»Wir haben jetzt also einen Namen«, sagte Lundberg.
Abgesehen vom Quietschen seines Filzstifts auf dem Whiteboard war es mucksmäuschenstill. Lundberg stand kerzengerade da, und zum ersten Mal meinte Tess eine leichte Röte in seinem Gesicht wahrzunehmen, eine Andeutung von Stolz und Erregung.
Er zeigte auf die Eckpunkte, die er notiert hatte.
»Däne. Dreiundfünfzig Jahre alt. Reinigungskraft. Zeitarbeit über die Rena
AB
. Davor arbeitete er als Wachmann und Reinigungskraft auf dem Flughafen Kastrup. Seine nächste Schicht ist morgen, Montag, fünfzehn bis dreiundzwanzig Uhr auf dem Flughafen Sturup.«
Feierlich schrieb Lundberg den Namen auf und unterstrich ihn zweimal.
»Noel Eriksen.«
»Bravo, Lundberg«, rief Marie von ihrem Platz aus.
Das mühsame Durchforsten der Personallisten vom Flughafen hatte sich also gelohnt. In der Nacht hatte der Personalbeauftragte der Reinigungsfirma Rena
AB
Lundberg den Namen und die weiteren Angaben gemailt.
»Bei den dänischen Behörden ist er allerdings unter diesem Namen nicht gemeldet«, ergänzte Lundberg.
»Kann es sein, dass er unter falschem Namen arbeitet? Wird so etwas vor der Einstellung nicht überprüft?«, fragte Makkonen.
»Sie scheinen es mal so, mal so zu halten. Ebenso was die Art der Anstellung betrifft. Als ich um die Personallisten bat, wurden sie da draußen teilweise ganz schön nervös.«
Lundberg lächelte.
Es war acht Uhr morgens, Jöns hatte Tess, Marie, Lundberg und Makkonen einbestellt, nachdem Lundberg den Namen erfahren hatte.
»Alle Informationen bleiben erst mal in diesem kleinen Kreis«, hatte Jöns erklärt.
Tess sah sich um.
»Was ist mit Rafaela?«
»Krank«, sagte Makkonen.
Marie lehnte sich zu Tess hinüber und flüsterte: »Verdammt, wie sollen wir es ohne sie nur schaffen?«
»Ein Foto hatten sie natürlich nicht von diesem Noel Eriksen?«, fragte Tess an Lundberg gewandt.
»Leider nicht. Wir haben heute Nacht telefoniert, und laut Aussage des Personalbeauftragten trägt dieser Däne immer ein Basecap, daher konnte er uns auch den Pigmentfleck im Haar nicht bestätigen. Soll ich ihn bitten, noch mal mit den Kollegen zu sprechen?«
»Nein«, sagten Tess, Makkonen und Jöns wie aus einem Mund.
»Szymuks Phantombild konnte ich ihnen bisher noch nicht vorlegen, ich wollte nicht, dass es allzu lang in ihrem Mailsystem herumgondelt.«
»Sehr gut, Lundberg«, sagte Marie. »Endlich mal einer, der an die undichten Stellen denkt.«
»Handy?«
»Kein in Schweden registriertes. Die dänische Polizei überprüft die Telia und andere Anbieter. Aber darauf sollten wir nicht setzen, er benutzt wahrscheinlich ein Prepaid-Handy.«
Jöns stand auf.
»Vieles deutet darauf hin, dass das unser Mann ist.« Er ging zum Whiteboard, an dem eine Karte vom Flughafengebiet hing. »Wir werden morgen Nachmittag zugreifen. Vorher treffen wir uns um zehn hier zur Lagebesprechung. Makkonen, Marie und ich fahren jetzt gleich raus und sehen uns das Gelände an.«
Tess legte die Füße auf den Stuhl vor sich.
»Ich komme mit.«
»Auf keinen Fall«, sagte Jöns.
Tess blickte überrascht auf.
»Wenn es tatsächlich der Valby-Mann ist und wenn er sich aus irgendeinem Grund heute auch auf dem Flughafen befindet, erkennt er dich sofort.«
Tess konnte sich auf keinen Fall vorstellen, hier herumzusitzen und zu warten, jedenfalls nicht während des eventuellen Zugriffs morgen.
Jöns beschrieb mit dem Stift einen Kreis über der Flughafenkarte.
»Ich bin der Meinung, wir sollten das morgen allein durchziehen. Vielleicht noch mit zwei oder drei Kolleginnen und Kollegen von der Spezialeinheit vor Ort als Verstärkung.«
»Mehr nicht?«, fragte Makkonen.
»Je größer der Einsatz, desto größer das Risiko aufzufliegen. Wenn wir den geringsten Verdacht bei ihm wecken, haben wir unsere Chance vertan, und das vielleicht für immer.«
Jöns klopfte auf die Karte.
»Es ist ja trotz allem ein recht kleines Gebiet. Ein Terminal, acht Gates. Wenn wir uns vorher genau über seine Gewohnheiten, seine Ausrüstung und seine eventuellen Kontakte mit Kollegen und so weiter informieren … Ich glaube, dann schaffen wir es mit ein paar Leuten von der Spezialeinheit, vielleicht auch von der Lokal- oder der Flughafenpolizei. Alle in Zivil, natürlich.«
»Hast du das mit den Chefs ganz oben abgesprochen?«, fragte Makkonen säuerlich. »Ich meine, wenn es schiefgeht und er entkommt, können wir uns alle bei der Landesregierung bewerben.«
»Ich spreche das natürlich vorher ab. Drei Beamte arbeiten auf dem Flughafen. Mit deren Teamchef, Andreas Heed, nehme ich Kontakt auf.«
Marie lachte spöttisch.
»Ist es nicht ein bisschen risky, Sturup einzubeziehen? Sind die da nicht ein bisschen wie Kling und Klang bei Pippi Langstrumpf? Normalerweise haben sie schließlich vor allem mit Reisenden zu tun, die unter Flugangst leiden oder zu viel getrunken haben.«
Jöns steckte sich ein Kaugummi in den Mund.
»Es sind die einzigen Ressourcen, die wir haben, es muss reichen. Sie können uns zumindest dabei helfen, das Gelände zu überwachen.«
Auf dem Tisch lag eine detaillierte Skizze des Flughafengebäudes mit den Wartesälen, Gepäckbändern, den Toiletten im Keller, den Läden und Restaurants, der Sicherheitskontrolle, dem Check-in, den acht Gates, den Schaltern der Fluggesellschaften und den Lounges.
Sie diskutierten verschiedene Strategien. Wo befanden sich die Eingänge? Mit welchem Verkehrsmittel würde der Valby-Mann voraussichtlich zur Arbeit kommen? Sein direkter Vorgesetzter schien jedenfalls nichts über seine Gewohnheiten zu wissen.
Per Jöns hielt alles fest.
»Ziel des Einsatzes ist es, ihn zu fassen. Sturup ist ein extrem gut gesichertes Gebiet. Wir wollen ihn möglichst erwischen, bevor er das Gebäude betritt.«
»Wir wissen nicht, wann er üblicherweise zur Arbeit erscheint und wie er dorthin kommt«, sagte Tess. »Mit dem Auto? Dem Flughafenbus? Dem Fahrrad? Fährt er bei Kollegen mit? Der normale Linienbusverkehr fährt Sturup gar nicht an, oder?«
»Nein«, sagte Lundberg. »Entweder man nimmt den Flughafenbus, ein Taxi oder das Auto. Die Busse fahren relativ häufig, und zwar sowohl von Malmö als auch von Lund aus. Sein Chef sagt, unser Mann ist immer pünktlich.«
»Du hast doch mit Morris gesprochen, Tess? Kannst du ihn nicht noch fragen, was er glaubt?«
»Ich erreiche ihn nicht, obwohl ich es schon seit Tagen versuche.«
»Der Kerl ist ja wirklich eine große Hilfe«, knurrte Makkonen.
Marie verdrehte die Augen.
»Ich würde nicht davon ausgehen, dass er mit jemandem zusammen fährt«, sagte Tess. »Er scheint eher ein Einzelgänger zu sein. Taxi klingt unwahrscheinlich, und zur Zeit der Verbrechen in Kopenhagen wurde nie ein Auto erwähnt, es war immer nur die Rede von Fahrrädern.«
»Vor sechzehn Jahren scheint er aber immerhin einen Führerschein gehabt zu haben und einen weißen Ford gefahren zu sein«, sagte Marie. »Ganz ausschließen können wir es also nicht.«
»Sonst bleibt nur der Flughafenbus«, sagte Jöns und sah Lundberg an.
»Der aus Malmö kommt um 14:45 Uhr an. Der Bus aus Lund fünf Minuten später.«
»Dann nehmen wir das mal als Arbeitshypothese.«
»Ja, oder er kommt tatsächlich mit dem Fahrrad«, sagte Marie. »Bisher wurde er immer nur auf einem Fahrrad gesehen, oder?«
Makkonen schüttelte den Kopf.
»Wer würde jeden Tag den Weg nach Sturup mit dem Rad fahren?«
»Wer würde fünfzehn Frauen vergewaltigen und eine davon an einem stürmischen Morgen am Strand mit einem Baseballschläger erschlagen?«, konterte Marie.
Per Jöns sagte dazu nur, dass sie die Details in der Lagebesprechung am nächsten Morgen festlegen würden.
»Dann legen wir auch fest, wo wir uns postieren. Wir brauchen mindestens jeweils zwei Leute an den drei Eingängen. Ich kümmere mich darum, die entsprechenden Leute zu organisieren.«
»Viel Glück dabei«, sagte Marie. »Ach übrigens …« Sie hielt ihr Handy hoch. »Es gab eine Schießerei in Seved, vor einer Stunde. Zwei schwedische Akademiker mittleren Alters aus Lund, die sich an den Kragen gegangen sind.«
Die anderen sahen sie an.
»Ja, was ist daran jetzt so komisch?«
Tess blieb nach der Sitzung noch, um mit Jöns zu reden.
»Ich muss morgen dabei sein. Du kannst mich doch nicht ausschließen, nur weil er bei mir eingebrochen ist.«
»Das würde mir nicht einfallen«, sagte Jöns. »Mir ist völlig bewusst, dass wir diese Chance einzig und allein dir zu verdanken haben. Ich weiß das zu schätzen, auch wenn ich es bisher vielleicht nicht so gezeigt habe. War ein bisschen viel die letzten Tage.«
Zum ersten Mal an diesem Morgen lächelte er. Lundbergs Erfolg mit den Personallisten hatte ihn merklich erleichtert. Endlich hatten sie etwas Konkretes, dem sie nachgehen konnten.
»Was macht dein Auge?«, fragte er.
»Ach, geht schon.«
»Ich habe das Interview in der
Sydsvenskan
gelesen, gute Story«, sagte er. »Du hättest natürlich auch das erzählen können, was du uns aufgetischt hast, dass das Veilchen von einem Einsatz stammt. So war es aber nicht, oder?«
Er legte eine Hand auf ihre Schulter.
»Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst oder in Schwierigkeiten bist, ja?«
Tess lachte und winkte ab.
»Ich lüge nie, wenn ich im Dienst bin. Wie machen wir es morgen?«
»Du sitzt mit mir im Auto vor dem Flughafen. Von dort aus leiten wir den Einsatz.«
Tess ging ins Büro hinüber. Sie musste darüber nachdenken, was er gesagt hatte und wie viel wohl im Haus geredet wurde.
Vor der Wand im Büro, an der sie die Ermittlungen im Annika-Fall zusammengefasst hatten, blieb sie stehen. Sie war schon früher an Zugriffen auf dem Flughafen Sturup beteiligt gewesen. Einmal wegen eines zur Fahndung ausgeschriebenen Norwegers, ein andermal wegen eines mutmaßlichen Schleppers. Flughäfen waren schwer überschaubar. Viele Menschen waren in Bewegung, zahlreiche Berufsgruppen in unterschiedliche Tätigkeiten involviert, wo sie Zutritt zu verschiedenen Räumen hatten. Aber Sturup war nicht sehr groß und hatte einen relativ einfachen Grundriss. Auf jeden Fall ließ er sich besser in den Griff bekommen als Arlanda oder Kastrup.
Sie betrachtete den Flickenteppich aus Namen und Fotos an der Wand und kniff die Augen zusammen.
Fotos, Pfeile, Notizen zu möglichen Beziehungen zwischen den einzelnen Akteuren. Als sie Annikas lachende blaue Augen sah, überkam sie das schlechte Gewissen. Sie war der Wahrheit über die neunzehnjährige Frau aus Simrishamn keinen einzigen Schritt näher gekommen.
»Bald«, sagte sie. »Bald bist du wieder an der Reihe.«
Das Phantombild des Valby-Mannes hatte Tess ganz am Rand aufgehängt, zusammen mit dem des halb ausgebrannten Fords. Darunter stand ein großes Fragezeichen.
Sie hoffte, es in ein paar Tagen entfernen zu können.