Tess wartete draußen im Auto und schaute auf die ehemalige Strafvollzugsanstalt, die an Marie Erlings Garten in Kirseberg grenzte. Vergangenen Sommer hatte ein flüchtiger Insasse die Abkürzung über ihr Grundstück nehmen wollen, war aber sofort von ihr überwältigt und in Handschellen zum Gefängnis zurückgeführt worden. Inzwischen war das Gebäude geräumt und sollte nach dem Willen der Behörden eine Flüchtlingsunterkunft werden. Tess hütete sich, Marie zu fragen, was sie davon hielt.
Sie wählte ihre Nummer.
»Ich stehe draußen.«
»Komme«, sagte Marie.
Im Hintergrund war die gereizte Stimme ihres Mannes Tomas zu hören.
»Ja, geh nur! Aber erzähl deiner Kollegin auch, wie oft ich mir diesen Monat schon wegen der Kinder freinehmen musste.«
Minuten später wurde die Tür des roten Backsteinhauses aufgerissen und Marie kam die Treppe herunter. Ihr langer, leopardengemusterter Schal wehte hinter ihr her und wäre beinahe am Briefkasten hängen geblieben.
»Was für ein Scheißmorgen«, sagte sie und schlug die Autotür zu.
Tess fuhr auf die E22. Grauer Nebel lag über Straßen und Feldern.
»Es ist immer das Gleiche, ich werde noch verrückt davon! Und ich könnte dir nicht einmal sagen, wer von uns der größere Idiot ist, warum überhaupt einer von uns noch weitermachen will.«
»Überlege es dir, bevor du etwas unternimmst«, sagte Tess.
»Was meinst du damit?«
»Ihr bekommt ein drittes Kind. Sei ein bisschen dankbar für das, was du hast.«
»Dankbar? Bei uns ist schon wieder der Keller überschwemmt. Sei froh, dass du das nicht riechen musst! Und dann noch diese verdammte Übelkeit – eine Scheißkombination!«
Tess merkte, wie sie zunehmend gereizt wurde.
»Ja schon, aber du hast Familie, du bist schwanger …«
Sie unterbrach sich und sah aus dem Fenster. Marie war ohnehin nicht empfänglich für das, was sie ihr eigentlich sagen wollte.
»Habe ich dir erzählt, dass meine Mutter sich ein Haus in Söderslätt gekauft hat?«, fragte sie stattdessen. »Sie ist alleine dort eingezogen und wirkt total glücklich und zufrieden.«
»Die hat’s gut! Da hätte ich auch Lust drauf«, sagte Marie und öffnete eine frische Tüte Karamellbonbons.
»Mein Vater dagegen ist immer noch kreuzunglücklich und hofft, dass es nur eine vorübergehende Schnapsidee ist und sie doch noch zu ihm zurückkehrt.«
»Es gab aber doch bestimmt Anzeichen! Die meisten stecken den Kopf in den Sand, bis es zu spät ist. Und dann stehen sie da wie vom Donner gerührt. Ich tröste mich hier mit diesen Dingern, und zu Hause brüllen wir uns in einer Tour an. Wenn es nicht Tomas ist, sind es die Kinder. Sobald ein Streit geschlichtet ist, beginnt der nächste. Dein Stress mit der Griechenbraut ist dagegen harmlos!«
Tess schwieg eine Weile. Hatte sie ebenfalls den Kopf in den Sand gesteckt, als es mit Angela schleichend auseinandergegangen war? Vielleicht. Und vielleicht sogar über einen viel längeren Zeitraum, als ihr bisher bewusst gewesen war.
Ihr Handy vibrierte in der Hosentasche. Eine weitere Nachricht. Sie hatte gar keine Lust nachzusehen.
Marie war an diesem Morgen eigentlich zur Patrouille in einem der Einfamilienhausviertel von Malmö eingeteilt gewesen. Man hoffte, die Bevölkerung durch verstärkte Präsenz zu beruhigen und den Valby-Mann abzuschrecken.
»Wie hast du es geschafft, dich da rauszuziehen?«, fragte Tess.
»Ich steh doch nicht wie eine Idiotin zwischen den Häusern herum, während in einem anderen Vorort feierlich ein Hund beerdigt wird. Ich habe einen Deal mit Rafaela gemacht. Passte ihr prima, so ein chilliger Einsatz kommt so bald nicht wieder.«
Tess hob fragend die Augenbraue.
»Na, du hast doch bestimmt von dem Trauerzug in Rosengård gehört?«
Tess schüttelte den Kopf und bog auf die Ringstraße ein.
»Polizeihund Aldo ist gestorben. Deshalb wird in Rosengård eine Abschiedszeremonie für ihn abgehalten. Dreißig Polizisten stehen Spalier, wenn der Köter feierlich vorbeigefahren wird. Kannst du dir das vorstellen?«
»Seltsamer Zeitpunkt für so eine Inszenierung«, sagte Tess und bog Richtung Ystad ab.
»Allerdings. Wie soll man das den Leuten vermitteln? Ein Mörder und Vergewaltiger wütet und verbreitet Angst und Schrecken, kriminelle Banden bekriegen sich, und die Polizei steht da und trägt feierlich ihren bescheuerten Köter zu Grabe. Das ist doch krank!«
Sie schüttelte den Kopf.
»Und dann wird über Personalmangel gejammert.«
Tess zog umständlich das Phantombild aus der Tasche und reichte es Marie.
»Hier, es ist fast fertig, er hat wahrscheinlich zwei verschiedenfarbige Augen.«
Marie hörte auf zu kauen und betrachtete das Bild.
»Ha, das ist doch Joachim Löw, der Trainer der deutschen Fußballnationalmannschaft.«
Tess fuhr rechts ran und sah sich das Bild selbst noch einmal an.
»Ich wusste doch, dass er mich an jemanden erinnert!«
»Dürfte schwierig werden, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Alle werden sofort an Löw denken. Das wäre ja eine ganz neue Wendung, wenn der es gewesen wäre.«
Tess nahm ihr Handy und wählte Carsten Morris’ Nummer.
»Ach, jetzt schon?«, sagte er zur Begrüßung.
»Sie haben gesagt, ich darf anrufen, sobald es etwas Neues gibt. Wir haben jetzt ein aktuelles Phantombild, an dem das Opfer aus Bellevue mitgewirkt hat, es ist ziemlich gut. Ich fotografiere es und schicke es Ihnen.«
Die Information über die verschiedenfarbigen Augen des Valby-Mannes war neu für Carsten Morris.
Tess erzählte auch von den Freunden im Auto auf dem Foto von Susanne Eks Kühlschrank. Dass es in Simrishamn aufgenommen worden war und dass sie vermutete, dass das Auto in Chrilles Werkstatt gemietet worden war, sodass es eventuelle Verbindungen zu dem in Brand gesetzten Ford geben könnte.
»Könnte das genügt haben, um ihn so aus der Fassung zu bringen, dass er seine Coladose stehen gelassen hat?«
Carsten Morris schwieg, dann räusperte er sich.
»Ja, er könnte befürchtet haben, dass sie ihn wiedererkennt. Das könnte eine Erklärung für seine Zerstreutheit sein.«
»Alles klar, ich melde mich wieder.«
Tess hatte nicht vor, Carsten Morris einfach so ziehen zu lassen. Und wenn er ganz ehrlich war, wollte er bestimmt auch auf dem Laufenden bleiben. Er hatte nur keine Lust, sich länger mit den Kollegen in Malmö herumzuschlagen. Und das konnte Tess nur zu gut nachvollziehen.
Gärsnäs machte einen ebenso trostlosen Eindruck wie bei ihrem ersten Besuch. Vor der Werkstatt stand Chrille im blauen Arbeitsoverall und unterhielt sich mit einem Kunden. Als er die beiden Polizistinnen entdeckte, runzelte er die Stirn.
»Sie schon wieder.«
»Haben Sie einen Augenblick Zeit? Wir haben noch ein paar Fragen.«
»Sofort, bin gleich fertig«, murmelte er.
Auf dem Parkplatz vor der Werkstatt standen mehrere Autos. Tess erkannte das charakteristische Ford-Mustang-Emblem, ein galoppierendes silbernes Pferd an einem von ihnen.
Sie gingen hinein, um auf Chrille zu warten. An der Tür hielt Marie kurz inne.
»Ist der Hund da?«
Tess schüttelte den Kopf.
Chrille tauchte in der Tür auf.
»Der Malmöer Polizei gefällt es wohl in Gärsnäs?«
»Ja, es tauchen immer wieder Dinge auf, die uns hierher zurückbringen.«
Chrille setzte sich auf eine rostige Blechkiste.
»Sie vermieten hier auch ab und zu Autos, oder?«, fragte Tess.
»Nicht mehr. Vor ein paar Jahren habe ich damit aufgehört, es war mehr Arbeit als Vergnügen. Die Urlauber haben sie doch nur zu Schrott gefahren.«
Chrille zuckte ungehalten mit den Schultern.
»Ich habe verdammt viel zu tun, können Sie mir einfach sagen, was Sie wollen, damit ich weitermachen kann?«
Marie fuhr mit der Hand über die schmutzige Arbeitsfläche und wischte sich den Staub am Hosenbein ab. Chrille warf ihr einen wütenden Blick zu.
»Wissen Sie, Christer – denn so heißen Sie doch wohl eigentlich? Wir haben ebenfalls verdammt viel zu tun. Und je eher Sie Ihr Gedächtnis auffrischen und den Mund aufmachen, desto eher können wir mit Dingen weitermachen, die wir lieber tun, als uns mit Ihnen zu unterhalten.«
Tess zog das Phantombild aus der Tasche und reichte es ihm. Er betrachtete es gründlich.
»Okay … Sollte ich den kennen?«
Seine Miene war ausdruckslos.
»Es ist eine etwas bessere Variante desselben Mannes, den wir Ihnen beim letzten Mal gezeigt haben. Der Däne. Schauen Sie es sich genau an.«
Chrille seufzte und betrachtete widerwillig das Bild.
»Wie Sie sehen, ist eine ziemlich auffällige Sache dazugekommen. Ein weißer Pigmentfleck, hier.«
Tess deutete auf die rechte Seite des Kopfes.
»Er könnte auch verschiedenfarbige Augen haben. Das Bild ist noch nicht ganz fertig. Raucher, eins achtzig groß, damals um die vierzig, fünfundvierzig, heute etwas über fünfzig Jahre alt. Eine Person, an die man sich erinnern würde, wenn man sie mal gesehen hat. Noch dazu, da er Däne ist.«
Chrille schüttelte den Kopf.
»Wie gesagt, Dänen sind hier nichts Ungewöhnliches.«
»Haben Sie vielleicht was zu trinken für mich?«, sagte Marie plötzlich und sah sich in der Halle um.
Chrille hob die Augenbraue.
»Sie können ein Glas Wasser haben.«
»Danke, aber ich hatte an was Stärkeres gedacht.«
Sie trat zu ihm, zog ihr Handy heraus und hielt das Foto mit der Destillieranlage hoch, das sie beim letzten Besuch gemacht hatte.
»Verstoß gegen das Alkoholgesetz, Verdacht des illegalen Verkaufs. Auch ein Verdacht wegen Vorbereitungen zum Verstoß gegen das Alkoholgesetz kann zu einer empfindlichen Geldstrafe führen.«
»Oh, verdammt …«
Chrille sprang auf und machte ein paar Schritte auf Marie zu, als wolle er ihr das Handy entreißen. Marie zog die Hand weg und schnalzte mit der Zunge.
»Aber Christer, müssen wir dem auch noch eine Anzeige wegen einer Tätlichkeit gegenüber Beamten hinzufügen? Reißen Sie sich zusammen, und denken Sie an Ihre Zukunft.«
»Bitch.«
Tess stellte sich dicht vor Chrille und senkte die Stimme.
»Bitch und Polizistin ist eine ganz schlechte Wortkombination. Das Wort Bitch ist überhaupt eine ganz schlechte Kombination im Zusammenhang mit Frauen.«
Chrille war knallrot im Gesicht.
Sie nahm ihm das Phantombild ab.
»Schade, dass das nicht weitergeholfen hat.«
Sie legte den Kopf schief und betrachtete selbst das Bild.
»Ich fand es richtig gut, irgendwie besonders. Entweder ist es schlecht gemacht, oder dieser Däne ist nie hier gewesen. Morgen wird dieses Bild an sämtliche Medienanstalten des Landes gehen. Wenn sich dann jemand findet, bei dem es Erinnerungen weckt, wäre es natürlich schlecht, wenn sich weitere Gründe für uns fänden, wieder nach Gärsnäs herauszufahren.«
»Genau, besonders schön ist es hier nämlich nicht«, ergänzte Marie. »Wollen wir dann jetzt mal ums Haus gehen und uns die Gerätschaften näher ansehen?«
»Ja, gerne«, sagte Tess. »Und Sie kommen mit.«
Chrille blieb stehen, es sah aus, als müsse er die Alternativen abwägen.
»Zeigen Sie mir das Bild noch mal«, sagte er.
Marie schloss die Tür, und Tess gab ihm das Phantombild. Chrille ging zum Tresen.
»Dieser Fleck … der war auf dem ersten nicht drauf, das Sie mir gezeigt haben, oder?«
»Nein, der ist später dazugekommen. Eine neue Zeugin.«
»Ich war, wie gesagt, nicht hier, als das Mädchen verschwand. Ich musste damals ja auch ein Alibi angeben. Aber ich weiß, dass sich damals ein Däne hier rumtrieb, der … irgendwie anders war. An einem Abend gab es hier in der Werkstatt einen Streit, und ich erinnere mich, dass er daran beteiligt war.«
»Dann wissen Sie also, von wem wir reden?«
»Der Fleck in seinen Haaren … Ich glaube, er könnte es gewesen sein.«
»Name?«
Chrille streckte den Rücken durch.
»Seinen richtigen Namen weiß ich nicht, aber er wurde Silver genannt. Wegen dem Fleck, er leuchtete wie ein silbernes Ding auf seinem Kopf.«
»Na bitte, Chrille«, sagte Marie. »Klappt doch! Dann gab es hier also jedenfalls einen Dänen.«
»Sind Sie ihm mal begegnet?«, fragte Tess.
»Nein, ich habe nur von ihm gehört.«
»Sicher?«
Tess sah ihn scharf an.
»Wenn ich es sage, dann ist es auch so.«
»Muss ich Sie daran erinnern, dass Sie uns vorher auch schon Dinge gesagt haben, die sich im Nachhinein als nicht richtig herausgestellt haben?«, fragte Marie.
Tess nahm das Bild von der Theke.
»Könnte er einen Ford gehabt und hier daran herumgeschraubt haben?«
»Möglich.«
»Wer kannte ihn sonst noch?«
Chrille seufzte.
»Vielleicht Stefan Mårtensson. Wenn ich mich richtig erinnere, waren es die beiden, die sich an dem Abend in die Wolle kriegten.«
»Wie viel Sie plötzlich wieder wissen!«, sagte Marie erfreut. »Worum ging es denn bei dem Streit?«
Chrille zuckte die Achseln.
»Keine Ahnung. War ja nicht ungewöhnlich, dass die Leute sich kabbelten, war ja auch keiner ganz nüchtern.«
»Natürlich nicht«, sagte Marie und deutete auf das Fenster zum Hinterhof, »hier gab es ja anscheinend einige Quellen, an denen man seinen Bedarf decken konnte.«
Tess ermahnte Chrille, sich zu melden, falls ihm noch etwas einfiel.
»Das haben Sie jetzt aber alles nicht von mir«, rief Chrille ihnen hinterher, als sie die Tür öffneten.
»Wen schützen Sie?«
»Niemanden. Aber ich habe keinen Bock auf dummes Geschwätz.«
Tess deutete auf den Schuppen an der Rückseite des Gebäudes.
»Für das dumme Geschwätz sind Sie selbst zuständig. Wenn wir nächstes Mal hier auftauchen, ist der Apparat verschwunden, okay?«
»Silver. Dann suchen wir jetzt also nach einem Silver«, sagte Tess, als sie wieder im Auto saßen.
»Ja, schon lustig, wie ein bisschen Alkohol manchmal das Gedächtnis auffrischen kann. Aber wir hätten das Arschloch nicht davonkommen lassen sollen.«
»Der Streit lohnt sich im Moment nicht für uns.«
Auch diesmal hatte sie das starke Gefühl, dass irgendetwas in der Werkstatt nicht stimmte. Sie glaubte nicht, dass Chrille in unmittelbarer Verbindung zum Valby-Mann oder zu Annikas Verschwinden stand. Für die Mordnacht hatte er ein Alibi, und über den Streit an dem Abend schien er die Wahrheit gesagt zu haben. Immerhin hatten sie jetzt einen Namen. Und Stefan Mårtensson stand ganz oben auf ihrer Liste von Personen, mit denen sie unbedingt sprechen mussten.
»Jöns«, formte Marie mit dem Mund und reichte Tess das Handy. »Es ist dringend.«
»Wo seid ihr?«, fragte Jöns.
»Unterwegs, um was rauszufinden«, sagte Tess.
»Zwei Familien in Oxie haben am frühen Morgen einen Mann mit Sturmhaube um die Häuser streichen sehen. Ein Fahrrad war auch im Spiel. Wir brauchen Leute dort. Alle müssen zurück.«