Zum dritten Mal innerhalb von nur einer Woche blickte Tess in die verschiedenfarbigen Augen des Valby-Mannes. Sie saßen im Verhörraum der Haftanstalt, zwischen ihnen lag das Diktaphon auf dem Tisch. Bislang hatte es, abgesehen von Makkonens Fragen, jedoch nur Schweigen aufgenommen. Der dreiundfünfzigjährige Valby-Mann Leon Eriksen, wie er mit richtigem Namen hieß, weigerte sich zu sprechen.
Makkonen war frustriert hinausgegangen. Die Staatsanwältin hatte Leon Eriksen zuvor mitgeteilt, dass er des Mordes an Linnea Håkansson, der schweren Vergewaltigung in zwei Fällen sowie des Hausfriedensbruchs und der Nötigung gegenüber Polizeikommissarin Tess Hjalmarsson dringend tatverdächtig sei. Außerdem erhebe die dänische Staatsanwaltschaft Anklage gegen ihn wegen dreizehnfacher Vergewaltigung in und um Kopenhagen. Bis dato leugnete Leon Eriksen sämtliche Taten und lehnte es ab, sich einen Anwalt zu nehmen.
Nachdem der Valby-Mann sie zwei Stunden hingehalten hatte, hatte Per Jöns endlich eingewilligt, Tess zu ihm zu lassen, auch wenn ihm bewusst war, dass dies gegen die Regeln verstieß. Allerdings bestand er darauf, selber auch anwesend zu sein. Tess Hjalmarsson war ein Opfer des Valby-Mannes, und es wäre ein Dienstvergehen gewesen, sie mit ihm allein zu lassen. Außerdem war sie diejenige, die ihn festgenommen hatte. Und Jöns glaubte, dass er aus diesem Grund noch weniger bereit sein würde zu reden.
Tess war da anderer Meinung. Das Bild, das Morris ihr vom Valby-Mann gezeichnet hatte, deutete eher darauf hin, dass er gerade deshalb mehr Respekt vor ihr haben würde. Sie wünschte sich, Jöns würde sie das Verhör allein führen lassen. Sein Monolog dauerte nun schon beinahe eine Stunde.
Eines hatte Tess sich jedenfalls fest vorgenommen: Sie würde sich ausschließlich auf Annika konzentrieren und alle anderen Verbrechen, deren er angeklagt war, ausblenden, inklusive des Überfalls auf sie selbst. Ausblenden, dass er der landesweit bekannte Valby-Mann war, sie würde sogar ausblenden, was er all den Frauen angetan hatte. All seine Verbrechen und Grausamkeit sollten sie nicht von ihrem Ziel abbringen.
»Also«, sagte sie, legte den Stift auf den Tisch und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Sind Sie sicher, dass Sie keinen Anwalt brauchen?«
Er grinste überlegen und verschränkte die Arme vor der Brust.
Eine Weile musterten sie sich schweigend. Leon Eriksen trug die grüne Jogginghose der Haftanstalt, hatte jedoch sein eigenes hellblaues T-Shirt anbehalten dürfen. Abgesehen von den Augen und dem markanten weißen Fleck im Haar wirkte er erstaunlich unauffällig. Sportlich, klare Gesichtszüge, und tatsächlich sah er dem deutschen Fußballbundestrainer Joachim Löw ähnlich. Der Phantombildzeichner Szymuk hatte ihn wirklich gut getroffen.
»Ich überlege die ganze Zeit, was Sie da draußen auf dem Flughafen eigentlich vorhatten. Warum sind Sie direkt auf das Flugzeug zugerannt?«
Tess versuchte, nicht der üblichen Strategie bei Verhören zu folgen, wollte ihn irgendwie zum Reden bringen. Doch Eriksen rutschte nur unruhig auf seinem Stuhl herum.
»Sie haben uns ziemlich an der Nase herumgeführt. Wie sind Sie eigentlich nach Sturup gekommen? Mit dem Fahrrad, habe ich recht?«
Leon Eriksen lächelte, schwieg jedoch weiter.
Tess seufzte. Dann begann der Valby-Mann plötzlich zu sprechen.
»Wie geht’s deiner hübschen Freundin?«
Tess bemühte sich, keine Reaktion zu zeigen, sah aber aus dem Augenwinkel, wie Jöns bei der unvermittelten Frage zusammenzuckte.
»Wie meinen Sie das?«, fragte sie.
Leon Eriksen starrte sie nur an.
»Sprechen Sie von der Frau, die sich in meiner Wohnung befunden hat, als Sie mich überfallen haben? Nicht dass es eine Rolle spielen würde, aber das war nicht meine Freundin. Sie geben also zu, dass Sie mich am dreiundzwanzigsten Februar in meiner Wohnung überfallen haben?«
Leon Eriksen schwieg und lächelte weiter.
Sie durchschaute ihn. Es war eine Mischung aus Verteidigungshaltung und Machtdemonstration. Er versuchte, sie zu provozieren, sie abzulenken.
Tess wandte sich an Jöns.
»Können wir kurz rausgehen?«
»Gib mir bitte zehn Minuten mit ihm allein«, sagte sie, als sie vor dem Verhörraum standen.
Jöns verzog das Gesicht.
»So bringt das doch nichts«, beharrte sie. »Er wird weiter nur dasitzen und sich über uns lustig machen. Und ich muss mit ihm über Annikas Verschwinden reden. Bald übernehmen ihn die Dänen, und dann ist diese Chance vertan.«
»Gut, du bekommst zehn Minuten«, sagte er nach einigem Zögern.
Jöns rief den Wärter.
»Können wir in einen Raum mit Videoüberwachung wechseln?«
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Da ist die Kamera kaputt. Wird frühestens morgen repariert. Aber ich kann die Lage durch den Spion im Auge behalten.«
Er zeigte auf die Tür.
Jöns holte tief Luft und sah Tess an, dann nickte er. Tess nahm Lederjacke und Schal mit, um Leon Eriksen zu signalisieren, dass sie nicht viel Zeit hatten.
Der Valby-Mann drehte sich nicht einmal um, als Tess in den Verhörraum zurückkehrte.
»Also, Leon. Wir haben zehn Minuten. Nur Sie und ich in diesem Raum. Dann kommen Ihre Landsleute und übernehmen.«
Eriksens Blick flackerte kurz, dann hatte er sich wieder im Griff. Sein Lächeln allerdings war verschwunden.
»All die Fragen, die die dänische Polizei haben wird: dreizehn Überfälle, zwei Morde … Sie warten wie hungrige Wölfe darauf, sich auf Sie zu stürzen.« Tess schüttelte den Kopf. »Es wird endlose Verhöre geben. Da werde ich gar keine Möglichkeit mehr haben, Ihnen meine Fragen zu Annika Johansson zu stellen. Und wie ich Ihnen neulich schon sagte, das ist das Einzige, was mich interessiert.«
»Warum behauptest du, es war nicht deine Freundin, ich habe doch die Fotos im Bücherregal gesehen.«
Er öffnete den Mund und rollte seine Zunge wie bei einem Kuss.
Tess stellte sich vor, wie Eriksen in ihrer Wohnung herumgelaufen war und die Bücherregale untersucht hatte, während Eleni gefesselt auf dem Boden lag. Sie konnte sich nicht erinnern, dass dort ein Foto von ihr und Eleni stand. Vielleicht hatte Eleni eins hingestellt. Die Fotos von ihr und Angela standen jedenfalls schon lange nicht mehr dort.
»Ihr seid sehr feminin, das gefällt mir. Viele Lesben sind so maskulin, so langweilig. Und wer liegt bei euch oben? Du, habe ich recht?«
Tess wünschte sich, Carsten Morris wäre bei diesem Verhör dabei. Sie zog ihr Handy heraus und schaute auf die Uhr.
»Wir sollten das Thema wechseln«, sagte sie und blickte ihm direkt in die Augen. »Die Spekulationen über meine Freundin können wir uns für ein anderes Mal aufheben.«
Sie lockerte ihren Schal.
»Noch sieben Minuten. Wo waren Sie in der Nacht des achten Juni 2002? Warum befinden sich Ihre Fingerabdrücke in dem weißen Ford, in dem auch Haare von Annika gefunden wurden?«
Tess trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und seufzte, als sie einsah, dass er nicht vorhatte, ihr zu antworten.
»Ich glaube nicht, dass Sie einem Mädchen wie Annika etwas antun würden. Es passt nicht zu Ihnen, eine blonde junge Frau zu ermorden, die gerade erst mit der Schule fertig geworden ist. Einfach so.« Sie schnippte mit den Fingern. »Das ist doch gar nicht Ihr Stil, oder?«
Zum ersten Mal schien ihr Leon Eriksen wirklich zuzuhören.
»Die Taten, die Sie begangen haben, dienten einem bestimmten Zweck. Ich weiß nicht, warum Sie sie begangen haben, aber ich bin mir sicher, dass Sie eine logische Erklärung dafür haben. Habe ich recht?«
Eriksen rutschte auf seinem Stuhl hin und her, hob die gefesselten Hände und strich sich die Haare aus dem Gesicht.
Was für ein eitler Fatzke, dachte Tess.
»Wahrscheinlich ist Ihnen nicht klar, was Sie damit gewinnen, wenn Sie mir erzählen, was passiert ist. Aber es geht hier um etliche Überfälle auf verschiedene Frauen. Ihnen steht eine lange Gefängnisstrafe bevor, auch wenn man Ihnen nicht alle Taten wird nachweisen können. In Schweden wird man bereits für einen einzigen Mord zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Dann werden Sie in Ihr Heimatland überstellt, wo Sie Ihre Strafe absitzen werden. Wir haben Ihre
DNA
, und wir warten auf weitere Analysen, zusammengenommen weist so vieles auf Sie hin, dass … tja, ich würde sagen, Sie sitzen ziemlich in der Scheiße.«
Leon Eriksen schüttelte den Kopf, doch Tess fuhr ungerührt fort.
»Aber für Annika Johanssons Verschwinden wollen Sie nicht verantwortlich gemacht werden, das haben Sie mir doch klar und deutlich zu verstehen gegeben, als Sie bei mir eingebrochen sind, aus Wut über diese Anschuldigungen. Und ich kann Ihnen helfen, von diesem Verdacht freigesprochen zu werden. Ich habe eine Theorie dazu, was passiert ist, aber Sie müssen mir helfen, sie wasserdicht zu machen. Wie würde es sich anfühlen, auch für diesen Mord verurteilt zu werden, den Sie doch gar nicht begangen haben? Und ich glaube, dass Sie ganz genau wissen, wer diesen Mord begangen hat. Sie werden dafür einsitzen, für mindestens zwanzig Jahre, und dann hat der Täter die Schuld ganz einfach auf Sie abgewälzt.«
Tess trat ans Fenster. Sie öffnete die Jalousie einen Spaltbreit und schaute in die Dunkelheit hinaus.
»Ich habe schon oft zu Unrecht Verurteilte gesehen. Irgendwie kommt man damit zurecht, dass man hinter Gittern sitzt, wenn man weiß, was man getan hat. Aber für etwas bestraft zu werden, das man nicht getan hat …«
Sie ließ die Jalousie plötzlich los, sodass sie zurückschnellte. Leon Eriksen biss auf dem Ausschnitt seines T-Shirts herum, als würde es ihn einengen. Er musterte sie von Kopf bis Fuß.
»Das zehrt an einem«, redete Tess weiter. »Das nagt und bohrt. Man altert vorzeitig. Und je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger wird es, Wiedergutmachung zu erlangen. Unwahrscheinlich, dass noch jemand Lust hat, einem zuzuhören, wenn man erst einmal rechtskräftig verurteilt ist. Der wahre Täter stirbt in dieser Zeit vielleicht sogar.«
Da Eriksen immer noch nichts sagte, fuhr Tess fort.
»Zu Beginn meiner Laufbahn habe ich mich um einen kleinen Jungen gekümmert, der ein traumatisches Erlebnis hatte.«
Leon starrte ins Leere.
»Seine Mutter war im Obergeschoss des Hauses, in dem sie wohnten, ermordet worden. Anschließend hatte jemand Feuer gelegt. Hätte der Nachbar nicht die Feuerwehr gerufen, wäre der Junge wahrscheinlich auch verbrannt. Die Polizei hielt das Ganze für einen Unfall, auch ich. Ein paar Wochen später, viel zu spät, entdeckten wir Spuren, die darauf hinwiesen, dass die Frau ermordet worden war. Und die Obduktion bestätigte, dass sich kein Rauch in der Lunge befand, dass sie also schon vor dem Brand tot gewesen sein musste.«
Leon blickte sie an, er schien ihr plötzlich zuzuhören.
»Wir konnten den Täter nicht fassen. Ich glaube, ich weiß, wer es war, aber intern galt der Fall als abgeschlossen. Und es gab weiterhin keine eindeutigen Beweise gegen den Mann. Heute lebt er irgendwo, und diese Tat lastet auf seinem Gewissen. Und gleichzeitig gibt es den Jungen, der nie Gewissheit erhalten hat, was wirklich geschehen ist. Und wissen Sie«, sie stellte sich neben Leon Eriksen, »das, was ich heute im Blick dieses Jungen sehe, will ich nie wieder bei irgendjemandem hervorrufen. Ich werde um jeden Preis dafür sorgen, dass derjenige, der Annika Johansson ermordet hat, zur Verantwortung gezogen wird.«
Tess setzte sich wieder hin.
»Aber ich weiß, dass man Sie für Annikas Verschwinden verantwortlich machen wird. Ihre Fingerabdrücke im Auto, die Zeugen, die Sie in den Tagen des Geschehens in der Gegend gesehen haben … Vielleicht trägt auch der Wunsch, diesen Fall endlich abschließen zu wollen, dazu bei … Und wenn ich ehrlich sein soll, ist es mir auch lieber, Sie wandern dafür in den Knast als niemand.«
Leon Eriksen knirschte mit den Zähnen.
Tess schaute noch einmal auf die Uhr.
»Die Zeit ist um. Das war wahrscheinlich die letzte Chance, unter vier Augen zu sprechen. Schade, dass Sie sie nicht genutzt haben.«
Sie stand auf. Leon Eriksen räusperte sich und schlug mit den gefesselten Händen auf seinen Oberschenkel.
»Ich will mit diesem Morris reden. Bring ihn her.«
»Carsten Morris?«
Er nickte.
»Und noch etwas: Wenn ich verurteilt werde, will ich meine Strafe in einem schwedischen Gefängnis absitzen.«
»Warum? Was spielt das für eine Rolle?«
»Schweden«, sagte er und hob die Stimme. »Kümmere dich darum. Du bist doch hier so eine Art Super-Cop, du kriegst das bestimmt hin.«
Sein Gesichtsausdruck war wie ausgewechselt. Tess sah sich demselben aggressiven Blick gegenüber, dem bereits über ein Dutzend Frauen ausgesetzt gewesen waren.
»Hol Morris her, dann überlege ich mir, was ich über das Verschwinden des Mädchens weiß«, sagte Eriksen.
Der Wärter öffnete die Tür.
»Alles okay«, sagte Tess. »Geben Sie mir noch fünf Minuten.«
Sie wandte sich wieder an den Valby-Mann.
»Die Lage, in der Sie sich befinden, ist eigentlich nicht dazu angetan, irgendwelche Bedingungen zu stellen. Wir haben hier kein Kronzeugensystem, nach dem es Strafmilderungen geben könnte, nur weil jemand bereit ist zu reden.«
»Aber du willst etwas von mir, oder? Also ist es doch eine Win-win-Situation.«
Eriksen erhob sich plötzlich.
»Setzen Sie sich«, sagte Tess.
Als der Wärter ihnen signalisierte, dass die Zeit um war, hob Tess die Hand, um ihm zu bedeuten, dass sie so gut wie fertig waren.
»Ich werde sehen, was ich tun kann«, sagte sie. »Aber ich kann Ihnen nichts versprechen.«
Dann stand sie auf und verließ den Verhörraum.