächtnis, etwa indem sie versuchte, sich das Gesicht des Taxifahrers vorzustellen, der sie gefahren hatte. Es gelang ihr nur selten. Der Mensch ist an sich einfach nicht sonderlich aufmerksam, vor allem wenn er nicht weiß, dass es wichtig sein könnte. Dramatische Situationen entstehen in der Regel sehr schnell und wenn man am wenigsten darauf vorbereitet ist. Angela dagegen war in dieser Hinsicht ein Genie gewesen, sie hatte ein ungewöhnliches Gedächtnis für Gesichter und konnte mit wenigen Strichen die charakteristischen Züge eines Menschen aus der Erinnerung zu Papier bringen.
Ruben Szymuk legte den Kopf schief und betrachtete das Bild.
»Wissen Sie, wer die besten Zeugen sind?«
Tess schüttelte den Kopf.
»Westindische Frauen, denn sie sitzen oft nah beieinander, wenn sie sich unterhalten.«
Im Flur näherten sich Susannes Schritte.
»Ja, sie ist wirklich gut, aber sie hat Angst«, sagte Ruben Szymuk, »das blockiert sie. Es wird also wohl noch eine Weile dauern.«
»Wie lange?«, fragte Tess.
»Normalerweise brauche ich höchstens drei Stunden. Aber hier sollten wir mit Pausen deutlich mehr veranschlagen, vielleicht sogar den ganzen Tag.«
Als Susanne zurückkam, hielt Tess ihr ihr Handy hin.
»Sind Sie das, hier?«
Sie deutete auf das Foto von Susannes Kühlschrank mit den vier Personen im Cabrio.
»Ja. Ist aber lange her, vor den Kindern. Wir haben damals als Clique ein Auto gemietet und sind den ganzen Sommer damit herumgefahren.«
»Wo ist das Foto aufgenommen worden?«
Susanne überlegt.
»Wir haben an verschiedenen Orten in Schonen gezeltet. Das hier war irgendwo in Österlen. Da steht es sogar, unter dem Foto:
Wir rocken Simrishamn.
«
Tess sah genauer hin und entdeckte tatsächlich die kleine Schrift. Susanne Ek lachte verlegen.
»Wir dachten damals, das macht man so.«
Tess spürte, wie es in ihrem Bauch flatterte.
»Simrishamn also … Wann war das ungefähr?«
»Vor fünfzehn Jahren vielleicht? Es war das Jahr, bevor mein erstes Kind zur Welt kam. Wir waren damals um die fünfundzwanzig. Aber ich kann das auch noch genauer herausfinden.«
Tess betrachtete das Foto noch einmal. Im Hintergrund waren lediglich ein vergilbtes Feld und ein strahlend blauer Himmel zu sehen.
»Wo haben Sie das Auto gemietet?«
»Weiß ich auch nicht mehr genau, irgendwo dort in der Gegend. Ich habe noch Kontakt mit Magnus, der am Steuer sitzt, der weiß es bestimmt noch. Ist es wichtig?«
Susanne schien beunruhigt.
»Schwer zu sagen.« Tess nickte zum Bildschirm hinüber. »Aber ich überlege natürlich, worauf der Valby-Mann reagiert haben könnte, als er Ihren Kühlschrank sah. Könnte er etwas oder jemanden wiedererkannt haben?«
»Keine Ahnung. Aber ich bin mir sicher, dass ich ihn noch nie zuvor gesehen habe. Daran hätte ich mich ganz bestimmt erinnert. Und die anderen … nein, ich glaube auch nicht. Ich kann Magnus jetzt sofort anrufen.«
»Gerne«, sagte Tess.
Kurz darauf kehrte Susanne zurück.
»Gärsnäs. Wir haben das Auto in einer Werkstatt dort gemietet. Magnus konnte sich nicht an den Namen erinnern, aber es war ein gelbes Gebäude mit massenhaft Oldtimern davor, und es lag mitten im Ort an einer Bahnlinie.«
Chrilles Werkstatt schon wieder, dachte Tess.
Sie wandte sich Ruben Szymuk zu.
»Kann ich bitte eine Kopie davon haben?«
Sie zeigte auf den Bildschirm.
»Aber es ist noch lange nicht fertig«, sagte Szymuk.
»Es ist jetzt schon so viel besser als das aus Dänemark. Ich muss dringend etwas prüfen, und damit kann ich nicht den ganzen Tag warten.«
»Vielleicht könnten wir zumindest noch kurz an den Augen arbeiten. Was ist Ihnen da aufgefallen?«
Szymuk sah Susanne Ek an.
»Seit wir hier sitzen, erinnere ich mich plötzlich viel besser«, sagte Susanne. »Das eine war dunkler als das andere, und es war ein dunkler Fleck darin. Aber ich kann Ihnen nicht sagen, in welchem Auge.«
»Wir versuchen, es herauszuarbeiten. Haben Sie schon mal vom Waardenburg-Syndrom gehört?«, fragte Szymuk.
Tess schüttelte den Kopf.
»Eine Erbkrankheit. Bei den Betroffenen sind oft größere Haut- oder Haarpartien verändert, zum Beispiel können sie einen oder mehrere helle, abgegrenzte Pigmentflächen im Haar haben. Ein weiteres, recht übliches Phänomen sind verschiedenfarbige Augen, oft ein braunes und ein blaues. Christopher Walken und Kiefer Sutherland sind Promis mit einem Syndrom wie diesem. Ich glaube, unser Mann hier hat es auch.«
Das dänische Opfer hat nichts Besonderes zu den Augen gesagt, dachte Tess und nahm sich vor, Carsten Morris danach zu fragen.
»Interessant. Und das könnte man auch am
DNA
-Profil erkennen?«
»Ja«, sagte Szymuk und lächelte. »Wahrscheinlich. Ich bin hier aber nur der Zeichner.«
Tess ging zum Drucker und holte sich das Exemplar des Phantombilds, das Szymuk ihr ausgedruckt hatte, und fügte handschriftlich die Information über die verschiedenfarbigen Augen hinzu. Gut gebaut, eins achtzig bis eins fünfundachtzig groß, um die fünfzig Jahre alt, Raucher. Das war doch etwas, worauf man aufbauen konnte.
Sie ging über den Flur und rief Marie an.
»Es wird Zeit für einen neuen Österlen-Trip.«
Auf dem Weg nach draußen hörte sie Schritte hinter sich und drehte sich um.
»Warte kurz«, bat Rafaela. Unruhig warf sie einen Blick über ihre Schulter.
»Dieser Profiler. Er nimmt Tabletten.«
»Ich weiß«, sagte Tess.
»Starke Tabletten.«
Tess griff nach der Klinke. Bestimmt machte Rafaela Morris schlecht, um sich selbst in ein gutes Licht zu rücken.
»Er arbeitet nicht mehr an dem Fall«, sagte sie kurz angebunden.
Rafaela schaute schnell weg und scharrte verlegen mit dem Fuß.
»Wie gesagt, wenn sich bei euch eine Lücke auftut, gebt mir gerne Bescheid.«
Tess ließ die Türklinke wieder los.
»Warum willst du eigentlich so unbedingt mit alten Fällen arbeiten?«
Rafaela verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Gesicht verdunkelte sich.
»Als ich zehn war, wurde mein Bruder erschossen. Er arbeitete in einer Pizzeria in Lund, und eines Tages, als er von der Arbeit nach Hause wollte, standen draußen zwei Typen und knallten ihn ab. Die Täter wurden nie gefasst. Ich weiß, wie es ist, mit einem Verbrechen zu leben, das nie aufgeklärt wurde. Ich kann euch also von Nutzen sein.«
Tess nickte und öffnete die Tür.
»Erzähl mir ein andermal mehr von deinem Bruder. Ich muss jetzt los.«