Das warme Licht der Kronleuchter in der Bee Bar wirkte nach dem Schneematsch auf den Straßen besonders einladend. Tess suchte nach bekannten Gesichtern, entdeckte aber keins. Die Bee Bar war eines der wenigen Lokale für Homosexuelle in Malmö.
Sie nickte dem Barmann zu, den sie flüchtig kannte, und setzte sich auf einen der Hocker, bestellte ein India Pale Ale und hängte ihre Tasche an einen Haken unter der Theke. Noch immer trug sie Dan Mårtenssons Trainingsjacke mit sich herum. Sie hatte noch nicht entschieden, was sie damit machen wollte. Im Gerichtssaal würde sie keine große Bedeutung haben, für sie aber war sie das entscheidende Beweisstück: Der Einsiedler hatte das Emblem mit dem galoppierenden Mustang eindeutig identifiziert.
Den ganzen Tag hatten die Medien über die Schüsse in Dan Mårtenssons Haus berichtet und über die jüngsten Ereignisse spekuliert. Bisher war es jedoch keiner Redaktion gelungen, eins und eins zusammenzuzählen.
Tess hatte ihr Handy ausgeschaltet. Am nächsten Morgen sollte eine Pressekonferenz zu den Annika-Ermittlungen stattfinden, die sie diesmal selbst leiten würde. Sie war sich noch nicht ganz sicher, was sie sagen wollte. Es gab viele Details, die auf Dan Mårtensson hindeuteten, und sie selbst hatte keinerlei Zweifel mehr, was am achten Juni 2002 passiert war. Sie hatte die Schuld in seinen Augen gesehen, als er in der Küche auf dem Boden lag. Und sie wusste, dass Anita Johansson ebenfalls von seiner Schuld überzeugt war. Annikas Leiche aber war noch immer verschwunden.
Tess hatte Annikas Mutter ein Grab versprochen, an dem sie sie besuchen konnte – ein gewagtes Versprechen, aber sie war fest entschlossen, es zu halten.
Tess trank einen Schluck und dachte an Tim Bergholm. Sie wusste, was sie eines Tages würde tun müssen. Im Moment aber nahm sie nur ihr Handy heraus und googelte Tims Namen. Dann klickte sie das nebenstehende Foto an und wurde weitergeleitet auf die Seite der Sydsvenskan.
15-jähriges FF -Malmö-Talent absolviert Probespiel für U-21, las sie und lächelte. Sie kannte Tims große Leidenschaft und sein fußballerisches Talent, und sie freute sich aufrichtig über seinen Erfolg. Auf den Bildern erkannte sie ihn von ihrem letzten Besuch vor ein paar Jahren noch gut wieder: das kurze braune Haar, sein ernster dunkler Blick.
Sie las weiter: Tim Bergholm, 15, FF Malmö, nutzte die Gelegenheit, in der Jugendmannschaft sein Können zu beweisen, und wird erstmals am Sonntag gegen Frankreich aufgestellt.
Beim Scrollen fand sie weitere Bilder von ihm im hellblauen Mannschaftstrikot. Sie sah sie sich an und verspürte das Bedürfnis, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Sie musste sich dringend noch einmal die zu den Akten gelegte Voruntersuchung zu dem Brand vornehmen, bei dem seine Mutter ums Leben gekommen war. Vielleicht ergab sich ja doch noch eine Möglichkeit, die Ermittlungen wiederaufzunehmen.
Das Klingeln ihres Handys riss sie aus den Gedanken. Lundberg.
»Bist du beschäftigt? Oder willst du hören, was ich herausgefunden habe?«
Lundberg wollte es ihr nicht am Telefon erzählen, und so zahlte Tess und ging. Am Bahnhof Triangeln nahm sie sich ein Taxi und fuhr zum Präsidium.
Im Eingang wäre sie beinahe mit Marie Erling zusammengestoßen. Sie wunderte sich, dass sie so spät noch hier war.
»Ich hab’s eilig, will zum Konzert nach Kopenhagen. Kommst du mit?«
Tess schüttelte den Kopf.
»Ich dachte, du hättest erst mal genug von den Dänen?«
Marie lachte und rückte ihren Nietengürtel zurecht.
»Ich habe gelernt, nicht alle über einen Kamm zu scheren.«
Tess musterte sie.
»Du gehst doch nicht etwa mit Morris hin?«
»Doch, genau das.«
»Mensch, Marie, du bist verheiratet und erwartest ein Kind!«
»Wir trinken nur Wasser, also auf Dänisch Tuborg grön. Er ist immer noch auf Entzug.«
»Das war nicht das, worauf ich hinauswollte.«
Marie wendete sich dem Ausgang zu.
»Alles gut, wir sind nur Freunde, gute Freunde. Ich kann ganz gut einen Psychiater im Bekanntenkreis gebrauchen. Du übrigens auch«, sagte sie und zeigte mit dem Finger auf Tess.
Tess nahm den Aufzug in die Abteilung Gewaltverbrechen. Alles war dunkel, bis auf das Licht, das aus dem Büro der CC -Skåne-Gruppe auf den Flur fiel. Am ovalen Konferenztisch saß Lundberg und las in den Akten.
»Er hatte einen Nebenjob im Krematorium in Ystad«, sagte er, ohne aufzublicken.
»Wer? Dan Mårtensson?«
Lundberg schob sich die Brille in die Stirn und nickte.
»Mehrere Jahre, parallel zu der Lehrerstelle in der Schule. Und auch zu der Zeit, als Annika verschwand.«
Tess setzte sich zu ihm. Lundberg hatte die letzten Stunden damit verbracht, alles zu sammeln, was sich über Dan Mårtenssons Vergangenheit herausfinden ließ, und die spärlichen Informationen zu ergänzen, die sie bereits von früher über ihn hatten: Beziehungen, Wohnungen, Jobs.
»Hast du auch herausbekommen, wann genau er jeweils Dienst hatte?«
»Hmh. Und genau hier wird es interessant.«
Lundberg schob ihr ein Blatt Papier zu.
Tess überflog den Vertretungsplan der Gemeinde, den Lundberg angefordert hatte.
»Zehnter Juni. Der Montag nach Annikas Verschwinden. Demnach arbeitete Dan Mårtensson zwei Tage nach Annikas Verschwinden im Krematorium von Österlen? Und du gehst davon aus, dass er an dem Morgen allein war?«
»Ja, laut dem Chef des Krematoriums, mit dem ich gesprochen habe, war das so üblich. Wer Frühschicht hatte, setzte die Öfen in Gang und begann mit der Arbeit. Und an diesem Morgen war das Dan Mårtensson.«
»Wo liegt das Krematorium?«
»Ein paar Kilometer außerhalb von Ystad.«
»Aber es würde doch auffallen, wenn plötzlich eine zusätzliche Leiche eingeäschert werden würde? Sie kennzeichnen die Urnen doch. Hätte er damit wirklich durchkommen können?«
Lundberg rieb sich nachdenklich das Kinn.
»Wie er das rein praktisch hinbekommen haben könnte, weiß ich nicht. Aber es ist doch ein interessanter Zufall und ziemlich delikat, findest du nicht?«
»Doch, auf jeden Fall«, sagte Tess und stützte den Kopf in die Hände. »In den Voruntersuchungsprotokollen stand nichts, aber auch gar nichts über diesen Nebenjob.« Sie schüttelte sich. »Wahnsinn!«
Dann blickte sie sich um und sah all die Blumensträuße, die immer noch auf den Schreibtischen standen. Kollegen aus dem ganzen Land hatten ihnen zur Festnahme des Valby-Mannes gratuliert. Sogar die Presse, die der Malmöer Polizei in den letzten Monaten alles andere als gewogen war, hatte sich dazu durchgerungen, ihren Einsatz zu loben. In der Sydsvenskan war eine lange Reportage über den Mann publiziert worden, der die Menschen in Malmö und Kopenhagen so viele Jahre in Angst und Schrecken versetzt hatte. Dazu war ein Foto von ihr selbst veröffentlicht worden, mit der Bildunterschrift: Super-Cop greift Valby-Monster.
Makkonen hatte sie aufgezogen: »Meinst du nicht, es wird langsam Zeit, dass du die alten Fälle beiseitelegst und als echte Polizistin draußen aufräumst?«
Tess stand auf, streckte sich und schaute zu Annikas Foto am Whiteboard hinüber.
»Wie viel Leid man hätte vermeiden können, wenn die Kollegen damals ihre Arbeit ordentlich gemacht hätten«, sagte sie.