»Können Sie mir nicht einfach sagen, worüber Sie mit mir reden wollen?«, fragte Tess.
»Nicht am Telefon. Können wir uns treffen?«
Es hörte sich an, als wäre Rickard Mårtensson tatsächlich nüchtern.
Tess schaute auf die Uhr. Sie musste eigentlich auf direktem Weg zur Dienststelle. Eriksen schwieg weiterhin in sämtlichen Verhören, auch nachdem die dänische Polizei nach Malmö herübergekommen war. Abwechselnd hatten sie versucht, Carsten Morris zu erreichen, und die Staatsanwältin arbeitete an einem Haftantrag.
»Ich muss wenigstens ungefähr wissen, worum es geht«, sagte Tess.
Rickard seufzte.
»Ich wollte Ihnen erzählen, was mit Annika passiert ist. Klingt das vielversprechend?«
Tess fuhr rechts ran.
»Ich hoffe, es hat Hand und Fuß. Ich stecke gerade mitten in einer anderen wichtigen Ermittlung. Und noch etwas: Ich möchte, dass Sie nüchtern sind.«
»Ich habe keinen Tropfen getrunken. Mich juckt es überall, und ich würde sterben für ein Glas Bier. Aber um Ihnen zu zeigen, dass ich es ernst meine, bin ich nüchtern. Kommen Sie?«
»Nennen Sie mir einen Treffpunkt, dann bin ich in einer Stunde da.«
»Der Gyllebo-See. Wissen Sie, wo das ist?«
Tess schaute auf ihrer Karten-App nach.
»Bei Rörum?«
»Genau. Wenn Sie aus Malmö kommen, fahren Sie in Tomelilla ab und dann weiter über Smedstorp oder Gärsnäs.«
»Warum ausgerechnet dort?«
»Das werden Sie schon sehen.«
Tess überlegte schnell. Sicher war es riskant, zu einem verlassenen Ort mitten im Wald zu fahren, um sich mit einem unberechenbaren Alkoholiker zu treffen, der noch dazu Hauptverdächtiger in einem Vermisstenfall war. Andererseits wollte sie unbedingt wissen, ob er etwas Wichtiges zu erzählen hatte.
Tess bog nach Gyllebo ab, gut zehn Kilometer nördlich von Simrishamn. Da der weiße Ford nur wenige Hundert Meter vom Gyllebo-See entfernt gefunden worden war, ging sie davon aus, dass Rickard ihr etwas zu dem Auto sagen wollte.
In Gyllebo gab es eine Antroposophenkolonie, deren bunte Holzhäuser sich auffällig vom Rest des Ortes abhoben. Tess rief Marie an, die heute wegen Schwangerschaftsbeschwerden krankgeschrieben war, und erklärte ihr, was sie vorhatte.
»Wenn du innerhalb einer Stunde nichts von mir hörst, weißt du, wo du suchen musst.«
»Jawohl, ich werde den Grund des Sees umpflügen.«
Es war kurz vor drei. In einer Stunde würde es dämmern. Tess überquerte die Bahnlinie und sah das Schloss von Gyllebo ganz in der Nähe des Sees, ein hellgelbes, protziges Gebäude aus dem Mittelalter. Bis ins siebzehnte Jahrhundert war das Schloss in dänischem Besitz gewesen, dann war es, ebenso wie andere Schlösser in Schonen, im Tausch gegen die Insel Bornholm an Schweden gegangen.
Neben dem Schloss weideten mehrere Alpakas, ein seltsamer Anblick, so mitten im Wald. Tess fuhr auf den Parkplatz.
Der Gyllebo-See war einer der größten Binnenseen Schonens, aber wiederum auch nicht so groß, dass eine Leiche dort über so viele Jahre unentdeckt geblieben wäre. Falls das der Grund war, weshalb Rickard sich hier mit ihr treffen wollte. Der See hatte Mitte der Neunzigerjahre schon einmal eine Rolle in einer Mordermittlung gespielt. Damals war es um einen brutalen Mord an einer Frau aus Smedstorp gegangen, und man hatte die verstümmelte Leiche unter einem Steg gefunden. Nach Annikas Verschwinden war der Grund des Sees zumindest teilweise abgesucht worden, doch er war an manchen Stellen tiefer als an anderen und sehr schwer zugänglich. Jetzt lag er still da, das Ufer war noch eisbedeckt.
Neben dem kleinen Steg direkt am Parkplatz stand ein rostiger roter Volvo älteren Baujahrs.
Tess schaltete den Motor aus, steckte ihre Waffe in die Innentasche ihrer Jacke und stieg aus. Ein paar Enten glitten auf dem Eis am Ufer aus und landeten mit einem Platschen im See. Tess warf einen Blick in den verlassenen Volvo, dann ging sie zum Strand. Draußen auf dem Steg entdeckte sie einen großen dünnen Mann mit braunem Haar, der eine grüne Fleecejacke und eine graubeige Camouflage-Hose trug.
»Rickard Mårtensson?«, rief sie.
Der Mann drehte sich um, die Arme hatte er vor der Brust verschränkt. Er nickte ihr zu. Tess ging auf den Steg hinaus und schüttelte ihm die Hand. Er sah älter und verbrauchter aus, als sie erwartet hatte. Der Blick seiner leicht schräg stehenden Augen wirkte verletzlich. Keine gebleichten Zähne, maßgeschneiderten Anzüge oder weißen Hemden, wie bei seinem Bruder Stefan. Rickard wandte sich von ihr ab und blickte wieder auf den See hinaus.
»Als ich klein war, sind wir hier im Winter Schlittschuh gelaufen.«
Er zeigte auf die bewaldete Seite des Sees.
»Es gab heißen Kakao, Hockeyclubs, Familien mit Kindern, das ganze Programm. Wissen Sie, dass da draußen auf dem Grund ein Traktor steht?«
Tess sah ihn ungläubig an.
»Tatsächlich? Kaum zu glauben.«
Rickard wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab.
»Ja, nicht wahr? Dahinten ist das Wasser richtig tief. Der Traktor ist grün, ein klassischer John Deere. Vor ungefähr zwanzig Jahren waren ich und mein Kumpel Roger unterwegs, wir haben richtig einen draufgemacht. Wir klauten einen Traktor von einem Hof in Bondtofta. Es war saukalt, und überall lag Schnee. Wir hatten Spaß, tranken Bier und fuhren herum. Plötzlich kamen wir auf die grandiose Idee, das Eis zu testen. Wir fuhren einfach auf den See hinaus. Es war ein wirklich geiles Gefühl. Aber als wir ungefähr in der Mitte waren, brach das Eis. Natürlich, was sonst? Ich habe immer noch das Knacken im Ohr. Es dämmerte gerade, genau wie jetzt. Ich erinnere mich, dass ich mir vor allem Sorgen darüber machte, es könnte jemand im Schloss sein und uns sehen. Schon komisch, dass man sich wegen so was Stress macht, wenn man gerade dabei ist, mit einem tonnenschweren Traktor ins Eis einzubrechen.«
Rickard sah sie von der Seite an, als wolle er sich vergewissern, dass Tess ihm auch wirklich zuhörte.
»Und dann?«, fragte sie.
»Ja, wir brachen also ein. Ganz langsam. Gerieten mit dem ganzen Scheiß unter die Eisdecke, das Wasser war furchtbar kalt und … ja, ich weiß nur noch, dass Wasser in das Fahrerhäuschen drang und ich dachte: Mund zu und raus hier. Ich zerrte an Roger, und irgendwie gelang es uns, durch das Fenster raus und an die Oberfläche zu kommen. Wir schwammen, bis wir das Loch fanden, zogen uns aufs Eis und krabbelten an Land.«
Rickard zeigte auf das Ufer.
»Dann standen wir da und sahen, wie der Traktor sank. Es war irgendwie großartig. Und dabei unglaublich still. Das Wasser öffnete und schloss sich wieder, verschlang den Traktor. Die Scheinwerfer waren noch an und leuchteten einen Moment lang geradewegs in den Himmel, obwohl sie schon unter Wasser waren. Dann war der Traktor verschwunden. Ein bisschen wie bei der Estonia
Er lachte.
»Wir rannten nach Hause, mit abgefrorenen Hintern. Ich weiß, dass Roger es niemandem erzählt hat. Jetzt ist er tot, er starb vor vielen Jahren bei einem Motorradunfall in der Nähe von Fågeltofta. Nahm unser Geheimnis mit ins Grab.«
Rickard schwieg. Ein paar Enten schwammen am Steg vorbei.
»Ich habe oft gedacht, Annika … oder was von ihr übrig ist, könnte da unten bei dem Traktor liegen. Manchmal bin ich hier rausgefahren und hab mich auf den Steg gesetzt, um mit ihr zu reden. Es fühlt sich an, als wäre sie mir hier nah.«
Rickard schwieg erneut.
»Sie haben den See durchkämmt, aber nicht so weit draußen. Zumindest habe ich nicht gehört, dass sie einen Traktor gefunden haben.«
»Dieser Roger, war der ein gemeinsamer Freund von Ihnen und Ihrem Bruder?«, fragte Tess. Schon wieder ging es um Stefans Alibi. Das konnte kein Zufall sein.
Rickard nickte.
»Ja, aber hauptsächlich hatte ich mit ihm zu tun. Mein Bruder hat wahrscheinlich nur Eindruck auf ihn gemacht.«
Er runzelte die Stirn.
»Ich habe in meinem Leben ziemlich viel Scheiße gebaut und war ständig betrunken. Aber ich habe nie einen Menschen getötet. Dieses Mädchen habe ich geliebt. Mehr, als ich je irgendjemanden geliebt habe. Es ist nicht witzig, wenn ich daran denke, wie sie mich am Ende abserviert hat, aber ich hätte sie niemals töten können.«
»Ist das der Grund, weshalb wir hier sind, weil Sie mir das erzählen wollten?«
Rickard schüttelte den Kopf.
»Nein, nicht nur.«
Unterhalb des Stegs schwammen die Enten in der Hoffnung auf Futter im Kreis.
»Ich glaube, die Polizei sollte dort noch einmal suchen, vielleicht gibt es da unten noch etwas anderes Interessantes. Das Auto, in dem sie anscheinend transportiert worden war, wurde ja auch ganz in der Nähe gefunden. Wenn man eine Leiche an dem Traktor festbinden würde, wäre das doch das perfekte Versteck.«
»Ziemlich ausgebufft«, sagte Tess. »Im Dunkeln runterzutauchen, die Leiche zu versenken und anzubinden … Und wer weiß, wie viel nach sechzehn Jahren überhaupt noch übrig wäre. Die Fische, die Strömung …«
»Ich habe mich erkundigt. Skelette halten sich in Süßwasser besser als in Salzwasser.«
»Ich werde das prüfen und schauen, was wir tun können. Leider gibt es gerade eine Menge anderer Dinge, die Vorrang haben. Sie haben sicher gelesen, was in Malmö passiert ist.«
Rickard unterbrach sie.
»Der Däne war es nicht.«
»Wie können Sie sich da so sicher sein?«
Er drehte sich zu ihr um.
»Weil ich weiß, wer es war.«
Tess stampfte mit den Füßen, um nicht zu frieren. Sie spürte das Gewicht der Waffe in ihrer Jacke.
Es gefiel ihr nicht, mit Rickard so weit draußen auf dem Steg zu stehen. Unter der abgehärmten Oberfläche erahnte sie eine unterdrückte Aggressivität, die schon viele Jahre gärte und nur darauf wartete, sich ihren Weg zu bahnen.
»Wir gehen zu den Autos, dann können Sie es mir dort erzählen«, sagte sie und bedeutete ihm vorauszugehen.
Im Schloss waren einzelne Fenster erleuchtet.
Schweigend gingen sie zum Parkplatz. Dort angekommen, setzte Rickard sich auf die Kofferraumhaube und steckte sich eine Zigarette an.
Tess schaute auf ihr Handy und stellte fest, dass Marie angerufen hatte. Sie schrieb ihr eine Nachricht: Bin noch am See, alles unter Kontrolle.
»Okay, Rickard, jetzt will ich hören, was Sie mir zu sagen haben. Bis auf die Enten sind wir hier ganz allein.«
»Sind Sie die Chefin bei der Polizei?«
»In gewisser Weise, ja. Ich leite das Team, das sich um alte unaufgeklärte Morde kümmert. Annikas Fall gehört dazu.«
Rickard musterte sie.
»Ich hab Sie im Fernsehen und auf Fotos gesehen.«
Er wischte sich über die Mundwinkel.
»Dann wissen Sie also Bescheid über alles, was nach Annikas Verschwinden passiert ist? Ich meine das ganze Drumherum?«
»Ich weiß alles, was herausgefunden wurde, was leider nicht sehr viel ist.«
»Nein, denn wo, verdammt noch mal, ist sie?«
Er breitete die Arme aus. Dann spuckte er auf den Boden.
»Über mich wissen Sie dann wahrscheinlich auch alles?«
»Weiß man jemals alles über einen Menschen?«, meinte Tess. »Zumindest habe ich ein einigermaßen vollständiges Bild von Ihrer Herkunft und Ihrer Familie. Stört Sie das?«
Rickard lachte.
»Nein, ach was. Ich habe nichts zu verbergen. Ich habe gemacht, was ich wollte, und das tue ich immer noch, dazu stehe ich. Was soll ich auch sonst tun?«
»Frau, Kinder, Beruf?«
Rickard hob abwehrend die Hände. Er schwieg einen Moment. Dann sagte er:
»Kinder sind nicht schwer zu bekommen. Viel schwerer ist es, sie zu behalten.«
Er blickte auf den See hinaus.
»In der Nacht, in der Annika verschwand, war ich stockbesoffen, das wissen Sie. Um vier Uhr nachts wachte ich auf. Ich schaute auf den Radiowecker, es war genau vier Uhr zwanzig. Mir war schlecht vom Alkohol, aber das war nicht der Grund, warum ich aufgewacht bin. Es war die Haustür. Die war irgendwie nicht in Ordnung. Stefan und ich versuchten nachts immer, sie leise aufzumachen und uns reinzuschleichen, aber das war unmöglich. Die Tür quietschte immer und hatte sich auch irgendwie verzogen, sodass es schwierig war, sie richtig zuzubekommen.«
Er hustete.
»Ich wachte also auf. Lag in meinem Bett und lauschte. Hörte, wie jemand sich die Schuhe auszog und im Flur etwas umfiel. Wir hatten unten ein zweites Bad, und die Dusche ging an, lief vielleicht fünf Minuten. Ich erinnere mich, dass mir das komisch vorkam. Stefan und ich duschten nie, wenn wir nachts nach Hause kamen. Darauf wären wir gar nicht gekommen. Am Morgen danach dachte ich nicht mehr daran, ich hatte einen Wahnsinnskater und kotzte im oberen Bad in die Toilette.«
Rickards Miene war hochkonzentriert. Tess erinnerte sich nicht, in dem tausendseitigen Ermittlungsbericht etwas über diese Erinnerungen gelesen zu haben.
»Wer war es, der da nach Hause kam?«
Rickard antwortete nicht sofort.
»Meine Mutter war übers Wochenende verreist, und mein Vater schlief unten in seinem Zimmer. Bleibt nur einer, der noch einen Hausschlüssel hatte.«
Ein Flügelschlagen durchschnitt die Luft, und eine Reihe Kraniche flog über den See.
Rickard schüttelte den Kopf, kramte in den Taschen seiner Fleecejacke und zog erneut seine Zigarettenschachtel heraus, die er ihr diesmal hinhielt.
»Danke, nein. Erzählen Sie weiter.«
Sie lehnte sich an ihren Dienstwagen, zog den Schal enger und schlang die Arme um sich, um die Wärme zu halten. Rickards glühende Zigarette leuchtete im Halbdunkel.
»Okay, wie auch immer, in den Tagen danach dachte ich nicht mehr daran. Ich sah Stefan auch nicht, er war oft tagelang weg, hatte immer mehrere Frauen gleichzeitig am Laufen. Und dann ging der Zirkus los. Annika wurde vermisst, überall herrschte Chaos, und die Polizei fing an, mich auszuquetschen. Immerhin durfte ich bei der Suchaktion dabei sein …«
Rickard zuckte die Achseln.
»Völlig sinnlos. Ich wusste, dass sie tot war, ich spürte das. Sie sollte am Montag ihren Ferienjob in einem Kindergarten antreten. Darauf hatte sie sich riesig gefreut, sie wäre niemals freiwillig weggeblieben. Ich spürte, dass wir auch ihre Leiche nicht finden würden. Aber ich wollte dabei sein, obwohl mich die Leute schräg anguckten. Ich versuchte, mir nichts daraus zu machen, aber es war ziemlich klar, dass alle dachten, ich hätte etwas mit Annikas Verschwinden zu tun.«
»Haben Sie sich gar keine Sorgen gemacht, was mit ihr geschehen sein könnte?«
Rickard zog ein paarmal an der Zigarette.
»Doch, klar. Nachdem Annika verschwunden war, war auch von meinem Bruder nichts mehr zu sehen. Kein einziges Mal hat er an den Suchaktionen teilgenommen. Schon merkwürdig, dachte ich, alle anderen sind dabei, aber er lässt sich tagelang nicht blicken.«
Rickard drückte seine Zigarette auf dem Autodach aus und warf den Stummel auf den Parkplatz.
»Und dann wurde es noch merkwürdiger. Nach der letzten Suchaktion hörte ich ihn abends nach Hause kommen. Ich ging die Treppe runter, um mit ihm zu reden.«
Rickard zog eine neue Zigarette heraus und zündete sie rasch an. Zog ein paarmal, dann schaute er zum Himmel.
»An den Wangen und auf der Stirn hatte er tiefe Kratzer. Es sah aus, als wären sie ein paar Tage alt.«
Er hob einen Finger und strich sich über die Wange.
»Einen quer über die rechte Wange, also so. Dann noch einen tieferen auf der Stirn, oben am Haaransatz.«
Tess runzelte die Stirn. Auch davon hatte er in den bisherigen Ermittlungen nichts erwähnt.
»Was haben Sie zu ihm gesagt? Haben Sie ihn zur Rede gestellt und gefragt, woher er sie hatte?«
Rickard schüttelte den Kopf.
»Nichts. Ich brachte kein Wort heraus. Wir standen beide nur da und starrten uns an. Plötzlich fiel mir die Nacht ein, in der Annika verschwunden war, wie ich die Tür gehört hatte und anschließend die Dusche … Alles kam wieder hoch.« Rickard sprang vom Auto herunter. »Mein Bruder hat wochenlang ein Basecap getragen, das er sich tief in die Stirn zog.«
Tess sagte nichts. Sie öffnete den Kofferraum ihres Autos und zog ihre gefütterte schwarze Dienstjacke heraus. Vor Kälte tat ihr das verletzte Ohr wieder weh.
»Ich war neulich bei Stefan«, sagte sie und schloss den Kofferraum. »In seinem neuen Haus in Vik, um ihm ein Foto des Dänen zu zeigen.«
»Mann, Scheiße!« Rickard trat ein paar Schritte auf sie zu. »Jetzt vergessen Sie doch mal diesen Dänen, er war’s nicht!«
Rickard stand da und starrte sie an, dann warf er seine Zigarette weg.
»Was für eine Zeitverschwendung, mit euch zu reden!«
»Jetzt beruhigen Sie sich erst mal.«
Tess zog ihr Handy heraus und wählte Maries Nummer.
»Bin noch am See, rufe gleich noch mal an«, sagte sie und legte auf. »Es wird spät, ich muss wieder. Stefan behauptet, er habe damals bei Roger übernachtet, wissen Sie irgendwas darüber?«
Rickard schnaubte verächtlich.
»Bullshit. Ganz bestimmt nicht. Ich habe ihn doch gehört. Sie sind die Erste, der ich das erzählt habe.«
»Warum erst jetzt?«
Rickard schüttelte den Kopf.
»Leute wie Sie haben keine Ahnung, wie es ist, ein Paria zu sein, einer, von dem niemand etwas wissen will. Dem niemand irgendwas glaubt. Wer hätte denn auf einen Loser wie mich gehört? Alle waren davon überzeugt, dass ich es war. Keiner interessierte sich dafür, was ich vielleicht zu sagen gehabt hätte. Vor allem nicht, wenn es um meinen Bruder ging, der so erfolgreich und beliebt ist.«
»Aber als der Verdacht auf Sie fiel, hätten Sie es doch sagen können? Sie wollen doch nicht behaupten, dass Sie sich stattdessen lieber geopfert haben?«
»Mein Vater wusste, dass ich zu Hause war, er hat mich kommen hören. Danach haben wir nie wieder darüber geredet. Das ganze Thema war tabu. Seitdem trinke ich. Und um ehrlich zu sein, war es verdammt schön, sich den ganzen Mist aus dem Kopf zu ballern.«
»Weshalb haben Sie Ihre Meinung geändert? Warum reden Sie jetzt?«
Rickard blickte erneut zum Himmel.
»Die Bilder kamen plötzlich wieder. Und dann erfuhr ich, dass Stefan wieder hierhergezogen ist. Ich habe seinen verdammten Prachtbau gesehen. Und gleichzeitig wird die ganze Sache mit Annika neu aufgerollt. Also, wie lange soll er noch davonkommen?«
Um sie herum war es jetzt stockdunkel. Von Weitem sah Tess Autoscheinwerfer, die sich näherten, dann aber abbogen; wahrscheinlich parkte das Auto vor einem der Häuser in Gyllebo.
»Warum hätte Ihr Bruder Annika etwas antun sollen?«
Rickard beugte sich über das Auto.
»Es wäre ja die ultimative Erniedrigung für mich gewesen, wenn er mir mein Mädchen ausgespannt hätte. Er ertrug den Gedanken nicht, nicht jede gehabt zu haben.«
Tess öffnete die Autotür.
»Das erklärt aber nicht, warum er sie getötet haben soll.«
Rickard trat ganz nah an sie heran. Er war mindestens einen Kopf größer. Kühl betrachtete sie sein vernarbtes Gesicht. Sie spürte das Gewicht der Waffe in ihrer Tasche.
»Annika war schwanger, als sie starb.«
Tess hob die Augenbraue und schüttelte den Kopf.
»Das sind ja plötzlich eine ganze Menge neuer Informationen. Woher wissen Sie, dass sie schwanger war?«
Rickard trat einen Schritt zurück.
»Ihr Bruder, Axel Johansson, hat es mir ein paar Tage vor ihrem Verschwinden gesagt. Er drohte mir, mich totzuprügeln, wenn es meins wäre, dieser Schwächling. Was für ein Witz!«
»Es war aber nicht Ihres?«
»Nein, das wäre auch zu schön gewesen. Sonst wäre vielleicht alles ganz anders gekommen.«
»Was hat es in Ihnen ausgelöst, dass die Frau, die Sie liebten, von einem anderen schwanger war?«
Rickard zuckte die Achseln.
»Es war sowieso vorbei.«
»Ging es in dem Streit mit Axel um die Schwangerschaft? Ich meine, vor dem Paviljong, in der Nacht, in der Annika verschwand?«
Rickard nickte und sog die kalte Luft tief ein.
Tess schloss die Fahrertür wieder und sah auf die Uhr.
»Sie behaupten also, Annika sei schwanger gewesen und Sie hätten das ein paar Tage vor ihrem Verschwinden erfahren. Und Sie glauben, Ihr Bruder war der Vater des Kindes und er hat Annika ermordet, weil sie schwanger war und er Panik bekam?«
Rickard grinste schief.
»Fällt Ihnen was Besseres ein? Für mich klingt das völlig plausibel. Wahrscheinlich hat er versucht, sie zu einem Schwangerschaftsabbruch zu überreden, sie weigerte sich, und sie fingen an zu streiten. Das eine führte zum anderen, und dann sah er keinen anderen Ausweg mehr, als sie verschwinden zu lassen.«
»Und anschließend, glauben Sie, hat er sie hier versenkt? Neben dem Traktor?«
Sie blickte auf den dunklen See hinaus.
»Ja, es gibt nur eine Person, der ich von dem Traktor erzählt habe, und das ist Stefan.«
»Und was ist mit dem Auto?«
»Für ihn war es nicht weiter schwer, daranzukommen, es gab ja massenhaft Autos in der Werkstatt in Gärnäs.
»Und die Fingerabdrücke des Valby-Mannes im Auto, wie erklären Sie sich die?«
»Keine Ahnung, vielleicht hat er sich den Wagen vorher ausgeliehen, was weiß ich? So was hält sich doch lange. Aber der Valby-Mann hat sie auf keinen Fall getötet.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil ich Ihnen gerade erklärt habe, wer es war. Wie schwer ist das denn zu kapieren? Die Dusche, das fehlende Alibi, die Kratzer, und an der Suchaktion hat er sich auch nicht beteiligt …«
Tess trat gegen einen Stein auf dem Boden.
»Wenn so etwas erst sechzehn Jahre später herauskommt, ist es schwierig zu überprüfen.«
»Was glauben Sie denn, wen sie damals für ihre Schwangerschaft verantwortlich gemacht hätten? Es hätte mich kaum weniger verdächtig gemacht.«
»Und warum hat Axel Ihrer Meinung nach nichts gesagt?«
»Er wollte wahrscheinlich den Ruf seiner Schwester nicht in den Dreck ziehen.«
Tess musste an das Tagebuch denken, das aus Annikas Zimmer verschwunden war und von dem man annahm, dass Axel es an sich genommen hatte. Vielleicht hatte sie dort etwas über ihre Schwangerschaft geschrieben? Wie reagierte ein überbehütender Bruder, wenn er erfuhr, dass seine kleine Schwester von einem Mann schwanger war, den er nicht ausstehen konnte?
Sie holte das Phantombild aus ihrer Tasche und leuchtete es mit der Taschenlampe an.
»Kennen Sie diesen Mann?«
Rickard nickte.
»Klar, das ist der Däne, den Sie verhaftet haben. Silver. Ich habe mich nie mit ihm unterhalten, aber ich erinnere mich, dass er eine Weile hier in der Gegend abhing. Ziemlich irre, wenn Sie mich fragen.«
Tess schwieg. Atmete die kalte Abendluft ein.
»Ein Zeuge, der vom Waldrand aus den Täter beobachtet hat, meinte, er hätte ein Markenzeichen auf der Jacke gesehen. Es könnte ein Pferd gewesen sein. Hatte Stefan mal so eine Jacke?«
Rickards Augen verengten sich zu Schlitzen.
»Machen Sie mit meiner Aussage, was Sie wollen, Hauptsache, er kommt nicht noch einmal davon.«
Sie sah zu ihm auf.
»Sie reden unterdessen mit niemand anderem darüber, okay?«
»Ich habe sechzehn Jahre lang die Klappe gehalten, da halte ich es wohl noch eine Weile aus.«
»Ihr Vater. Mit ihm würde ich auch gerne noch mal über das reden, was Sie mir gerade erzählt haben.«
Rickard lachte freudlos.
»Klar, versuchen Sie ’s.«
Er stieg in seinen Volvo und gab Gas. Tess stieg in ihr eigenes Auto und folgte ihm, stellte die Heizung auf die höchste Stufe. Ihre Nase war eiskalt, und sie spürte ihre Hände und Füße nicht mehr.
Als sie auf die Landstraße einbog, sah sie, wie Rickards Rücklichter in die andere Richtung verschwanden. Sie hielt am Straßenrand, schaltete den Motor aus und dachte noch einmal darüber nach, was Rickard ihr erzählt hatte.
Könnte eine ungewollte Schwangerschaft der Grund gewesen sein, Annika zu ermorden?
Und die Anschuldigungen gegenüber Stefan, waren sie begründet, oder versuchte Rickard einfach nur, von sich abzulenken?