Der Einsatz in Oxie wurde abgeblasen. Nachdem die Polizei einen Handwerker auf einem Fahrrad festgenommen hatte, war klar, dass es sich um einen weiteren Fehlalarm gehandelt hatte.
»Die Telefonzentrale stellt derzeit zehn solcher Anrufe pro Tag zu uns durch«, erklärte Jöns in der Morgenrunde.
Die tägliche Pressekonferenz überließ er inzwischen dem Pressesprecher, der den Eindruck vermitteln musste, dass die Situation unter Kontrolle wäre und sie stetig Fortschritte machten. Damit gab sich die Presse natürlich keineswegs zufrieden und begann stattdessen, ihre Internetseiten und Programme mit eigenen Spekulationen und Interviews mit aufgebrachten Einwohnern zu füllen. Erst heute Morgen hatte der Justizminister die Situation in Malmö und Umgebung als »höchst alarmierend« bezeichnet.
»Ja, und wo ist die Hilfe, die du uns zugesagt hast?!«, hatte Makkonen geflucht, als er die Pressemeldung vorlas.
Tess ging in die Garage hinunter. Weiterarbeiten war jetzt das Einzige, was sie tun konnten. Marie hatte sich am Morgen krankgemeldet, und Tess ertappte sich dabei, darüber fast ein bisschen erleichtert zu sein.
Es wurde Zeit, mit Stefan Mårtensson über seinen mutmaßlichen Streit mit dem Valby-Mann zu reden.
Eine Frau mit blondiertem Haar öffnete ihr die Tür. Rickard hatte nicht übertrieben, was den protzigen Palast seines Bruders in dem kleinen Dorf Vik anging.
Tess zeigte ihren Dienstausweis.
»Polizei Malmö. Ich suche Stefan Mårtensson, bin ich hier richtig?«
Die Frau, von der sie annahm, dass es Stefans Frau Frida war, versuchte, Tess über die Schulter zu blicken.
»Oh, ist was passiert?«
»Nein, nein. Wir würden nur gern ein paar Aussagen von früher überprüfen.«
Frida zerrte die beiden Golden Retriever zur Seite, die Tess eifrig begrüßten. Weiter hinten im Flur unterhielten sich zwei Männer. Tess erkannte Stefan, den gut gebauten Blonden.
»Ja, also man wird ja schon ein bisschen nervös, wenn plötzlich die Polizei vor einem steht.«
Stefans Frau lachte angestrengt.
»Stefan, Besuch für dich.«
Tess hörte Kinderrufen und Lärmen weiter drinnen. Stefan und der andere Mann kamen auf sie zu.
»Kommen Sie doch bitte rein«, sagte die Frau und schloss die Haustür hinter Tess.
Tess begrüßte Stefan Mårtensson und entschuldigte sich noch einmal, dass sie es nicht geschafft hatte, vorher anzurufen.
»Haben Sie einen Moment Zeit?«
Stefan schaute kurz auf die Uhr und nickte.
»Auf jeden Fall. Das ist übrigens mein Vater.«
Tess gab dem Mann die Hand. Seine leicht schräg stehenden Augen erinnerten sie an Fotos von Rickard, die sie in der Ermittlungsakte gesehen hatte.
»Ist er mal wieder zu schnell über die Landstraße gerast?«, fragte Dan Mårtensson und lächelte.
»Nein.« Tess lachte. »Nicht dass ich wüsste. Ich würde Ihnen nur gerne ein Bild zeigen.«
Stefans Handy klingelte, er entschuldigte sich und ging nach nebenan.
Tess hielt das Phantombild des Valby-Mannes hoch.
»Kennen Sie diesen Mann?«
Dan Mårtensson nahm die Zeichnung an sich und drehte sie in der Hand.
»Kommt mir bekannt vor … Sollte ich ihn schon mal gesehen haben?«
Tess erklärte, wer der Mann war und dass er sich möglicherweise zum Zeitpunkt von Annikas Verschwinden in der Gegend aufgehalten habe. Außerdem wisse sie relativ sicher, dass er ein paarmal in der Werkstatt in Gärsnäs gewesen sei.
Dan Mårtensson schüttelte den Kopf.
»Kann sein, dass ich ihn dort gesehen habe, aber sicher bin ich mir nicht. Es ist lange her, und dort gingen die Leute ein und aus.«
»Verstehe. Ihr anderer Sohn, Rickard, wie geht es ihm inzwischen?«
Dan seufzte.
»Ziemlich schlecht, fürchte ich. Er hängt wieder an der Flasche. Hatte ein paar nüchterne Perioden, aber dann fing es wieder von vorne an. Traurig das alles, ist auch nicht leicht, ihm da rauszuhelfen.«
Stefan beendete sein Telefonat und trat wieder zu ihnen.
»Wollen wir?«
Sie verabschiedete sich von Dan Mårtensson und folgte Stefan.
Wände und Möbel waren in Weiß gehalten. Stefan trug ein weißes Hemd und schwarze Jeans, sein Haar war glatt zurückgekämmt. Nur die feinen Fältchen um seine Augen verrieten, dass er bald vierzig wurde.
Er führte sie in einen Raum neben dem großen Wohnzimmer, der ebenfalls weiß gestrichen war. Bilder und Umzugskartons standen an den Wänden entlang auf dem Boden. An der Decke hing ein protziger Kronleuchter. Neben dem Sofa entdeckte Tess ein Ölgemälde von Ernst Billgren.
»Bitte entschuldigen Sie das Durcheinander, wir sind noch nicht ganz fertig geworden. Das Umzugsunternehmen ist am Dienstag gekommen, und mein Vater hat gerade noch den Rest vorbeigebracht. Die letzten fünf Jahre haben wir in Malmö gewohnt, aber dann haben wir Heimweh bekommen, die Kinder sollten lieber hier aufwachsen.«
Stefan hatte seinen Österlen-Dialekt abgelegt und sich ein etwas neutraleres Schonisch zugelegt. Tess hatte in den Vernehmungsprotokollen gelesen, dass die Familie von Ystad nach Malmö gezogen war, als das Maklerbüro, für das Stefan arbeitete, expandierte und er Bürochef geworden war.
Sie setzte sich auf einen weißen Sessel, und Stefan nahm ihr gegenüber Platz.
»Sie können sich wahrscheinlich denken, worüber ich mit Ihnen reden möchte?«
Stefan schlug die Beine übereinander und lächelte mit gebleichten Zähnen.
»Ich nehme an, es hat mit Annika zu tun. Warum sollte die Polizei uns sonst besuchen? Oder sind wir vielleicht zu schnell gefahren?«
Er zwinkerte Tess zu.
Tess erzählte von der Spur, die aufgetaucht war und die den Valby-Mann mit Annikas Verschwinden in Verbindung brachte.
»Ja, von dem Auto habe ich gehört«, sagte Stefan.
»Wir haben ziemlich eindeutige Hinweise darauf, dass er sich hier in der Gegend aufhielt, als Annika verschwand.«
Stefan nickte.
»Seltsam, dass sich niemand an ihn erinnern kann«, sagte Tess.
Sie griff nach ihrer Tasche und zog noch einmal das Phantombild heraus.
»Eines der Opfer, das letzte Woche in Malmö überfallen wurde, hat uns geholfen, dieses Bild zu erstellen.«
Sie reichte es Stefan.
»Es ist noch nicht ganz fertig, wir glauben, dass er verschiedenfarbige Augen hat, das eine blau, das andere eher bräunlich.«
Stefan Mårtensson nahm sich Zeit und musterte das Bild eingehend.
»Was ist das da auf seinem Kopf?«
Tess erklärte, was das Opfer über den Pigmentfleck gesagt hatte.
»Da war einer …«
Stefan versank erneut in der Betrachtung des Bildes, als die angelehnte Tür sich öffnete und Frida hereinschaute.
»Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee?«
Tess schaute auf die Uhr.
»Für mich nicht mehr, danke.«
»Däne, oder?«, fragte Stefan, als seine Frau wieder gegangen war. »Ja, also das habe ich aus den Nachrichten. Der Mann, an den ich mich erinnere, war ebenfalls Däne. Er trieb sich relativ häufig in Chrilles Werkstatt herum. Haben Sie den schon gefragt?«
Tess nickte.
»Können Sie sich vielleicht an den Namen des Mannes erinnern?«
Stefan zögerte.
»Damals hatte er längeres Haar, so bauschig.«
Er deutete auf den Kopf.
»An diesen Fleck kann ich mich gut erinnern. Der Typ wurde Silver genannt, soweit ich mich erinnere.«
»Wie würden Sie ihn beschreiben?«
»Das mit den Augen stimmt, man bemerkte es aber nur von Nahem, es sah ein bisschen seltsam aus.«
»Wie war er als Person?«
»Ebenfalls seltsam. Er konnte nett sein, aber auch streitlustig, wenn er getrunken hatte. Wie die Dänen eben so sind. Ich erinnere mich, dass wir uns wegen etwas in die Wolle kriegten, was er über Frauen gesagt hatte. Etwas Abwertendes, aber ich erinnere mich nicht mehr genau daran.«
»Über Frauen?«
»Ja, er hatte da eine merkwürdige Einstellung, zumindest wenn er getrunken hatte. Bezeichnete Frauen als Schlampen und so weiter. Das scheint ja ganz gut zu dem zu passen, was man über ihn liest, oder?«
»Und Sie haben sich also gestritten?«
»Ja, ich glaube, ich sagte ihm, er solle verschwinden.«
Stefan lachte. Er nahm eine Snus-Tabakdose heraus und steckte sich eine Portion unter die Oberlippe.
»Es ist lange her. Aber ich weiß noch, dass es Sommer war.«
»Wann genau war das?«
Stefan schüttelte den Kopf.
»Keine Ahnung, aber vielleicht fällt es mir wieder ein.«
»Wie endete der Streit?«
»Er griff mich an. Ein paar andere gingen dazwischen, dann verschwand er. Wir waren alle nicht besonders nüchtern an dem Abend.«
»Fiel in diesem Zusammenhang Annikas Name?«
Stefan sah aufrichtig überrascht aus.
»Nein, nein, sie war ja nie dort. Kann mir nicht vorstellen, dass sie und der Däne sich kannten. Sie war überhaupt nicht der Typ, der etwas mit solchen Leuten zu tun hatte. Annika war eher brav, ein nettes, fröhliches Mädchen. Glauben Sie, er hat sie getötet?«
»Im Augenblick versuchen wir nur, eventuellen Verbindungen nachzugehen«, sagte Tess. »Kannten Sie Annika gut?«
»Nein, das würde ich nicht sagen. Ich kannte sie von der Schule, mehr nicht. Rickard war total in sie verknallt, und sie hatten anscheinend sogar kurz was miteinander. Mehr lief da aber auch nicht. Sie war eine Nummer zu groß für ihn, wenn man das so sagen darf.«
Tess nickte.
»Wer war noch an dem Abend dabei, als Sie aneinandergerieten?«
»Rickard könnte dabei gewesen sein, aber er war wahrscheinlich zu besoffen, um sich an irgendetwas zu erinnern.«
»Und sonst?«, fragte Tess. »Annikas Bruder, Axel?«
»Möglich, es waren etwa zehn Leute da. Aber soweit ich mich erinnere, kannte niemand diesen Silver. Er war nur vorübergehend in der Gegend, weiß nicht, was er sonst machte oder ob er einen Job hatte. In Chrilles Werkstatt konnten wir abhängen. Man fuhr mit dem Auto vorbei, quatschte, trank vielleicht auch mal ein Bier. Alte, Junge, ganz verschiedene Leute. Und keiner, mit dem ich heute noch Kontakt hätte.« Er hob die Hände.
»Haben Sie sich immer schon für Autos interessiert?«
»Nein, auch damals nicht. Mein Vater und seine Kumpel schraubten gern. Es gab aber nicht viel hier, und so lungerten wir halt dort rum. In Österlen brauchte man ein Auto, um sich fortzubewegen, und dort konnte man es reparieren, wenn es nötig war.«
»Wie ist die Beziehung zwischen Ihnen und Ihrem Bruder heute?«
Stefan seufzte.
Die Tür öffnete sich erneut, und ein kleiner Junge in einem weißen Schlafanzug mit roten Autos kam auf einem ebenfalls weißen Dreirad hereingefahren.
»Papa ist noch beschäftigt, fahr mal wieder raus und mach die Tür zu.«
Gehorsam fuhr der Junge aus dem Zimmer.
Stefan legte noch eine Portion Tabak nach.
»Wie Sie sicher wissen, ist mein Bruder Alkoholiker. Es waren verdammt schwierige Jahre. Wir haben nicht viel Kontakt, und ehrlich gesagt war er der Hauptgrund, weshalb ich gezögert habe, wieder hierherzuziehen.«
»Kannte er diesen Silver ebenfalls?«
»Ich glaube nicht, dass er sich sonderlich gut an die Zeit damals erinnert. Aber fragen Sie ihn doch. Wenn er betrunken ist, ruft er mich manchmal an, regt sich über irgendetwas auf, verwickelt sich in merkwürdige Argumentationsketten und behauptet, dass ich ihm Geld schulde. Sie verstehen schon.«
Tess nickte. Sobald er über seinen Bruder sprach, verfiel er wieder in seinen alten Österlen-Dialekt.
Er beugte sich vor und faltete die Hände.
»Obwohl es keinerlei Beweise gegen ihn gab, war ihm die Polizei ständig auf den Fersen. Es kam einem manchmal vor, als hätten sie sich auf ihn eingeschossen. Und ich glaube, viele seiner Probleme begannen damit. In einer kleinen Stadt wie Simrishamn wissen alle alles voneinander, und wenn man da Pech hat, kann es die Hölle sein.«
»Sie meinen, er ist deshalb Alkoholiker geworden?«
»Es hat zumindest dazu beigetragen.«
»Was halten Sie selbst von den Vorwürfen, die gegen ihn erhoben wurden?«
Stefan hob eine Augenbraue.
»Wer möchte so etwas von seinem kleinen Bruder denken?«
»Nein, schon klar, es muss eine schwierige Zeit für Sie alle gewesen sein.«
»Natürlich fragt man sich trotzdem … Da gibt es Dinge, die später passiert sind, als seine Persönlichkeit sich veränderte. Es heißt, er habe die Tat im Suff einmal gestanden. Vielleicht habe ich ihn nie wirklich gekannt …«
»Hat er je mit Ihnen darüber gesprochen?«
»Sobald man versuchte, darüber zu reden, fuhr er gleich die Stacheln aus, wurde wütend und überschüttete einen mit Vorwürfen. Hätte unser Vater ihm kein Alibi gegeben, ja, dann wäre er wahrscheinlich eingelocht worden.«
»War das der Grund, weshalb Sie von hier weggezogen sind? Rickard und alles, was dann passierte?«
Stefan nickte.
»Zumindest war das ein Grund. Außerdem war ich den ganzen Dreck so leid. Im Grunde weiß man es jetzt erst wieder zu schätzen: die Natur, das Meer … Jetzt, wo ich nicht mehr hier festsitze, sondern es mir selbst aussuchen kann.«
Tess stand auf und ging zu den Bildern hinüber.
»Sie sind kunstinteressiert?«
»Ja, ich kaufe und verkaufe ein bisschen.«
Stefan zeigte auf das Gemälde einer Frau mit großen Augen und bunten Schmetterlingen im Haar.
»Das ist Carolina Gynning, eine Freundin von mir aus Malmö.«
»In der Nacht, in der Annika verschwand«, sagte Tess, »haben Sie bei einem Kumpel übernachtet, der sich aber nicht richtig daran erinnern konnte.«
Stefan stand auf und schloss die Tür zum Flur.
»Ja, ich habe bei einem Kumpel übernachtet, aber er wollte nicht in die Sache hineingezogen und verhört werden.«
»Warum?«
»Er hatte ein paar krumme Dinger gedreht, Diebstahl, ein paar Drogen, nichts Größeres. Aber er hatte Angst, die Polizei könnte sich auch dafür interessieren. Deshalb behauptete er, er könne sich nicht so gut erinnern. Nicht besonders clever, aber ich konnte ihn ja schlecht zwingen. Eigentlich spielte es auch keine Rolle, ich wusste ja, dass ich unschuldig war.«
»Wie heißt dieser Kumpel?«
»Roger Andersson, er ist inzwischen tot, starb vor zehn Jahren bei einem Motorradunfall in Fågeltofta.«
»Und die Polizisten, die Sie verhört haben, gaben sich damit zufrieden?«
»Sie bohrten noch ein bisschen nach, aber eigentlich interessierten sie sich vor allem für Rickard.«
Grottenschlechte Polizeiarbeit, dachte Tess, dass sie sein Alibi nie wirklich überprüft haben.
»Ich habe kürzlich noch mal die Ermittlungsprotokolle gelesen. Sie hatten jede Menge Zeitungsausschnitte über Annikas Verschwinden gesammelt und aufbewahrt, stimmt das?«
Stefan runzelte die Stirn.
»Hm, ja, vielleicht hatte ich da ein paar Zeitungsstapel herumliegen, man las ja viel darüber. Aber aufbewahrt – ich glaube, so würde ich es nicht nennen. Eher war ich damals ein bisschen chaotisch, hatte es nicht so mit dem Aufräumen.«
»Mhm, dann stimmt das also nicht.«
Stefan rutschte auf dem Stuhl herum.
»Es erscheint mir zumindest übertrieben.«
Durch das Fenster sah Tess, dass die Außenbeleuchtung eingeschaltet worden war. Es dämmerte bereits.
»Etwa einen Monat vor dem Schulabschluss waren Annika und die anderen aus ihrem Jahrgang auf einer Freizeit in Blekinge Skärgård. Ich habe gehört, dass ein paar ehemalige Schüler als Betreuer dabei waren. Sie auch?«
Stefan lächelte entwaffnend.
»Ja, ich war auch dabei. Ich erinnere mich, dass das Wetter fantastisch war, man kam sich vor wie auf einer griechischen Insel.«
»Ist Ihnen dort im Zusammenhang mit Annika etwas aufgefallen?«
Stefan überlegte.
»Ich erinnere mich nur, dass sie oft Volleyball gespielt hat. Sonst eigentlich nichts.«
Stefan versprach, sich zu melden, falls ihm noch etwas einfiel. Auf dem Weg nach draußen begegnete Tess seiner Frau und bedankte sich, dass sie hatte stören dürfen.
Draußen füllte sie ihre Lunge mit frischer kalter Österlen-Luft. Eine feine Frostschicht hatte sich über ihren schwarzen Volvo gelegt. Sie stampfte mit den Füßen, um warm zu bleiben. Mondlicht erhellte die Felder rund um das Haus. Es war vollkommen windstill – ein scharfer Kontrast zu Sturm Rut.
Aus der Ferne war der düstere Ruf eines Waldkäuzchens zu hören. Sie blickte zu Stefans Haus hinauf, sah das warme Licht, das aus den Fenstern strömte. Zum ersten Mal seit vielen Jahren lebten die Brüder Mårtensson nicht weit voneinander entfernt. Doch zwischen ihren Leben lagen Lichtjahre. Beim Anblick dieses Hauses musste Rickard sein eigenes, grandioses Scheitern umso heftiger empfunden haben. Wer konnte es ihm verdenken?
Tess schaute auf das Meer hinaus, lauschte der Brandung der Ostsee, die bis zu der kleinen Anhöhe in Vik zu hören war, auf der Stefan sein Haus gebaut hatte.
Sie warf einen letzten Blick auf die große weiße Villa. Stefan war ein aalglatter Typ, das machte sich als Makler bestimmt gut. Irgendetwas stimmte nicht an seinem Alibi. Und wie praktisch, dass sein Freund Roger inzwischen tot war. Sie öffnete die Autotür und fuhr in die Dunkelheit hinaus.