Als Tess die Haustür in Västra Hamnen öffnete, roch es drinnen leicht nach Zigarettenrauch. Langsam ging sie die Treppe hinauf.
Es war nach zehn Uhr abends, und ihre Beine schmerzten vor Müdigkeit. Im zweiten Stock blieb sie vor ihrer Wohnungstür stehen. Der Steinboden war feucht, und sie sah, dass fremde Fußspuren die Treppe hinauf bis zu ihrer Wohnungstür führten. Sie ging in die Hocke. Direkt vor der Tür zeichnete sich schwach ein Turnschuhprofil ab. Sie lauschte. Aus ihrer Wohnung drang kein Geräusch. Bei ihrem Nachbarn dagegen lief der Fernseher. Langsam ging sie die Treppe zum Dachboden hinauf, um zu kontrollieren, ob dort alles in Ordnung war. Als sie wieder vor ihrer Wohnungstür stand, steckte sie den Schlüssel ins Schloss und hörte das Geräusch von Hundepfoten im Flur.
Chilli sprang an ihr hoch und winselte glücklich.
»Schsch, braver Hund«, sagte Tess und streichelte ihm den Kopf. »Bist ein Feiner, aber als Wachhund nicht zu gebrauchen.«
Die Lampe neben dem Sofa brannte, ansonsten war die Wohnung dunkel. An der Tür standen Elenis Stiefel.
Tess hängte ihre Daunenjacke auf, zog sich die Schuhe aus und setzte sich auf das Sofa. Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich zurück. Dachte über die Spuren im Treppenhaus nach. Wieder hatte jemand dort geraucht. Hatte Eleni Besuch gehabt? Im Kopf ging sie rasch ihren Freundeskreis durch, doch ihr fiel niemand ein, der es gewesen sein könnte. Chilli sprang zu ihr hinauf und rollte sich neben ihr zusammen.
Plötzlich sprang die Schlafzimmertür auf.
»Hallo Eleni, ich dachte, du schläfst?«
»Chillis Bellen hat mich geweckt.«
Elenis Haar war zerzaust. Schlaftrunken ging sie ins Bad.
Tess sah Chilli an.
»Du hast doch gar nicht gebellt.«
Eleni kam wieder aus dem Bad, und Tess sah sofort, dass sie sauer war.
»Was ist los?«
Eleni zuckte die Achseln.
»Warst du bis jetzt noch im Dienst?«
»Ja, und es wird wohl noch eine Weile abends spät werden.«
»Hast du wirklich die ganze Zeit gearbeitet? Du antwortest nicht auf meine
SMS
.«
»Was meinst du damit?«
Eleni verschränkte die Arme.
»Ihr hattet wieder Kontakt. Du und Angela.«
Tess antwortete nicht, sie überlegte rasch, was Eleni gesehen haben könnte.
»Du solltest vorsichtiger sein mit deinem Facebook-Account, er öffnet sich auf dem iPad immer als Erstes.«
Elenis Augen waren kohlschwarz. Etwas war im Gange.
»Meine Güte …«, begann Tess.
»Meine Güte?«, schrie Eleni.
Sie riss ein Kissen vom Sofa und schleuderte es quer durchs Zimmer.
Tess stand auf und hob die Hände.
»Ich habe keine Lust auf Streit, okay?«
Eleni antwortete nicht. Ihr Augen verengten sich zu Schlitzen.
Tess ging Richtung Badezimmer, doch Eleni folgte ihr.
»Du hältst das mit mir für Selbstverständnis.«
Selbstverständlich, dachte Tess.
»Aber eigentlich sehnst du dich die ganze Zeit nur nach Angela und trauerst ihr hinterher. Jeden Tag. Glaubst du, ich merke das nicht? Denkst du auch beim Sex immer nur an sie?«
Bevor Tess reagieren konnte, packte Eleni sie an den Armen und stieß sie gegen die Wand, sodass sie mit dem Kopf dagegenschlug und es ihr vor den Augen flimmerte. Eleni hielt drohend die weiße Fernbedienung hoch und presste Tess gegen die Wand.
»Du bist einfach nur eine blöde Kuh«, fauchte sie. »Weißt du, wie sich das anfühlt, dass du eigentlich mit jemand anderem zusammen sein willst? Trefft ihr euch?«
»Nein.«
»Das glaube ich dir nicht.«
Tess versuchte, sich zu befreien, aber Eleni war überraschend stark. Sie schubste Tess erneut gegen die Wand.
»Jetzt mal sachte, leg das weg«, sagte Tess mit Blick auf die Fernbedienung.
»Von wegen sachte! Du behandelst mich wie den letzten Dreck!«
Chilli sprang vom Sofa, legte den Kopf schief und winselte.
»Es ist nicht, wie du denkst, ich …«
Ein Schlag mit der Fernbedienung traf sie am Wangenknochen, direkt unter dem Auge. Als Tess die Hand hob, schlug Eleni ihr mit voller Kraft gegen das rechte Ohr. Tess rutschte auf den Boden.
»Du hast mich gar nicht verdient«, brüllte Eleni und warf die Fernbedienung quer durchs Zimmer gegen die Lampe, sodass der Schirm herunterfiel. Dann lief sie ins Schlafzimmer, wo sie die Tür hinter sich zuknallte.
Chilli legte die Nase auf Tess’ Knie und winselte. Sie strich ihm über das Fell. »Schon okay, ist schon okay.«
Langsam stand sie auf und stützte sich an der Wand ab, atmete tief aus. In ihrem Ohr rauschte es, es fühlte sich an, als habe das Trommelfell etwas abbekommen. Auch ihr Hinterkopf schmerzte.
Sie ging ins Bad und raffte Zahnbürste und Handtuch zusammen, nahm ein paar Dinge aus dem Spiegelschrank und wühlte eine Jeans und einen Pullover aus dem Wäschekorb.
Im Wohnzimmer riss sie im Vorbeigehen ein Kissen vom Sofa und stopfte alles in eine Tasche, dann zog sie sich Jacke und Schuhe an.
Die Schlafzimmertür ging auf, und Eleni stürmte heraus.
»Wohin gehst du?«
Sie stieß Tess Richtung Tür.
»Du gehst nirgendwohin, verstanden? Willst du zu ihr, ja, ist es das, was du willst?«
Tess packte Elenis Arm und nahm sie in den Polizeigriff.
»Lass mich los!«
Tess schob sie vor sich her und stieß sie aufs Sofa. Als Eleni Widerstand leistete, beugte sie sich über sie und drückte sie herunter.
»Ich gehe jetzt. Und wenn ich morgen Abend wiederkomme, bist du weg. Verstanden?«
Eleni lag ganz still. Sie zitterte.
»Ich melde mich und sage dir Bescheid, wann du dein Zeug abholen kannst.«
Mit schnellem Schritt ging sie zur Wohnungstür, wo Chilli wartete. Er sah sie an und wedelte mit dem Schwanz, hoffte wohl, sie würde ihn mitnehmen. Sie hob ihn hoch und drückte ihn zum Abschied fest an sich.
Der Wachhabende an der Rezeption des Präsidiums nickte nur zerstreut, als die Chefin des Cold-Case-Teams ihre Karte durch das Lesegerät zog, obwohl es schon elf Uhr abends war. Das Kissen mit der Bulldogge darauf, das sie unter dem Arm trug, bemerkte er vermutlich gar nicht.
Tess nahm den Aufzug zur Abteilung Gewaltverbrechen im zweiten Stock. Sie hoffte inständig, nicht mit Kollegen zusammenzustoßen, die Überstunden machten. Zu ihrer Erleichterung war der Flur menschenleer, nur in zwei Diensträumen brannte noch Licht, weil jemand vergessen hatte, es auszuschalten.
Tess betrat den
CC
-Raum, warf ihre Tasche auf das Sofa, stellte sich ans Fenster und schaute auf die leere Straße hinab.
Der Kopf tat ihr weh. In der Schublade eines Rollcontainers fand sie zwei Blister Schmerztabletten. Sie ging zur Toilette. Im Spiegel entdeckte sie den Bluterguss. Sie drehte den Wasserhahn auf und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser ab.
Ihr Ohr schmerzte ebenfalls, und sie schluckte eine Ibuprofen und zwei Paracetamol. Das blonde Haar hing ihr platt und stumpf herab, und unter einem Auge war die Wimperntusche verlaufen. Sie sah genauso erbärmlich aus, wie sie sich fühlte.
Erschöpft setzte sie sich auf die Toilette und schlug die Hände vors Gesicht. Warum war sie geblieben, warum hatte sie sich dem ausgesetzt, warum hatte sie die Beziehung nicht rechtzeitig beendet?
Irgendwann stand sie auf, wusch sich noch einmal das Gesicht, schnäuzte sich und ging in ihr Büro zurück.
Mit Kissen und Wolldecke machte sie sich ein provisorisches Lager auf dem Sofa zurecht. Wahrscheinlich konnte sie ohnehin nicht schlafen. Eleni hatte ihr geschrieben, aber sie hatte die Nachricht gelöscht und das Handy auf den Couchtisch gelegt. Sie hatte keine Lust auf irgendwelche Reuebekundungen. Beim letzten Mal hatte sie ihr noch geglaubt, hatte gedacht, ihr Anfall sei ein einmaliger – wenn auch inakzeptabler – Ausrutscher gewesen, ein Ausdruck ihres griechischen Temperaments. Damit war jetzt Schluss.
Tess legte sich auf das Sofa und starrte an die Decke. Am besten nutzte sie die Zeit für etwas Sinnvolles. Auf dem Schreibtisch lagen sämtliche Akten der Kopenhagener Ermittlungen zum Valby-Mann.
Eine Weile betrachtete sie sie vom Sofa aus. Dann stand sie auf und sortierte sie neu. Sie setzte sich hin, hüllte sich in ihre Decke und begann zu lesen.
Die Untersuchungen der dänischen Polizei waren solide und umfassten mehrere Tausend Seiten. Sie und Makkonen hatten angefangen, sie zu lesen, waren aber ständig unterbrochen worden.
Was vor ihr lag, waren die gesammelten Geschichten der dreizehn Opfer. Vielleicht entdeckte sie ja einen Zusammenhang zwischen ihnen, etwas, das über ihr Aussehen und ihr Alter hinausging, etwas, das ihr verriet, warum der Valby-Mann gerade diese Menschen ausgewählt hatte, warum er jetzt in Schweden aktiv war.
Tess ackerte sich durch die Protokolle. Christine, Anne-Mette, Monika, Iben, Grete, Cecilie, Linett, Kristen, Boel, Nina, Lene, Rita, Tove. Sie sah die Gesichter der Däninnen vor sich.
Sie alle waren irgendwann zwischen 2000 und 2005 dem Monster aus Valby zum Opfer gefallen.
Sie alle waren Mütter, dunkelhaarig, mittleren Alters, mit Kleinkindern oder Teenagern, genau wie Carsten Morris gesagt hatte. Die meisten von ihren waren berufstätig, verheiratet oder lebten mit jemandem zusammen und waren einigermaßen wohlhabend. Zwei Drittel von ihnen wohnten in frei stehenden Häusern.
In regelmäßigen Abständen blinkte das Display ihres Smartphones auf. Sie drehte es schnell um.
Eine Stunde später stand sie auf, ihr Nacken war verspannt. Sie trat ans Fenster und massierte sich mit einer Hand die schmerzende Stelle. Die Tabletten hatten gegen das Pochen unter ihrem Auge geholfen, aber nicht gegen das Rauschen in ihrem Ohr. Sie blickte auf die leere Straße am Schleusenkanal hinab. Regen schlug gegen das Fensterblech. Ein Nachtbus auf dem Weg nach Staffanstorp fuhr vorbei und verschwand in der Nacht.
Eine Frau, die einen Rollkoffer hinter sich herzog, überquerte die regennasse Straße. Das Rattern der Rollen war bis in den zweiten Stock zu hören.
Tess folgte ihr mit dem Blick. Ganz hinten in ihrem dröhnenden Kopf blitzte etwas auf. Sie schaute der Frau hinterher, bis sie endgültig verschwunden war.
»Reisen«, murmelte sie vor sich hin.
Reisen
.
Aufgeregt lief Tess zum Sofa zurück und ging noch einmal die Berichte der Frauen durch, unterstrich die Passagen, in denen es um die Tage vor dem Überfall ging. Hier lag die Lösung! In jedem Bericht erkannte sie dasselbe Muster. Tess rieb sich die Augen, grimassierte, um sich wach zu halten. Sie holte sich ein Glas Wasser und trank ein paar schnelle Schlucke, den Rest goss sie sich in die Hand und benetzte damit ihr Gesicht.
Sie schrieb die Namen der schwedischen Opfer auf ein Blatt. Linnea. Zwei Tage bevor sie getötet worden war, war sie auf Rhodos gewesen, um eine Hotelanlage zu besichtigen. Am Tag selbst auf Dienstreise in Umeå. Susanne Ek. Am Tag vor dem Überfall war sie mit Freundinnen mit der Åland-Fähre gefahren und anschließend von Bromma nach Sturup geflogen. Josefin, die Frau, die von ihrem Nachbarn in Bunkeflostrand vor dem Überfall bewahrt worden war, war frisch von einer Konferenz in Skellefteå zurückgekommen und hatte sich den Vormittag freigenommen, just an dem Tag, an dem der Valby-Mann morgens versucht hatte, bei ihr einzubrechen.
Alle Opfer waren in den Tagen bevor sie überfallen worden waren, gereist, und zwar mit dem Flugzeug.
Das konnte kein Zufall sein! Plötzlich fühlte Tess sich hellwach. Sie schaute auf ihr Handy. 03:20 Uhr. Sie wollte Carsten Morris anrufen, zögerte jedoch und sah sich stattdessen die dänischen Berichte noch einmal daraufhin an, auf welchen Flughäfen die Frauen damals gelandet waren. In ein paar Fällen war es Kastrup, aber nicht in allen. Sie öffnete die Homepage des Flughafens Sturup. Vierzig Reiseziele insgesamt im vergangenen Jahr, reguläre sowie Charterflüge. Über zwei Millionen Reisende pro Jahr.
Rhodos, Umeå, Bromma und Gotland, alles war dabei. Wenn sie Pech hatte, würde sich herausstellen, dass eine der Frauen in Kastrup gelandet war, dann hielt ihre Theorie nicht stand. Es sei denn, er machte Schichtarbeit an zwei verschiedenen Flughäfen. Aber dann hätte er wahrscheinlich auch dänische Frauen überfallen, nachdem er wieder aktiv geworden war.
Vor nur einer Woche war sie selbst nach der Besprechung mit dem Stockholmer Cold-Case-Team in Sturup gelandet. Es war Nachmittag gewesen, der Flughafen voller Leute, die sich bewegten. Sie sah es deutlich vor sich: die Cafés, die Kioske, ein Restaurant. Das Sicherheitspersonal, diverse Reinigungskräfte, die Leute am Check-in. Es gab viele Orte, an denen man sich verstecken konnte. Vielleicht war sie an dem Nachmittag sogar an ihm vorbeigegangen.
Tess löschte das Licht, legte sich hin und starrte erneut an die Decke.