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Bevor sie das Krankenhaus verließ, ging Katie runter ins gerichtsmedizinische Labor. Ein junger rothaariger Pathologe starrte verdrossen einen schattenreichen Scan eines Darmtumors an, aber Dr. O’Brien war noch nicht da. In gewisser Weise war Katie erleichtert. Dr. O’Brien hätte darauf bestanden, ihr die beiden verstümmelten Mordopfer zu präsentieren und wie er die Haut ihrer Gesichter zusammengesetzt hatte, und ihr Magen war einfach nicht in der Lage, mit Knorpeln, Bindegewebe und dem alles durchdringenden süßlichen Geruch von verwesendem Fleisch zurechtzukommen. Es fiel ihr schon schwer genug, den Ananassaft drin zu behalten, den sie anstelle eines Frühstücks runtergestürzt hatte. Sie hinterließ Dr. O’Brien eine Notiz, er solle sie anrufen.
Bevor sie den Parkplatz des Krankenhauses verließ, überprüfte sie ihre Textnachrichten, 15 insgesamt. Chief Superintendent O’Driscoll wollte mit ihr sprechen, sobald sie wieder in der Anglesea Street war. Detective Sergeant ó Nuallán hatte das Studio gefunden, in dem sich Mawakiya hatte tätowieren lassen – aber es gab »Komplikationen«, die sie nicht näher erläuterte, über die sie aber »schleunigst!!« sprechen musste.
Detective O’Donovan schrieb ihr, dass die CCTV-Bilder der jungen Afrikanerin am vorigen Abend in den Nachrichten auf RTÉ zu sehen gewesen waren, und das hatte bislang zu 38 Reaktionen geführt, von denen eine ein Heiratsantrag war. Aber keiner konnte ihnen sagen, wer sie war, woher sie kam oder wo sie sich im Moment aufhielt.
Maureen Quinn, die Phantombildzeichnerin, hatte eine vorläufige Version von Mawakiyas Gesicht eingereicht. Sie hatte die Zeichnung eingescannt und Katie geschickt, damit die einen Blick darauf werfen konnte, aber sie war mit ihrer Arbeit selbst nicht ganz zufrieden. »Ich hab ihn zum Troll gemacht! Soll ich es noch mal versuchen?«
Der Pressebeamte der Garda Declan O’Donoghue meldete, dass er eine Anfrage von Branna MacSuibhne vom Evening Echo
wegen eines »ausführlichen Interviews« bezüglich des Kampfs der Garda gegen Sexsklaverei und Laster bekommen hatte – »das mir Detective Superintendent Maguire persönlich versprochen hat«. Muttergottes,
dachte Katie. Gibt die denn nie Ruhe?
Von John hatte sie eine Textnachricht bekommen, dass er ihnen für 19:30 Uhr einen Tisch im Obergeschoss der Bierstube The Rising Tide in Glounthaune Village reserviert hatte. »Hoffentlich kommen wir endlich mal dazu, zusammen zu Abend zu essen??«
Katie überflog ihre restlichen Nachrichten, um sich einen Überblick zu verschaffen, wer sie geschickt hatte, aber der Großteil waren Routineupdates aus dem Garda-Hauptquartier in Phoenix Park in Dublin. Unter anderem informierte man sie darüber, dass es einen neuen Versuch geben werde, die Summe der Verkehrstoten am »Fatal Friday«, dem Tag mit den meisten Verkehrsopfern in Irland, zu reduzieren. Die konnte sie sich später noch ansehen, eine las sie aber, eine Einladung, in der man sie bat, bei einem medizinischen Kongress in Kinsale eine Tischrede über »Drogen und das Gesetz« zu halten. Vor zwei Jahren hatte sie bereits an einem dieser Kongresse teilgenommen, und sie konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als den Abend mit 200 betrunkenen Ärzten in Abendgarderobe zu verbringen, von denen jeder Einzelne überzeugt war, seine berufliche Qualifikation sei ein Freifahrtschein, jede gut aussehende Frau im Raum zu begrapschen.
In der Kantine kaufte sie sich einen Latte und ein Käse-Tomaten-Sandwich. Aber sie hatte ihr Büro noch nicht einmal erreicht, als Chief Superintendent O’Driscoll seine Tür öffnete: »Katie! Da sind Sie ja! Ich hab schon auf Sie gewartet!«
»Oh, entschuldigen Sie, Sir. Ich war zuerst im Krankenhaus, um mit Isabelle zu reden. Nun, wie sich herausgestellt hat, ist ihr richtiger Name Lolade. Dank einer netten Dame von Cois Tine hat sie endlich angefangen zu sprechen. Und es wird Sie freuen zu hören, dass sie mir ein paar äußerst belastende Beweise gegen Michael Gerrety und Desmond O’Leary geliefert hat.«
»Nun, das ist gut. Hören Sie, Sie können mir das alles später erzählen. Wenn Sie wollen, bringen Sie Ihren Kaffee mit und kommen Sie rein. Mein Ersatz ist hier und ich möchte Sie einander vorstellen. Na, vorübergehender Ersatz.«
Katie wollte »Geben Sie mir einen Moment, Dermot« sagen, aber er öffnete seine Bürotür noch weiter, und an seinem Schreibtisch sah sie einen kleinen Mann in Uniform mit Stiernacken, der sofort aufstand und ihr die Hand entgegenstreckte.
Katie betrat das Büro, stellte ihren Aktenkoffer unbeholfen neben das Bücherregal und legte ihr Sandwich neben eine ledergebundene Ausgabe des Strafgesetzbuchs ins Regal.
»Das ist Superintendent Bryan Molloy vom Revier in der Henry Street in Limerick«, stellte Chief Superintendent O’Driscoll den Kollegen vor. »Er hält das Schiff auf Kurs, während ich bei meiner Behandlung bin.«
Katie schüttelte Superintendent Molloys Hand, nickte und sagte: »Ja. Wir sind uns schon mal kurz begegnet. Das war bei einem Seminar in Tip über den Umgang mit Travellern.«
»Stimmt«, sagte Superintendent Molloy. »Ich glaub mich dran zu erinnern, dass DS Maguire hier im Umgang mit Knackern so ’ne Art butterweiche Samthandschuhmethode vorgeschlagen hat. Ihr Vertrauen gewinnen, ihren Lingus lernen, dafür sorgen, dass ihre Kinder zur Schule gehen und länger als fünf Minuten bleiben.«
»Ich bezeichne sie normalerweise nicht als Knacker«, erwiderte Katie. »Meiner Meinung nach gibt es so schon genug Spannungen zwischen der Gemeinschaft der Traveller und uns. Aber ich glaub auch nicht, dass ich sie ›butterweich mit Samthandschuhen‹ behandle. Wenn ein Traveller das Gesetz bricht, wird er genau wie jeder andere verhaftet.«
Superintendent Molloy gab ein Geräusch wie ein Partyballon, kurz bevor man ihn zuband, von sich. »Ich liebe es zu hören, wenn ’n weiblicher Beamter wie ’n Zuchtmeister redet! Fifty Shades of Blue!«
Katie erinnerte sich noch sehr gut an Superintendent Molloy. Er hatte nicht nur all ihren Vorschlägen zur Verbesserung der Beziehungen zu den Travellern widersprochen, er hatte den ganzen Abend in der Bar gestanden und lautstark über die Beförderung von Frauen zu leitenden Beamten der Garda gelästert, und immer in Hörweite zu Katie und ihrem Team.
Sie erinnerte sich an fast jedes einzelne seiner Worte. »Jedes Garda-Revier braucht jemanden, der Tee kocht, die Bude blitzblank hält und den geschlagenen Ehefrauen die Nasen abwischt, wenn sie wieder wegen ihrer betrunkenen Ehemänner rumheulen. Dafür
sind Frauen da! Was sollen wir machen, wenn die alle zu hohen Tieren befördert werden? Uns unseren beschissenen Tee selbst kochen?«
Katie beurteilte jemanden selten nach dem Aussehen. Michael Gerrety mochte gut aussehen, aber er war alles andere als freundlich. Superintendent Molloy hingegen sah wie ein Rüpel aus und war auch einer. Sein stoppeliges Haar war sehr kurz geschnitten, grau an den Seiten und oben schwarz. Seine blauen Augen schienen ständig aus den Höhlen zu treten, auch wenn er ganz ruhig war, und wenn man mit ihm sprach, sah er einen angriffslustig an, als könnte er es gar nicht erwarten, das Wort zu ergreifen und einem zu widersprechen.
Er hatte eine Himmelfahrtsnase, aus der schwarze Härchen sprießten, und einen streitsüchtigen Mund. Seine Ohren waren groß und ungewöhnlich rot, und wenn er mit ihr sprach, musste Katie sie die ganze Zeit anstarren. Sie nahm sich vor, »sehr rote Ohren« zu googeln, um festzustellen, ob das ein Anzeichen für hohen Blutdruck war.
Superintendent Molloy sagte: »Dermot hat mir die Hintergründe der beiden Mordfälle genannt, an denen Sie zurzeit arbeiten. Die mit den fehlenden Händen und den in die ewigen Jagdgründe gepusteten Köpfen. Wie geht’s damit voran?«
»So langsam fügt sich alles zusammen. Wir haben eine mögliche Verdächtige, auch wenn wir sie noch nicht identifiziert haben. Ich glaub, wir haben auch bald ein Motiv.«
»Und was denken Sie, wie das aussieht? Die Verdächtige ist Afrikanerin, oder?«
»Ja, und ich glaub, das könnte auch die Art erklären, wie die Opfer verstümmelt wurden, aber ich bezweifle, dass das viel damit zu tun hat, warum
sie getötet wurden. Soweit wir das sagen können, ist das afrikanische Opfer ein örtlicher Zuhälter und zwielichtiger Geselle mit dem Spitznamen Mawakiya, während das weiße Opfer vermutlich ein rumänischer Zuhälter namens Mânios Dumitrescu ist.«
Superintendent Molloy hob die Augenbrauen. »Ah … Also denken Sie, diese Afrikanerin könnte ’ne ehemalige Nutte sein, die sich an zwei Zuhältern gerächt hat, weil die sie aufs Kreuz gelegt haben? Kommt vor, so was. Letzten Sommer hatten wir in Limerick genau so einen Fall. Drei der örtlichen Nutten sind zu dem Ergebnis gekommen, dass sie keine Lust mehr haben, so viel von ihrem hart verdienten Geld an ihren Zuhälter abzugeben. Sie haben seinen Kopf in der Tür eines alten Kühlschranks eingeklemmt, der in seinem eigenen Vorgarten herumstand, und sind dann mit ’nem Auto reingekracht. Hat ihn nicht geköpft, aber viel hat nicht gefehlt.«
»Ich habe keine Beweise dafür, dass unsere Verdächtige eine Prostituierte ist oder jemals war«, widersprach Katie.
»Ach, kommen Sie, was denn sonst? Afrikanerin auf der blutrünstigen Jagd nach Zuhältern? Das ist ’ne logische Schlussfolgerung.«
»Es ist eine Annahme, und ich nehme nichts an. Annahmen sorgen dafür, dass Fälle vor Gericht abgewiesen werden. Denken Sie an die Anklagen, die wir letztes Jahr gegen die Bordellbetreiber in County Louth erhoben haben. Die Gardaí haben sich beim Betreten des Gebäudes nicht identifiziert, weil sie ›angenommen‹ haben, die Bordellbetreiber würden wissen, dass sie das Gesetz vertreten. Der Richter hat zugestimmt, dass mit der fehlenden Identifizierung die Gültigkeit ihrer Zutrittsbefugnis hinfällig war. Fall abgewiesen.«
»Pffff – das war nichts als ’ne legale Formsache!«, widersprach Superintendent Molloy, wobei er abweisend winkte. »Wovon wir bei diesem
Fall reden, ist ’n Motiv, das so offensichtlich ist, dass man schon mit dem Kopf unter der Decke im Bett liegen muss, um es nicht zu erkennen. Sie müssen nur herausfinden, welche Mädchen für diese beiden Drecksäcke gearbeitet haben – und das
sollte Ihrem hübschen Köpfchen wirklich nicht zu viele Probleme machen. Überprüfen Sie einfach ihre Websites, wenn sie welche haben, und ihre Anzeigen in den örtlichen Zeitungen, und Sie sind schon fast fertig mit der Arbeit.«
»Natürlich tun wir das bereits. Bei Mawakiya ist es ein wenig schwieriger, weil er bis jetzt unter unserem Radar geflogen ist.«
»Und was genau soll das bedeuten?«
»Dass ein paar Leute in der Stadt wussten, dass es ihn gibt, aber aus irgendeinem Grund haben wir
nie von ihm gehört. Der Koch in einem der afrikanischen Restaurants in der Lower Shandon Street hat ihn ziemlich oft gesehen und anscheinend hatte er immer ein paar sehr junge Mädchen dabei. Ein paar kleine Drogenhändler kannten ihn auch und ein paar jugendliche Straftäter, die man bei Smiley’s beim Reifenklauen erwischt hat. Aber das war auch sein Arbeitsgebiet. Unbedeutende Zuhälterei, unbedeutender Drogenhandel und unbedeutende Diebstähle, sonst nichts. Gelinde gesagt scheint es ein wenig extrem, dass sich eines seiner Mädchen die Mühe machen würde, ihn zu zwingen, sich die Hand abzutrennen, ihm danach die andere zu amputieren und ihm als Finale zwei Schrotladungen ins Gesicht zu feuern.«
Sie schwieg einen Moment, aber bevor Superintendent Molloy etwas sagen konnte, fuhr sie fort: »Da ist noch was. Sie hat sie mit einer neuen Art von Winchester-Schrotpatrone erschossen und sie benutzt vermutlich eine recht neue Art von Pistole. Eine Selbstschutzwaffe anstatt einer langläufigen Schrotflinte wie die, mit denen man Tontauben schießen geht. Wir müssen uns fragen, wo sie sie gekauft hat – oder wo sie überhaupt von der Existenz dieser Waffe erfahren hat.«
Superintendent Molloy schüttelte den Kopf. »Da sehen Sie’s, Dermot! Was hab ich Ihnen gesagt? Wenn man ’ner Frau einen einfachen Fall zu lösen gibt, hat sie ihn in kürzester Zeit genauso verheddert wie ihre Strickwolle!«
Katie antwortete: »Nun, Bryan, wenn Sie wollen, können wir uns später darüber unterhalten. Ich kann Ihnen die bisherigen Pathologieberichte zeigen, die Zeugenaussagen und die forensischen Beweise unserer Spurensicherung.«
»Vielleicht können wir uns ja heute beim Abendessen darüber unterhalten«, schlug Superintendent Molloy vor.
»Wie bitte?«
»Ich hab gesagt, vielleicht können wir uns beim Abendessen darüber unterhalten. Ich wohne im Jury’s, bis man mir etwas Dauerhaftes besorgt. Wir hätten Gelegenheit, uns besser kennenzulernen, und Sie hätten die Möglichkeit, mich über alle vorliegenden Beweise zu informieren.«
»Tut mir leid, Bryan, ich hab heute Abend schon was vor.«
»Oh!« Superintendent Molloy drehte sich auf dem Absatz um, als würde er sich skeptischen Geschworenen zuwenden. »Und das ist wichtiger, als dass wir uns darüber beraten, wie wir zwei schwerwiegende Mordfälle angehen sollen, deren Täter noch auf freiem Fuß ist? Ganz zu schweigen von den ganzen anderen kriminellen Aktivitäten, die in dieser nicht ganz so schönen Stadt vor sich gehen?«
»Ich hab gesagt, dass es mir leidtut, Bryan, aber das ist eine Verabredung, die ich wirklich nicht absagen kann. Morgen hab ich eigentlich frei, aber wenn Sie wollen, komm ich gegen elf vorbei und tu mein Möglichstes, um Sie auf den neuesten Stand zu bringen.«
Superintendent Molloy plusterte die Backen auf. »Das ist das erste Mal, dass mir eine Frau einen Korb gibt. Ich bin erschüttert! Zutiefst erschüttert!«
»Wir sehen uns morgen früh«, antwortete Katie.
Sie nahm ihren Aktenkoffer und ihr Sandwich, und Chief Superintendent O’Driscoll öffnete ihr die Tür.
Auf dem Flur fragte Katie: »Wie geht’s Ihnen, Dermot? Sie sind etwas blass, wenn ich das so sagen darf.«
Chief Superintendent O’Driscoll bedachte sie mit einem matten Lächeln. »Ich mach noch klar Schiff, Katie. Ich hab meine Pyjamas schon fürs Krankenhaus gepackt, hab versucht, Bryan alle Informationen zu geben, die er braucht, aber ich weiß, Sie werden ihn unterstützen.«
»Natürlich, Dermot. Das ist meine Aufgabe.«
Chief Superintendent O’Driscoll griff hinter sich, schloss die Tür, damit Superintendent Molloy sie nicht hören konnte.
»Ich weiß, es wird nicht leicht sein, mit ihm auszukommen. Es gibt noch zu viele bei der Truppe, die wie er denken. Aber einer der Gründe, warum er den Posten so schnell bekommen hat, ist, dass er in Phoenix Park einflussreiche Freunde hat. Lassen Sie sich eins gesagt sein, Katie: Wenn Sie wirklich weiterkommen wollen, versuchen Sie ihn sich nicht zum Feind zu machen. Er könnte Ihnen sehr behilflich sein. Wenn es Noirin O’Sullivan zum Deputy Commissioner der Einsatzleitung bringen kann, dann können Sie das auch. Vielleicht sogar bis zum Commissioner.«
»Ich komm mit Bryan Molloy schon klar«, versprach Katie. »Erinnern Sie sich? Ich war mit Paul verheiratet, und er war der Meinung, Frauen taugen nur für zwei Dinge. Und eins davon war Geschirrspülen. Aber ich mach mir um Sie Sorgen, Dermot. Versprechen Sie mir, dass Sie sich melden und mich wissen lassen, wie’s läuft. Ich komm Sie im Bon Secours besuchen und bring Ihnen etwas von Ailishs Barmbrack mit.«
Chief Superintendent O’Driscoll schloss Katie in die Arme und küsste sie. Als er sich wieder löste, hatte er Tränen in den Augen.
»Wissen Sie, Katie, seit ich vor 30 Jahren bei der Garda angefangen hab, hab ich zum ersten Mal Angst.«