Lange standen Tess und Anita Johansson vor dem Grabstein auf dem Friedhof von Snårestad, mitten in der wogenden Landschaft um Ystad.
»Das ist leider alles, was ich Ihnen geben kann«, sagte Tess.
Den gestrigen Tag hatte sie bei der Friedhofsverwaltung von Ystad zugebracht und Namen und Grabnummern herausgesucht. Es war nicht leicht gewesen, sich in dem Register über eingeäscherte Personen aus der Umgebung zurechtzufinden. Teile davon waren bereits digitalisiert worden, andere dagegen nicht.
Am Montag, den zehnten Juni, zwei Tage nach Annikas Verschwinden und an dem Morgen, an dem Dan Mårtensson im Krematorium Dienst hatte, waren drei Menschen eingeäschert worden: eine Frau und zwei ältere Männer. Ganz oben auf der Liste stand Elma Nilsson, geboren 1922 in Stora Herrestad, einem kleinen Dorf zwischen Ystad und Tomelilla.
Am Vormittag des zehnten Juni war ihre Leiche nach einem langen Leben und einem vermutlich natürlichen Tod im Krematorium von Österlen eingeäschert worden.
Siebenundvierzig Kilo, eins dreiundfünfzig groß, ein kleiner, schmaler Frauenkörper, dachte Tess. Da blieb genügend Platz für eine weitere Person im Sarg.
Auf dem Weg nach Ystad hatte Tess die Leiterin des Krematoriums angerufen und sich über die Details des Einäscherungsverfahrens informiert. War es möglich, zwei Leichen in einen Sarg zu legen und gleichzeitig zu verbrennen?
»Theoretisch wäre es möglich, klar, wenn die Leichen nicht zu groß sind. Nach achtzig Minuten in einem siebenhundert Grad heißen Ofen ist nur noch Asche übrig, wenn man von den Metallteilen absieht«, hatte die Frau ihr gesagt.
»Muss der Deckel während des Verbrennens geschlossen sein?«, fragte Tess weiter.
»Nein, die Öfen sind inzwischen ziemlich groß.«
»Und würde die Asche zweier Personen in eine Urne passen?«
Die Frau hatte nur geseufzt, aber schließlich eingeräumt, dass es durchaus möglich wäre, zumindest bei größeren Urnen.
Nach dem Telefonat hatte Tess in der Friedhofsverwaltung mithilfe der Ausweisnummer von Elma Nilsson deren Grabnummer herausgefunden. Es war die Nummer dreiundfünfzig, und dort standen sie jetzt.
Anita Johansson trat vorsichtig an den Grabstein heran. Es war ein Naturstein mit unregelmäßigen Kanten, auf dem eine tönerne Taube saß. Sie bückte sich und strich behutsam über den Stein. Das Grab schien nicht regelmäßig besucht zu werden, es wuchs lediglich ein wenig Heidekraut darauf, zwischen das sich kleinere Grasbüschel und hohe Disteln geschoben hatten. Anita steckte zwei Vasen mit roten Rosen in die Erde, eine kleine und eine größere.
»Ich kann mich erkundigen, ob der Platz daneben noch frei ist«, sagte Tess.
»Ich spüre, dass sie hier ist. Das genügt.«
Anita drehte sich um und setzte sich auf die Bank.
»Es ist jedenfalls ein schöner Ort, so ruhig«, sagte sie und schloss die Augen.
Die Zweige der Hängebirke über ihr waren über und über mit zarten Knospen besetzt, und auf der Wiese blühten violette und gelbe Krokusse.
Tess ließ Annikas Mutter auf der Bank zurück und ging zum Parkplatz. Am Tor drehte sie sich noch einmal zu ihr um.
Wenn Annikas Mutter der Gedanke, dass Annika hier war, genügte, dann genügte er Tess ebenfalls.