Auf der spiegelglatten Straße nach Brösarp gerieten sie ins Rutschen. Schnee fiel auf die Windschutzscheibe. Es war, als würden sie in eine weiße Wolke hineinfahren, und Tess blieb nichts anderes übrig, als die Luft anzuhalten und darauf zu hoffen, dass ihnen keiner entgegenkam. Marie versuchte währenddessen weiter, Rickard oder seinen Vater zu erreichen, ohne Erfolg.
»Halt an, ich fahre«, sagte sie schließlich.
Tess stieg aus, kämpfte sich durch den Schneesturm um das Auto herum und stieg auf der Beifahrerseite wieder ein. Ja, Marie war unter diesen Bedingungen sicher die bessere Fahrerin.
Sie fuhren wie durch einen weißen Tunnel, die orangefarbenen Schneeleitstäbe waren ihre einzige Orientierung.
Am Ende bog Marie auf gut Glück in eine kleinere Straße ein. Das Navi sagte ihnen, dass sie sich an der nächsten Abfahrt links halten und dreihundert Meter durch die Felder fahren mussten. Doch dann entdeckte Tess Rickards roten Volvo mitten im Schneetreiben vor einem Gebäude in der entgegengesetzten Richtung. Das eingeschossige Backsteinhaus lag wie hingeworfen inmitten der verschneiten Wiesen zwischen Vitaby und Brösarp.
Tess öffnete die Autotür und hielt sich den Arm schützend vors Gesicht. Eisige Schneeflocken erschwerten die Sicht. Sie zog ihre Dienstwaffe und lud sie durch. Im selben Moment war aus dem Haus ein Schuss zu hören.
»Verdammt!«, fluchte Marie.
Sie liefen hinüber und rüttelten an der verschlossenen Tür. Tess versuchte, durchs Fenster zu schauen, aber die Jalousie war heruntergelassen.
»Wir müssen es über die Veranda versuchen«, rief sie Marie zu.
Per Handy meldete sie den Schuss bei der regionalen Einsatzleitstelle und gab ihre Position durch.
Anschließend folgte sie Marie zur überdachten Veranda auf der Rückseite des Hauses. Im Wohnzimmerfenster brannten zwei kleine Lampen.
Die Verandatür hatte außen keinen Griff, und Tess sah sich nach etwas um, womit sie die Scheibe einschlagen konnte. Marie reichte ihr einen schweren Stein, Tess schmetterte ihn gegen die Scheibe und griff vorsichtig mit der Hand durch das Loch. Dann öffnete sie die Tür von innen.
»Rickard?«
Unheilverkündende Stille empfing sie.
»Rickard, sind Sie hier?«
Glasscherben knirschten unter ihren Füßen.
Tess ging mit gezogener Waffe voraus, dicht gefolgt von Marie. Das Wohnzimmerparkett knarrte. Es roch nach Blut. Ein unangenehm süßsäuerlicher Geruch.
Sie betraten den Flur. Zu Tess’ Füßen lag Rickard Mårtensson auf dem Rücken, sein Kopf war halb weggeschossen. Eine abgesägte Schrotflinte ruhte unter seinem Kinn.
Marie schlug sich die Hand vor den Mund.
Ein schwaches Wimmern und Gurgeln war zu hören.
Tess bedeutete Marie, den anderen Mann zu untersuchen, der weiter drinnen in der Küche auf dem Boden lag.
»Er lebt«, sagte Marie leise. »Aber es geht ihm schlecht.«
Sie begann mit lebenserhaltenden Maßnahmen und versuchte, die Blutung zu stillen.
»Wo bleiben die denn?« Tess rief noch einmal in der Einsatzleitstelle an, um sich zu vergewissern, dass ein Krankenwagen unterwegs war.
Dann beugte sie sich über Rickard, tastete seine Brust ab und suchte an seinem Hals nach dem Puls. Entschlossen drückte sie zehnmal seinen Brustkorb. Mitten in der Bewegung fiel ihr Blick wieder auf seinen Kopf, und sie fragte sich, was sie da eigentlich tat.
»Verdammt, verdammt, verdammt.«
Tess strich über Rickards Arm. Neben ihm lag sein Cowboyhut, ein trauriges Symbol für seine Träume von einem anderen Leben, die sich niemals erfüllen würden. Sie schaute zu Marie hinüber. Vor der Spüle lag Dan Mårtensson mit weit geöffneten Augen und starrem Blick, das Blut pulsierte rhythmisch aus seinem Mundwinkel. Der hellgelbe Küchenschrank über ihm war mit Blut bespritzt. Die Schrotladung musste ihn aus zwei bis drei Metern Entfernung in die Brust getroffen haben. Vater und Sohn sahen sich tatsächlich verblüffend ähnlich, das war ihr schon bei der ersten Begegnung mit Dan Mårtensson aufgefallen. Die schmalen Augen, das braune Haar, das bei ihm allerdings an den Schläfen ergraut war.
Tess kniete sich neben ihn und fühlte seinen Puls. Er ging unregelmäßig und schwach. Dan wimmerte, und sie beugte sich über ihn, um ihm in die Augen sehen zu können.
»Dan Mårtensson, können Sie mich hören? Nicken Sie bitte, wenn Sie mich verstehen.«
Ein gurgelnder Laut kam aus seiner Kehle.
»Nicken Sie nur, wenn es geht. Hat Rickard auf Sie geschossen?«
Dan Mårtensson bewegte kaum merklich den Kopf, was sie als Nicken interpretierte.
»Was haben Sie mit Annikas Leiche gemacht?«
Mårtensson versuchte erneut, den Kopf zu bewegen, es gelang ihm jedoch nicht.
»Sie waren es, der sie getötet hat, ist das richtig? Sie hatten ein Verhältnis mit ihr.«
Er schloss die Augen.
»Können Sie mich hören?«
Sie brachte ihn in die stabile Seitenlage, damit er nicht an seinem Blut erstickte. Tess wollte alles tun, damit er überlebte.
»Sie kommen schon durch, Dan, aber ich nehme Sie wegen Annika Johanssons Verschwinden am achten Juni 2002 fest, und weil Sie anschließend ihre Leiche haben verschwinden lassen.«
Sie beugte sich noch näher zu ihm hinunter.
»Verstehen Sie mich? Liegt Annikas Leiche im Gyllebo-See? Nicken Sie, wenn Sie meine Frage verstanden haben.«
Dan röchelte. Tess schaute zu Rickard hinüber, dachte an die Begegnung mit ihm am See und daran, dass das halb ausgebrannte Auto ganz in der Nähe gefunden worden war. Dan Mårtensson konnte sehr wohl von dem Traktor gehört haben, den sein Sohn dort versenkt hatte. Und es war deutlich leichter, eine Leiche in einem See verschwinden zu lassen als auf dem stürmischen Meer, wo das Risiko bestand, dass sie wieder an Land gespült wurde.
Der Schneesturm pfiff ums Haus. Eine Uhr tickte. Tess richtete sich auf. Seltsam, dachte sie. Es lag trotz allem eine Art Frieden über der Küche, trotz der gewaltsamen Tragödie, die sich hier Sekunden vor ihrem Eintreffen abgespielt hatte. Der Tod verbreitete eine Atmosphäre der Ruhe und Wehmut.
Endlich näherte sich das Heulen der Krankenwagensirene.
Tess zog Dan Mårtensson einen Turnschuh aus und untersuchte ihn, er hatte Schuhgröße vierzig.
»Sie hatten ein Verhältnis mit Annika, stimmt’s? Sie waren zusammen auf der Freizeit in Blekinge. Annika wurde schwanger, und Sie bekamen Angst, Ihre Beziehung könnte auffliegen, Sie wollten das Kind nicht behalten. Vielleicht hat sie Sie auch erpresst? Darüber haben Sie sich dann in dem Wäldchen gestritten, anschließend ist es eskaliert, und Sie haben sie getötet. War es so?«
Dan Mårtenssons Kopf bewegte sich langsam und schwer.
»Dann hat er sich an jenem Abend also selbst das Alibi gegeben, und nicht Rickard«, stellte Marie fest.
Tess nickte.
»Die Polizei hat Rickards Version geglaubt: dass sein Vater unten im Schlafzimmer lag. In Wirklichkeit hat Rickard ihn gar nicht gesehen, er ist sofort in sein Zimmer gegangen. Rickard kam in ein leeres Haus. Als er morgens aufwachte, war sein Vater wieder da …«
Tess blickte noch einmal auf Dan Mårtensson hinunter.
»Er war’s, der in der Nacht nach Hause kam und sich die Spuren von der Auseinandersetzung mit Annika abwusch sowie von dem missglückten Versuch, den Ford des Valby-Mannes in Brand zu setzen.«
Das unruhige blaue Licht des Krankenwagens flackerte durch die Küche. Die Sanitäter hatten die Sirene ausgeschaltet.
»Wenn wir uns ganz auf das hier hätten konzentrieren können, statt diesen irren dänischen Mörder zu suchen …«
Es klopfte an der Tür.
»Hast du mal eine Plastiktüte für mich? Schnell!«
Marie stand auf, stolperte zu einer der Küchenschubladen und warf Tess eine durchsichtige Plastiktüte zu. Diese wischte damit ein wenig Blut von Dan Mårtenssons Wange ab und drehte dann das Äußere nach innen, machte einen Knoten und steckte die Tüte in ihre Jackentasche.
Wenn der kleine Fleck an dem Fetzen von Annikas Kleidung sich vergrößern ließ, wenn sie das Labor dazu bringen konnte, die Blutprobe möglichst bald zu untersuchen, konnten sie die Spuren am Tatort Dan Mårtensson zuordnen. Bis er vernehmungsfähig war, würde es noch lange dauern, wenn er überhaupt mit dem Leben davonkam.
Marie öffnete den Sanitätern die Tür. Weiteres Sirenengeheul näherte sich, und kurz darauf war auch die Polizei aus Simrishamn vor Ort. Plötzlich war die Küche voller Menschen.
Tess unternahm einen letzten Versuch, mit Dan zu sprechen.
»Nicken Sie bitte, wenn Sie mich verstehen. Der Gyllebo-See – ist Annika dort?«
Der Krankenwagenfahrer bat sie, beiseitezugehen.
»Sie müssen jetzt raus hier.«
Tess zog sich zurück.
»Der Mann steht unter Mordverdacht. Ich muss im Krankenwagen mitfahren und weiter versuchen, ihn zu verhören«, sagte Tess.
»Das geht nicht, er ist zu schlecht dran. Wir müssen zuallererst sein Leben retten.«
Auf einer Bahre wurde Dan Mårtensson hinausgetragen.
Als die anderen weg waren, ging Tess in das Schlafzimmer. Sie wollte ein paar Dinge prüfen, bevor die Techniker kamen und das Haus absperrten. Über dem Bett hing ein Gemälde in Rot, Gelb und Schwarz von einem berühmten dänischen Sänger. Tess betrachtete die Signatur, D.M., und begriff, dass er es selbst gemalt haben musste. Sie öffnete den Schrank und wühlte in seinen Sachen.
»Hast du die hier gesucht?«, fragte Marie und hielt eine blaue Trainingsjacke hoch.
Auf dem Rücken war ein silbernes, galoppierendes Pferd zu sehen, das Markenzeichen des Ford Mustang.
Tess stopfte die Jacke unter ihre eigene, dann verließen sie das Haus.