21
Bevor sie am nächsten Morgen das Haus verließ, rief Katie Father Dominic bei Cois Tine an. Der Himmel war dunkelgrau und es regnete heftig. John stand mit einer Schüssel Müsli in der Küche und sah den Regentropfen dabei zu, wie sie die Fensterscheibe hinunterliefen.
»Ich bin so froh, dass Sie anrufen, Katie«,
sagte Father Dominic. »Faith Adeyemi und Amal Galaid waren gestern im Krankenhaus. Faith ist Nigerianerin und Amal Somali. Es dauerte nicht lang, bis sie festgestellt haben, dass Ihre kleine Isabelle Nigerianerin ist.«
»Nun, das ist zumindest ein Anfang.«
»Faith will sie noch mal gegen zehn Uhr besuchen, bevor sie zur Arbeit geht. Sie werden Faith mögen. Sie war auch mal Sexarbeiterin, aber Ruhama hat sie gerettet. Gott segne sie für die Arbeit, die sie leistet, und sie hilft ihnen dabei, andere Frauen aus der Prostitution zu befreien. Sie hat mir gesagt, dass sie gestern nicht besonders viele Fortschritte mit Isabelle gemacht hat, aber sie glaubt, sie hat ihr Vertrauen gewonnen. Sie sagt, Ihre Kleine hat große Angst, und nicht nur vor körperlicher Bestrafung.«
»Wovor denn noch?«
»Sieht so aus, als wäre sie sehr abergläubisch. Faith kann Ihnen da mehr sagen. Wenn Sie wollen, kann ich sie bitten, Sie heute Nachmittag im Garda-Hauptquartier anzurufen, sobald sie im Dunne’s Stores fertig ist. Sie arbeitet zur Mittagszeit im Café.«
»Nein – wie spät ist es jetzt? Wenn sie um zehn dort sein will, kann ich sie im Krankenhaus treffen. Ich möchte das Mädchen sowieso noch mal besuchen. Hat Faith eine Handynummer?«
»Wenn Sie wollen, kann ich sie anrufen, Katie, und ihr sagen, dass Sie vorbeikommen.«
John aß den Rest seines Müslis auf und räumte die Schüssel in die Spülmaschine.
»Eine Ahnung, wann du heute Abend heimkommst? Oder ist das zu spekulativ? Ich hab gehofft, ich könnte dich zum Abendessen ausführen, und wenn wir nur ins Gilbert’s gehen.«
Katie ging zu ihm, schlang die Arme um seine Taille und sah zu ihm auf, in seine Augen. »Sei nicht böse auf mich. Ich komm, sobald ich kann. Ich ruf dich an. Und ich schwör dir auf die Bibel, heute Abend lese ich den Rest deines Plans.«
John küsste sie, strich über ihr kupferfarbenes Haar. »Das mit der Marionette tut mir leid. Wir Meaghers sind seit jeher etwas kratzbürstig. Eigentlich hab ich das von meiner Mam. Sie hat gedacht, jeder will sie nur ausnutzen – sogar Gott.«
Als sie am Krankenhaus ankam, lichtete sich der Regen, und als sie Isabelles Zimmer betrat, schien die Sonne durch die feuchten Fenster. Isabelle saß in ihrem Bett und daneben saß eine dicke Afrikanerin in einem wild in Rot und Orange gemusterten Kleid. Die Frau trug ein kompliziert nach oben zu einem Kopfschmuck gefaltetes Seidenkopftuch und riesige Kreolen. Ihr Gesicht war breit und freundlich und sie hatte eine breite Lücke zwischen den Vorderzähnen.
Als Katie hereinkam, stand sie auf und reichte ihr die Hand.
»Hallo, ich bin Faith«, stellte sie sich vor. »Sie müssen Katie sein. Father Dominic hat mich angerufen und mir gesagt, dass Sie kommen. Entschuldigung. Ich weiß, Ihr Titel ist Chief Detective irgendwas, aber Father Dominic hat gesagt, es würde Sie nicht stören, wenn ich Sie mit Vornamen anspreche.«
»Katie geht in Ordnung, Faith. Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Wie geht’s dir heute Morgen, Isabelle? Du siehst schon sehr viel besser aus.«
Isabelle lächelte und Faith bestätigte: »Es geht ihr so
viel besser. Sie weiß jetzt, sie ist in Sicherheit. Du weißt doch, dass du jetzt in Sicherheit bist, nicht wahr, Lolade?«
»Heißt sie so? Lolade? Dann hör ich besser auf, sie Isabelle zu nennen.«
Das Lächeln des Mädchens wurde noch breiter. »Ich sage Faith, dass Sie sehr nette Person sind.«
Faith erläuterte: »Es hat ein wenig gedauert, aber Lolade hat keine Angst mehr, zu erzählen, was mit ihr passiert ist, nicht wahr, Lolade? Sie hat mir heute Morgen so viel erzählt.«
»Father Dominic hat Aberglauben erwähnt.«
»Stimmt. Lolade hat geglaubt, sie wäre verflucht. Man hat sie aus ihrem Heimatdorf in der Nähe von Ibadan im Südwesten Nigerias verschleppt. Das war vor ungefähr acht Monaten, soweit sie das sagen kann.«
»Wie hat man sie verschleppt?«
»Ihre Tante hat ihr gesagt, sie würde Arbeit als Putzfrau bei einer reichen Familie in Lagos bekommen, und dass sie ihren Eltern jeden Monat Geld schicken könnte. Aber ihre Tante ist auch am Menschenhandel beteiligt und man hat sie hergeflogen. Sehr wahrscheinlich hat man ihr gefälschte Papiere besorgt. In Nigeria gibt es viele Behörden, die einem für die richtige Summe Reisepapiere ausstellen.«
»Muttergottes. Es ist immer dieselbe alte Leier. Man möchte am liebsten heulen.«
»Aber es wird noch schlimmer. Bevor man sie hergebracht hat, hat ihre Tante sie zu einer Juju-Priesterin gebracht. Die Priesterin hat ein besonderes Ritual abgehalten, Lolade die Nägel und etwas Haar abgeschnitten und alles vor ihren Augen in einen Beutel getan. Sie hat Lolade gewarnt, wenn sie versucht wegzulaufen oder jemandem sagt, dass man sie zur Prostitution zwingt, würde sie der Blitz treffen und ihre ganze Familie würde krank werden.«
Katie nickte. »Unsere Leute von der Einwanderung haben mir erst kürzlich davon erzählt. Angeblich kommt es ziemlich oft vor, dass Menschenhändler auf diese Art dafür sorgen, dass ihre Mädchen tun, was man ihnen sagt, und nicht versuchen wegzulaufen. Ich glaub, wenn man so darüber nachdenkt, ist das auch nicht bizarrer, als wenn wir Katholiken glauben, unsere Seele stirbt, wenn wir Sex mit einer Ziege haben, beim Pokern schummeln oder irgendeine andere Todsünde begehen. Darum hat das arme Mädchen nicht mit mir gesprochen.«
»Genau.« Faith schob eine Hand über die Bettdecke und griff nach Lolades. »Aber ich hab ihr gesagt, dass mir auch eine Juju-Priesterin gedroht hat, bevor ich nach Irland gekommen bin. Man hat mich zwei Jahre lang gezwungen, in einem Bordell am Pope’s Quay zu arbeiten, und ich sag Ihnen, es war die Hölle auf Erden. Ich war eine Gefangene, hatte niemanden, mit dem ich reden konnte. Ich wurde nutzlos, bedeutungslos, hilflos und hoffnungslos. Ich hatte das Gefühl, alles tun zu müssen, was meine Zuhälter von mir verlangt haben, weil ich genauso viel Angst hatte wie Lolade. Die Juju-Priesterin hatte mir gedroht, ich würde in Flammen aufgehen, meine Haut verschmoren und dass mein Vater, meine Mutter und meine Brüder und Schwestern in Nigeria alle ersticken würden. Ruhama hat mich aus dem Bordell gerettet und eine nigerianische Schwester von Cois Tine hat mich letztendlich davon überzeugt, dass mir der Juju-Fluch nichts anhaben kann. Am Ende hab ich der Polizei alles
erzählt. Ich bin nicht in Flammen aufgegangen. Father Dominic hat es geschafft, mithilfe der Diözese der römisch-katholischen Kirche in Oyo Kontakt zu meiner Familie aufzunehmen, und keinem ist was passiert, weil ich was gesagt hab.«
»Was ist aus Ihren Zuhältern geworden?«
»Ich glaub, ein paar von ihnen hat man verhaftet und einen hat man deportiert. Natürlich wurden sie nicht annähernd hart genug für das bestraft, was sie mir angetan haben, aber ich versuch, nicht darüber nachzudenken. Das Wichtigste jetzt ist, dass ich mein Leben und meine Freiheit hab, und ich glaub an meinen wahren Wert als Person.«
Katie wandte sich an Lolade. »Hast du gehört, Schätzchen? Von jetzt an wirst du ein sehr gutes Leben haben. Jetzt hast du Leute, die dir helfen und dich mit Respekt behandeln – und dich nicht benutzen, als wärst du völlig wertlos.«
Lolade nickte. »Ich fühle mich jetzt glücklich. Ich mich lange Zeit nicht glücklich gefühlt.«
»Ich wollte dich wegen etwas fragen, das du im Krankenwagen zu mir gesagt hast. Wenn ich mich richtig erinner, klang es wie ›Rama Mal-ah-eeka‹
. Ich weiß nicht, was das heißen soll.«
Lolade sah Faith nervös an und packte ihre Hand fester. Was auch immer es bedeutete, offensichtlich beunruhigte es sie noch immer.
»Es bedeutet Racheengel«, erklärte Faith. »Die Frau, die Mawakiya getötet hat, so hat sie sich genannt. Lolade hatte nicht nur Angst, weil sie ihr gedroht hat, sie wie Mawakiya zu erschießen, wenn sie das Zimmer verlässt, sondern weil sie sicher war, sie ist eine Juju-Hexe.«
Lolade fuhr sich hastig zwei- oder dreimal mit der Hand über die Brust. »Sie trägt Juju-Halskette, wie die Hexe, die mich verflucht. Ich dachte, selbst wenn sie weg, sie kann mich noch immer töten.«
Katie öffnete ihren Aktenkoffer und nahm das von Detective Ryan aufbereitete CCTV-Bild von der Verdächtigen, die dem Mann im lila Anzug die Patrick Street entlang gefolgt war.
»Das
die Frau«, bestätigte Lolade heftig nickend. »Das Rama Mala’ika.«
Katie zeigte ihr ein anderes Bild, dieses Mal waren die Verdächtige und der Mann im lila Anzug zu sehen.
»Der Mann da – das Mawakiya. Er trägt diese Kleider, als er kommt in mein Zimmer. Er kommt für mein Geld. Er kommt jeden Tag für mein Geld. Er sagt mir auch, am Abend kommen zwei Männer. Sie mich wollen zur selben Zeit, vorne und hinten, und ich soll nett zu ihnen sein, weil sie seine besonderen Freunde.«
»Aber dann ist die Frau aufgetaucht?«
»Ja! Sie kommt durch Tür Peng!
wie Donner. Und sie zeigt mit Pistole auf Mawakiya. Und Mawakiya hat große, große Angst! Er geht auf Knie und sagt nicht wehtun, nicht wehtun! Aber sie sagt ich dich töte, wenn du nicht machst, was ich sage.«
Lolade wurde immer aufgewühlter und Faith streichelte ihr übers Haar. »Schhh, schhh, das ist jetzt alles vorbei. Niemand kann dir mehr wehtun.«
»Wenn es dich im Moment zu sehr aufregt, darüber zu reden, Lolade, kann ich später noch mal kommen«, schlug Katie vor.
»Ich will
Ihnen sagen«, beharrte Lolade. »Ich haben große Angst vor der Frau, aber Sie mir nicht wehtun und ich hasse Mawakiya. Es war schrecklich, wie sie ihn getötet, aber ich froh er tot. Ich könnte singen frohes Lied weil Mawakiya tot.«
»Hast du gesehen, wie sie ihm die Hände abgeschnitten hat?«
Lolade schüttelte den Kopf. »Die Frau sagt mir in Ecke setzen, umdrehen und mit Decke zudecken. Ich sehe nicht. Ich nur höre. Ich höre Frau sagt Mawakiya, soll ausziehen alle Kleider. Dann ich hören sie sagt, sie ihm schießt zwischen Beine und ihn macht zu Frau, dann er weiß wie ist Sklave sein.
Ich höre Mawakiya weinen. Noch nie ich haben gehört Mann so weinen, nur mein Großvater, als Großmutter stirbt. Ich nicht kann alles hören, was Frau dann sagt, aber viel Zeit dauert und dann ich ihn wieder höre weinen, aber anders, und er sagt immer wieder ›Ah!-ah!-ah!‹,
wie etwas ihm sehr wehtut.
Dann wieder viel Zeit dauert. Ich höre Geräusch wie ›tscheee-tscheee-tscheee‹, aber ich nicht weiß, was passiert. Ich ziehe Decke weg und umdrehen, ob Frau noch da. Mawakiya liegt auf Bett und so viel Blut. Dann ich sehe, er keine Hände mehr. Die Frau steht über ihm mit Pistole. Sie zeigt auf Mawakiyas Gesicht.«
»Sie hat bemerkt, dass du sie ansiehst, das hat sie aber nicht abgehalten?«
»Nein. Sie keine Angst. Sie schießt Mawakiya zwischen die Augen. Ihre Pistole sehr klein, aber sehr laut Peng!
Und seine Stirn verschwindet. Sie lädt Pistole und dann sie ihm schießt in Nase, und Rest von Gesicht auch weg.
Mir schlecht, als ich seh, was Frau mit ihm gemacht. Er hat kein Gesicht mehr, nur großes rotes Loch. Sie mir was sagt, aber ich nicht weiß, was. Wegen Lärm von Pistole ich nicht höre. Sie nimmt meine Decke und packt ein Mawakiyas Kleider, seinen Anzug, seine dreckige Unterhose, alles. Ich nicht sehe, was sie tut mit seinen Händen, aber als sie weg, Hände auch weg.«
»Aber sie hat dich gewarnt, wenn du versuchst, das Zimmer zu verlassen, wird sie dich genau wie Mawakiya töten?«
»Ja. Und ich denke, sie kann tun, auch wenn weg. Wegen ihrer Halskette ich denke, sie sein Juju-Hexe, und wegen Art, wie sie tötet Mawakiya. Er nicht kann in Himmel, weil er hat keine Hände zum Halten Speer und Schild, und kann nicht tragen Kriegsbemalung, weil er hat kein Gesicht. Er muss bleiben zwischen dieser Welt und nächster für immer. Man sagt sein wie Ertrinken in Sack, man nicht kann atmen, aber man nie stirbt.«
»Erzähl mir von Mawakiya. Was war sein richtiger Name?«
»Ich nicht weiß. Jeder ihn nennt Mawakiya, weil er immer singt und immer dasselbe Lied. Einmal ich höre eine Freundin von ihm ihn nennt Kola, aber nur einmal. Erster Tag ich in Cork ich nur sehe weiße Männer. Sie mich einsperren zwei Tage in diesem sehr kalten Schlafzimmer und ganze Zeit dieser große, fette Mann auf mich aufpasst, auch wenn ich gehe Toilette. Sein Name sein Bula-Bulan Yaro.«
»Das heißt ›fetter Mann‹«, warf Faith ein. »Wir kennen ihn. Er ist ein Illegaler, der für die Schleuser alle möglichen Aufgaben erledigt.«
»Bula, ja, den kennen wir auch. Er tapeziert Bordelle, fährt die Mädchen für Untersuchungen in Kliniken und so was. Für sich genommen nichts Kriminelles, aber auch nicht sehr moralisch. Soweit ich weiß, hat unsere Einwanderungsbehörde schon mindestens zweimal versucht, ihn abzuschieben. Ich glaub, seine Verteidigung ist, dass er ein Kind mit irgendeiner geschiedenen Frau in Farranree hat. Auf jeden Fall gibt es irgendwelche menschenrechtlichen Schwierigkeiten. Er hat nur niedrige Priorität, aber irgendwann erwischen wir ihn.«
Katie öffnete ihren Aktenkoffer und holte eine Dokumentenmappe mit noch mehr Fotos heraus. »Ich sag dir nicht, wer die Leute auf diesen Fotos sind, Lolade, aber ich will, dass du sie dir genau ansiehst und mir sagst, ob du jemandem davon schon mal begegnet bist oder ihn gesehen hast. Wenn ja, will ich, dass du mir sagst, ob du dich an irgendwelche Namen erinnerst oder wie sie sich vielleicht gegenseitig angesprochen haben oder sonst etwas, woran du dich erinnerst. Auch dann, wenn es für dich keinen Sinn ergeben hat, als sie es gesagt haben.«
Sie nahm sechs Fotos aus der Mappe und gab sie eines nach dem anderen Lolade. Beim ersten runzelte Lolade die Stirn und schob es zurück. »Diese Männer ich nie gesehen.«
»Das ist beruhigend. Einer davon ist Chief Superintendent Dermot O’Driscoll und der andere Councillor Charles Clancy, unser derzeitiger Oberbürgermeister. Das war nur ein Test, tut mir leid.«
Das zweite Foto sah sich Lolade sehr viel länger an. Schließlich tippte sie mit dem Fingernagel nachdrücklich darauf. »Dieser Mann zu mir kommt, nachdem man mich gebracht nach Cork. Es war in Wohnung mit anderen Mädchen. Ich nicht weiß seinen Namen, aber bevor er kommt, die Mädchen immer wieder gesagt: ›Er Selbst wird gleich hier sein‹.«
»Niemand hat seinen Namen gesagt, als er da war?«
»Ich nicht glaube. Aber ich haben große Angst und ich nicht weiß, was mit mir wird passieren. Ich nicht zugehört, was die Mädchen sagen.«
»Hat er
etwas gesagt, woran du dich erinnerst?«
»Er mich ansieht und lächelt und sagt, ich bin Süße. Ich ihn fragen, was er will, dass ich mache, und er überrascht, dass ich spreche gut Englisch. Ich ihm sage, dass ich haben besten Lehrer in meiner Schule, Mister Akindele. Er sagt, weil ich spreche gut Englisch, das mir hilft bei Arbeit, freundlich sein zu Kunden. Dann er mir sagt, ich mich soll ausziehen.«
»Und was hast du gesagt?«
»Ich sage Nein. Aber er sagt, sein wichtige Gesundheitsprüfung. Er sagt, ich nicht kann arbeiten, bis er nicht sicher, dass ich gesund, ich nicht haben Hautproblem oder so was. Eine der Frauen war bei uns im Zimmer und sie sagt, es sein in Ordnung, sie bleibt. Ich ziehe also meine Kleider aus, aber vor fremdem Mann ich fühle sehr – ich nicht weiß Wort. Wie schämen.«
»Verlegen«, half Katie aus. »Aber was hat dieser Mann dann gesagt?«
»Als er mich sieht ohne Kleider, er sehr wütend! Er fragt die Frau, wie alt ich sein. Er sagt: ›Sieh sie an, sie nur ein Kind!
‹, er sagt: ›Willst du mich liefern?‹ Ich nicht weiß, was er meint mit ›liefern‹. Er immer wieder sagt: ›Ich bin geliefert, du dumme Frau, ich bin geliefert!‹. Ich will, dass er nicht mehr so wütend, und sage ihm, ich schon 13. Aber dann er wird noch wütender. Ich nicht kenne Gesetz in Irland – ich glaube, er wütend, weil er denkt, ich lüge. Zu Hause ich haben Freundin, die heiratet mit elf und ihr Mann sein 49, darum ich denke, das macht alles gut. Aber er noch immer so wütend. Und ich haben keine Kleider an.«
Die Erinnerung versetzte Lolade nur noch mehr in Aufruhr, sodass sie die Arme fest um die Knie geschlungen in ihrem Bett vor und zurück schaukelte. Katie lehnte sich zurück und gab ihr Zeit, sich zu beruhigen.
»Komm, Schätzchen, wie wär’s mit einem Schluck Wasser?«, schlug sie vor. »Vielleicht möchtest du eine halbe Stunde Pause machen. Ich kann mir vorstellen, wie schlimm das für dich ist.«
»Nein,
ich werde es Ihnen sagen! Ich muss
es Ihnen sagen!«
»Na schön. Nur nicht aufregen. Ich versteh ja. Also, was ist dann passiert, nachdem Er Selbst so wütend geworden ist?«
»Er telefoniert und kurzes Zeit später Mawakiya kommt in Wohnung. Ich nicht mag Mawakiya, er sieht aus wie Art von Teufel mit einem Auge rot und schlechten Zähnen und er riecht nach Parfüm. Er Selbst sagt zu Mawakiya: ›Nimm das Mädchen und bring alle Kniffe bei. Bring sie zurück in fünf Jahren‹.«
»So bist du also in der Lower Shandon Street gelandet und wurdest von Mawakiya prostituiert?«
Lolade flüsterte: »Ja.«
Faith sagte: »Wir wissen nicht, wie Mawakiya so lang unbemerkt geblieben ist. Aber jetzt, da er tot ist, kommen die Mädchen, die er ausgebeutet hat, zu uns und zu Ruhama und den Sozialstellen und suchen verzweifelt Hilfe. Natürlich haben sie kein Geld. Manche von ihnen haben kaum Kleidung und ohne ihn sind sie hilflos. Und sie sind alle so jung, 15 oder 16. Es zerreißt einem das Herz.«
»Man kann verstehen, warum Er Selbst nichts mit ihnen zu tun haben wollte. Man hätte ihn wegen Kinderhandel und Missbrauch von Kindern unter 15 belangen können, beides Straftaten, die zu lebenslanger Haft führen können. Vielleicht hätte man ihn auch der vorsätzlichen Gefährdung angeklagt, wofür er noch mal zehn Jahre bekommen könnte.«
Sie gab Lolade noch ein Foto. »Ja, das sein selber Mann. Die Frau ich nicht kenne.«
»Was ist mit diesem
Mann? Erkennst du ihn?«
Lolade betrachtete das vierte Foto und nickte. »Ich ihn kenne, ja. Sechs- oder siebenmal er kommt für Sex mit mir, aber er nie zahlt. Ich denke, er arbeitet für den Mann, den sie nennen Er Selbst. Drei- oder viermal ich sehen, wie er schlagen Mädchen.« Sie hob die Faust, drehte sie langsam um. »Ein Mädchen er so ziehen an den Haaren, und drehen und drehen, sie schreien und schreien. Dann er schlagen ihren Kopf gegen Wand.«
Katie zeigte Faith das Foto, die sich bekreuzigte. »Dessie O’Leary. Die Mädchen nennen ihn alle Mister
Dessie. Es gibt kein Wort, mit dem ich diesen Mann beschreiben kann, ohne dass ich danach fünf Ave Maria aufsagen und mir den Mund mit Kernseife ausspülen muss.«
Als Nächstes zeigte ihr Katie die Fotos von dem Mann, den Lolade nur als »Er Selbst« kannte.
»Michael Gerrety. Und hier ist er mit seiner Frau, Carole.«
»Michael Gerrety«, wiederholte Faith und rümpfte angewidert die Nase. »Noch mehr Ave Marias! Und noch sehr viel mehr Kernseife!«
»Ja. Aber Lolade hat uns gerade gesagt, dass Gerrety sie an einen Dritten weitergegeben hat, namentlich Mawakiya, mit dem ausdrücklichen Auftrag, sie zu prostituieren – wie sonst sollte man ›Nimm das Mädchen und bring ihr alle Kniffe bei‹ sonst verstehen? Und Lolade ist erst 13. Mit anderen Worten, wir haben eine Zeugenaussage aus erster Hand, dass Gerrety des Menschenhandels schuldig ist und der vorsätzlichen Gefährdung, mindestens. Im Moment kann ich Ihnen keine spezifischen Details geben, Faith, aber wir sind auf der Suche nach mehr Beweisen gegen ihn, und das kann unserem Fall nur von Nutzen sein.«
Katie schob die Fotos zurück in die Mappe. »Lolade, du warst einfach nur unglaublich. Ich weiß, wie schwer das für dich war, aber glaub mir, von jetzt an geht’s bergauf. Ich komm dich am Wochenende noch mal besuchen. Vielleicht hab ich dann noch ein paar Fragen, aber das Wichtigste für dich ist, dass du dich erholst.«
Bevor sie ging, umarmte sie Faith. »Und was Sie angeht, Faith, Sie sind ein Stern. Danke für alles, was Sie für Lolade getan haben.«
»Ein Stern?«, fragte Faith, und Katie erkannte den Schmerz in ihrem Blick. »Ich war mal ein gefallener
Stern. Aber wissen Sie, Katie – auch ein gefallener Stern kann wieder in den Himmel aufsteigen, immer höher, und dann strahlen. Vielleicht nicht so rein wie vorher, aber genauso hell!«