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Als sich der schmutzige graue Range Rover ihrem Haus näherte, war Niamh Dailey gerade dabei, ihre Hecke mit einer Haushaltsschere zu stutzen.
Sie richtete sich auf, schirmte die Augen vor der Sonne ab. Seit die Rumänen vor sieben Monaten nebenan in die Nummer 37 eingezogen waren, sah sie den Range Rover mehrmals die Woche, aber bisher hatte er noch nie direkt vor ihrem Gartentor geparkt.
Niamh wartete darauf, dass der Fahrer ausstieg, um ihn zu bitten, ein paar Meter vor sein Haus zurückzusetzen.
In einer halben Stunde würde ihr Sohn Brendan zum Mittagessen kommen, und wo sollte er dann parken, wenn die Shaughnessys mit ihrem gebrauchten, zum fahrenden Lebensmittelladen umgebauten Krankenwagen und dem alten, ständig auf Ziegeln aufgebockten Toyota die halbe Straße in Beschlag nahmen? Aber es verging fast eine halbe Minute, bevor sie die Fahrertür hörte und der hagere Rumäne auftauchte.
Seit sie ihn das erste Mal gesehen hatte, war Niamh der Ansicht: Könnte eine Ratte auf menschliche Größe anwachsen und auf den Hinterbeinen laufen, sähe sie genau wie Mânios Dumitrescu aus. Er hatte schwarzes, mit Grau durchsetztes, zurückgegeltes Haar, kleine funkelnde Augen und eine lange, spitz zulaufende Nase. Sein Schnauzer war schief geschnitten und seine beiden Vorderzähne ragten in unterschiedlichen Winkeln hervor, aber sein Kinn war so schwach ausgeprägt, dass es fast so aussah, als hätte er gar keines.
Er trug ein glänzendes braunes Nylonhemd, enge schwarze Jeans und brandneue, luftgepolsterte Nike-Schuhe, durch die es so wirkte, als würde er leicht hüpfen, als er sich ihrem Gartentor näherte. Er öffnete, ohne um Erlaubnis zu fragen, das Tor und kam in ihren Vorgarten. Er starrte sie unentwegt an, ging auf sie zu und stieß ihr den Finger in die Brust – ein-, zwei-, dreimal. Er war nicht groß, vielleicht 1,70 oder so, aber Niamh war selbst eine kleine Frau. Sein Kopf zuckte ruckartig, während er vor aufgestauter Aggression schnüffelte.
»Was denken Sie, was Sie da machen?«, fragte sie und klammerte sich an die Haushaltsschere. »Verschwinden Sie, bevor ich Dermot von nebenan rufe!«
»Du kannst rufen, wen immer du willst, du neugierige Hexe«, zischte Mânios Dumitrescu. »Du erzählst der Polizei von mein Mutter? Du warst es? Ich weiß, du warst es. Wer sonst?«
»Ihre Mutter hat das kleine Mädchen misshandelt«, entgegnete Niamh, obwohl es ihr schwerfiel, gelassen zu klingen. »Sie hat sie geschlagen und gezwungen, die ganze Hausarbeit zu erledigen, und sie hat sie bis nach Mitternacht wach gehalten, weil sie kein eigenes Bett hat. Und ich hab auch gehört, wie Sie
sie angeschrien haben, das arme kleine Ding!«
»Geht dich nichts an! Was passiert in dein Haus, geht dich an. Was passiert in mein Mutters Haus, geht mein Mutter an! Nicht dein, du neugierige Hexe!«
»Verschwinden Sie einfach«, verlangte Niamh. »Ich zeig Sie wegen unbefugtem Betreten an, und weil Sie mich stoßen.«
»Ach, du magst Stoßen nicht?«, fragte Mânios Dumitrescu und stieß ihr erneut den Finger in die Brust. Sie wich vor ihm zurück, aber ihr Garten war so klein und steil angelegt, dass sie sich nur in die Hecke drücken konnte. »Das ist noch gar nichts, glaub mir! Du sagst böse Worte über mein Mutter und ich sorg dafür, dass du nie wieder böse Worte über irgendwen sagst! Nu înţelegi?
Verstehst du nicht? Am tăiat limba Şi să-l mănâci la micul dejun!
Ich schneid dir die Zunge raus und geb dich dir selbst zum Frühstück!«
Niamh antwortete nicht, sondern starrte ihn nur an. Sie versuchte mutig zu wirken, hatte aber schreckliche Angst und sich sogar ein wenig nass gemacht.
Mânios Dumitrescu blieb noch einen Moment in ihrem Vorgarten, starrte sie bösartig an. Dann spuckte er auf den Boden und ging, ohne hinter sich das Tor zu schließen. Er ging nach nebenan ins Haus Nummer 37 und machte sich nicht einmal die Mühe, seinen Range Rover umzuparken.
Niamh ging in ihr eigenes Haus, stand zitternd in der Küche, als wäre ihr kalt. Sie hatte Angst, wenn ihr Mann Frank freitagabends aus dem Flying Bottle nach Hause kam, aber mehr als Geschrei, Schläge, Ohrfeigen und Haareziehen passierte nicht. Doch sie war davon überzeugt, dass Mânios Dumitrescu sie ernsthaft verletzen oder sogar töten würde. Wenn die Dumitrescus ein kleines, wehrloses Mädchen misshandeln konnten, wie sie es mit Corina getan hatten, verfügten sie offensichtlich über keinerlei menschliche Gefühlsregungen.
Sie ging zur Anrichte und nahm das Telefon. In ihrem mit Eselsohren versehenen Notizbuch fand sie die gesuchte Nummer und tippte sie langsam ein. Es klingelte eine ganze Weile, bevor jemand ranging, aber sie wartete geduldig. Schließlich fragte eine weibliche Stimme: »Ja?«
»Ist da Detective Sergeant ó Nuallán?«
»Ja. Wer spricht da?«
»Niamh Dailey aus Nummer 35 St. Martha’s Avenue in Grawn. Ich hab Sie wegen dem kleinen rumänischen Mädchen nebenan angerufen.«
»Oh, natürlich. Wie geht’s Ihnen, Niamh? Wir rechnen damit, dass Sie entweder morgen oder Freitag vor Gericht aussagen sollen, abhängig davon, wie der Terminplan aussieht. Ich werde mich entsprechend vorher bei Ihnen melden, damit Sie sich auf Ihre Aussage vorbereiten können, und ich lass Sie von ’nem Streifenwagen abholen.«
»Nun, um ehrlich zu sein, ich glaube, mir ist da ein Fehler unterlaufen.«
Niamh konnte sich deutlich vorstellen, wie Detective Sergeant ó Nuallán am anderen Ende der Leitung die Stirn runzelte.
»Fehler? Was für ’n Fehler?«
»Alles, was ich gesagt habe, was ich gesehen habe … Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich das wirklich gesehen habe. Und was ich gehört
habe – da bin ich mir auch nicht mehr so sicher.«
»Was versuchen Sie mir zu sagen, Niamh?«
»Ich versuche Ihnen zu sagen, dass ich nicht aussagen kann. Wie kann ich auf die Bibel schwören, wenn ich mir nicht mehr sicher bin?«
»Bei welchen Teilen sind Sie sich nicht mehr sicher? Wir können auch ’nen überzeugenden Fall vorbereiten, wenn Sie nur
gehört haben, wie man Corina misshandelt hat, oder wenn Sie sie nur bei der Hausarbeit gesehen haben und wie sie dem Baby die Windeln gewechselt hat, anstatt zur Schule zu gehen. Ihr körperlicher und psychologischer Zustand sprechen schon für sich.«
»Ich bin mir bei gar nichts mehr davon sicher. Tut mir leid.« Sie wollte auflegen, weil sie wusste, wie enttäuscht und frustriert Detective Sergeant ó Nuallán sein musste, aber gleichzeitig wusste sie, nichts würde sie umstimmen und dazu bringen, gegen die Dumitrescus auszusagen.
»Man hat Sie bedroht, stimmt’s? Wer war’s? Die Mutter? Oder dieser Mânios? Oder einer seiner Brüder? Niamh – wissen Sie, dass die Bedrohung eines Zeugen für sich schon ’ne Straftat darstellt?«
»Ich behaupte nicht, dass mich irgendjemand bedroht hat. Ich erinnere mich nur nicht mehr so deutlich daran, was nebenan passiert ist, und sonst nichts.«
»Ich komm vorbei. Wir können darüber reden. Sind Sie gerade zu Hause?«
»Nein, nein, ich verlasse gleich das Haus, um Dinge zu erledigen«, log Niamh. Sie wollte sich gar nicht erst vorstellen, was Mânios Dumitrescu tun würde, wenn 20 Minuten, nachdem er gedroht hatte, ihr die Zunge herauszuschneiden, ein Detective bei ihr auftauchte. Vielleicht würde man ihn verhaften, aber es stünde ihr Wort gegen seines und vermutlich würde man ihn gegen Kaution laufen lassen. Und selbst wenn man ihn in Gewahrsam behielt, wären da immer noch seine Mutter und seine beiden Brüder, über die sie sich Sorgen machen müsste, ganz zu schweigen von den Massen unrasierter Rumänen, die Tag und Nacht in Nummer 37 ein und aus gingen.
»Wenn Sie wollen, können wir uns um drei Uhr in dem Café bei Dunne’s treffen«, schlug sie vor. »Aber Sie werden mich nicht umstimmen, das verspreche ich Ihnen.«