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AM NÄCHSTEN Morgen machte ich mich auf den Weg zu Bowery Bagels. Meine Freunde hielten mich für verrückt, weil ich einen so langweiligen Job wie Bagels für den Mindestlohn zu verkaufen angenommen hatte. Die frühe Arbeitszeit passte nicht zum Lebensstil des Rock ’n’ Roll. Bis um drei Uhr nachts zu feiern und dann um fünf Uhr aufzustehen, um die Kunden höflich zu fragen, ob sie Frischkäse auf ihrem Bagel haben möchten, klang ... wie die Hölle. Aber meine Verrücktheit hatte Methode. Ich kannte mich. Ich war diszipliniert, solange ich mir selbst Grenzen setzte. Wenn ich mir zu viele Freiheiten zugestand, würden meine Freunde sich abwechseln müssen, mich jede Nacht aus der Bar nach Hause zu tragen.

Meine Tendenz, Grenzen auszutesten, war vermutlich eine Folge meiner lockeren Erziehung. Meine Eltern waren toll, aber sie scherten sich nicht um Regeln. Sie hatten meiner Schwester und mir beigebracht, Autoritäten stets zu hinterfragen und Grenzen auszutesten. Regeln gab es nur, wenn es um Leben und Tod oder die ‘gesellschaftliche Harmonie’ ging, wie sie es nannten. Ich war ein frecher Bengel gewesen, das wahrscheinlich mehr Freiheiten gehabt hatte, als einem Vierzehnjährigen zustanden. Ich war davon überzeugt, dass meine Meinung etwas zählte. Es gab einfach zu viele dumme Erwachsene auf der Welt. Basta. Ich war sicher, dass ich mit meiner Meinung im Recht war, als Seths Dad ihn zusammengeschlagen hatte, nachdem er uns im Keller beim Küssen erwischt hatte, als wir fünfzehn waren. Wer zum Teufel macht denn so etwas? Ich war wutentbrannt. Seth kam in eine Pflegefamilie, als klar wurde, dass seine Eltern ihren Sohn nicht akzeptieren würden, sondern eine Bedrohung für ihn darstellten.

Wenn das das sogenannte erwachsene Benehmen war, dann wollte ich damit nichts zu tun haben. Seth und ich haben in jeder nur erdenklichen Weise rebelliert. Wir haben eine Band gegründet, waren bis spät in der Nacht unterwegs, tranken Alkohol, nahmen Drogen und fickten wie die Karnickel. Meine Eltern zuckten nur mit den Schultern und gaben mir Kondome und einen Hausschlüssel, während Seths erste Pflegefamilie sich so lange beschwerte, bis er in eine andere Familie kam. Mit siebzehn konnte sogar ich sehen, dass wir auf dem Weg ins Nirgendwo waren. Ich überdachte meinen Standpunkt zu Regeln und Disziplin und was ‘gesellschaftliche Harmonie’ überhaupt bedeutete. Ich erkannte, dass ich die Möglichkeit hatte, mir selbst Grenzen und Ziele zu setzen, auf die ich hinarbeiten konnte. Ziel Nummer Eins war, die Highschool abzuschließen. Wenn ich nicht von der Uni fliegen wollte, dann musste ich lernen und hin und wieder etwas Schlaf bekommen.

Als Seth nach dem Abschluss nach Italien zog, um zu modeln, war es an der Zeit für mich, darüber nachzudenken, was ich als nächstes tun wollte. Was wollte ich mit meinem Leben anfangen? Das war simpel ... ich wollte ein Rockstar werden. Ich wollte der Musikwelt meinen Stempel aufdrücken. Das war ein tollkühnes Ziel, sicher, aber für mich war es besser meine Wut, meine Angst und das Verlangen, das Unrecht in der Welt zu sühnen, darauf zu richten, als im Bioladen meiner Eltern zu arbeiten. Musik war der Schlüssel. Ich traf Cory, Tim und unseren vorherigen Gitarristen Perry im Community-College und der Rest ist Geschichte, wie man so schön sagt. Mehr oder weniger. Jetzt hatten wir Terry statt Perry. Und wir hatten noch keine Geschichte geschrieben, aber ich war so entschlossen wie eh und je. Keine Partymarathons und keine unnötigen Ablenkungen, was in meinem Fall bedeutete: keine Beziehungen. Weder mit Männern noch mit Frauen. Disziplin und harte Arbeit waren der einzige Weg. Es lag in meiner Hand, die Zukunft der Band zu formen, wenn wir denn eine hatten. Deshalb war es im Moment etwas Gutes, zeitig zu Bett zu gehen und früh aufzustehen.

Ich zog mir die Mütze über die Ohren und zitterte, als mich ein eisiger Windstoß traf. Wem wollte ich etwas vormachen? Das hier brachte niemandem etwas. Kein Mensch, der bei klarem Verstand war, kaufte um fünf Uhr dreißig morgens einen Bagel. Ich klopfte am Hintereingang und wartete, dass mein Boss die Tür öffnete, bevor mir die Finger abfroren.

„Guten Morgen, Randall! Möchtest du eine Tasse Kaffee?”

George war morgens immer so verdammt gut gelaunt. Ich verzog mein Gesicht zu etwas, das hoffentlich wie ein Lächeln aussah, und folgte ihm durch den Lagerraum in den Laden. „Klingt gut. Danke, Mr. G.”

George Gulden war Bagel-Verkäufer in der sechsten Generation. Der alte Mann hatte ein Lexikon-gleiches Wissen über Kohlehydrate. Bowery Bagels war eine erfolgreiche, familiengeführte Kette mit Läden in allen fünf Bezirken. Die anderen Standorte wurden von drei der vier Söhne von George geführt, aber der Laden an der Bowery, in der Nähe der NYU, war sein Baby. Das Original. Die Leute kamen von weit her, um seine ungewöhnlichen Kreationen von schmackhaften Bagels mit Frischkäse zu probieren. Ich konnte es wirklich nicht nachvollziehen. Es war ein verdammter Bagel. Ein guter Bagel, aber meine Güte ... so etwas gab es nur in New York, grübelte ich, während ich meine Schürze anzog und meine Hände wusch. Es musste am Besitzer liegen. George war einer der nettesten Menschen, die ich je getroffen hatte. Er begrüßte die Stammkunden mit Namen und erkundigte sich nach ihrem Befinden und dem ihrer Familie und Freunde. Ich arbeitete noch keine drei Monate für ihn, aber es war bereits so, als würde ich ihn schon ewig kennen.

Er verwöhnte mich mit einer Geschichte über die Ballettaufführung seiner Enkelin am vorherigen Abend, dabei zeigte sein Gesichtsausdruck, dass er mit sich und seinem Leben zufrieden war. Bagels waren sicherlich nicht das, was ich vom Leben erwartete, aber ich wünschte mir für mich selbst diese Zufriedenheit. Es wäre toll, mit siebzig auf mein Leben zurückschauen und dankbar sein zu können, statt etwas zu bereuen.

„Und was hast du gestern Abend gemacht?”

Ich lächelte ihn verschmitzt an, während ich die Brotkörbe mit frischen Bagels aus der Küche füllte.

Er ließ sich nichts vormachen. „Was hast du wirklich getan?”

Ich kicherte. „Nicht viel, George. Ich habe geprobt, mit meinen Freunden zu Abend gegessen, dann hatte ich in einer Bar einen lausigen Drink, bevor ich ins Bett gegangen bin.”

„Hmpf. Du brauchst jemanden.”

„Das glaube ich nicht. Nicht im Moment.”

„Jeder Mensch braucht einen Gefährten. Da ist diese nette junge Frau, etwa in deinem Alter, die fast jeden Morgen vorbeikommt – vielleicht kommt sie auch heute. Ich halte die Augen auf”, sagte er und zwinkerte mir zu, bevor er sich einer kleinen Frau mit weißen Haaren zuwandte, die in einem riesigen Mantel steckte. „Hallo Mrs. Schaefer! Guten Morgen. Wie geht es Ihnen heute?”

Ich schüttelte den Kopf über diesen klein gewachsenen Mann mit dunklen, funkelnden Augen, einem strahlenden Lächeln und schütterem Haar. Hoffentlich vergaß er sein Vorhaben, eine Freundin für mich zu finden. Und hoffentlich war dieser Morgen bald vorbei. Im Moment gäbe es nichts Schöneres, als wieder ins Bett kriechen zu können.

 

 

UM ZEHN Uhr zog ich meine Schürze aus und winkte George zu, der mit einem riesigen Mann aus Minnesota über die Sehenswürdigkeiten der Stadt sprach. Meine Schicht war zu Ende, und auch wenn ich nicht länger nach Schlaf lechzte, wollte ich jetzt gehen. Ich holte meinen Mantel und meinen Schal aus dem Hinterzimmer und war auf dem Weg zur Theke, als George meinen Namen rief. Er stand in der Tür und winkte mich heran.

„Was ist los? Ich wollte gerade gehen.”

„Hier ist jemand, den du kennenlernen musst.”

Ich rollte mit den Augen. „Mr. G ...”

„Sie ist hier! Die junge Frau, von der ich dir erzählt habe. Komm, sag Hallo. Mehr verlange ich nicht.”

Ich holte tief Luft und folgte ihm in den Laden. Er war immer noch aufgeregt, als glaubte er, dass ich erfreut wäre, eine Frau kennenzulernen, die ungefähr in meinem Alter war und jeden Tag Bagels aß.

„Darf ich dir Kelsey vorstellen?”

Ich streckte die Hand aus, um die hübsche junge Frau mit langen, braunen Haaren und einem freundlichen Lächeln zu begrüßen, aber ich erstarrte, als ich den Mann erkannte, der hinter ihr neben der Eingangstür stand. George gestikulierte zwischen mir und der jungen Frau hin und her und stellte uns einander vor, bevor er sich der nächsten Person in der Schlange zuwandte, während Will und ich uns überrascht anstarrten. Ihn hier zu sehen, war unerwartet und wir waren beide perplex. Ich erholte mich zuerst.

„Hey. Äh ... hast du schon bestellt?”, fragte ich Will.

„Ja, ich ... arbeitest du hier?”

Als Kelsey hustete, um meine Aufmerksamkeit zu erlangen und ihre Bestellung aufzugeben, wurde ich leuchtend rot. Das war mir noch nie passiert.

„Tut mir wirklich leid. Was kann ich dir bringen?” Ich notierte ihre Bestellung geistesabwesend, dabei behielt ich Will im Auge. Verdammt, er sah toll aus. Er trug eine marineblaue Mütze und einen langen Wollmantel in der gleichen Farbe. Er sah intelligent und professionell aus, ganz der Collegestudent. Und diese Brille. Wirklich toll.

„William, deine Bestellung ist fertig!”, rief George durch den vollen Laden.

„Danke George”, sagte er höflich, während er nach der braunen Papiertüte mit seiner Bestellung griff.

„Halt! Ich habe jetzt Feierabend. Warte einen Moment, okay?” Ich klang ein wenig hysterisch. Will neigte neugierig den Kopf, bevor er nickte. Ich atmete erleichtert aus und schaute wieder zu Kelsey. „Deine Bestellung ist gleich fertig. Hat mich gefreut, dich kennenzulernen.”

Ich eilte ins Hinterzimmer um meinen Mantel zu holen, nur um festzustellen, dass ich ihn bereits trug. Was war nur los mit mir? Ich benahm mich wie ein nervöser Highschool-Schüler. Ich rannte zur Tür und öffnete sie in meiner Eile schwungvoll.

„Bis dann, Mr. G!”

„Wir sehen uns am Montagmorgen, Randall. Ein schönes Wochenende!”

Wills Mundwinkels zuckten. „Randall?”

Ich lachte kurz auf, als wir auf den Gehweg traten. „Nein. Nur Rand. Ihm gefällt Randall besser, glaube ich. Ich sage nichts dazu, denn das ist einfacher, als ihn immer zu korrigieren. In welche Richtung musst du?”

„Zum Campus. Ich hole mir hier meistens etwas, bevor ich zum Unterricht muss.”

„Du wohnst also in der Nähe?”

„Ja, einen Block entfernt.” Er deutete vage hinter uns, dabei fixierte er mich mit den Augen von der Seite. „Ich wusste nicht, dass du für George arbeitest. Ich komme ständig zu Bowery Bagels.”

„Hmm. Ich dachte, ich hätte es erwähnt”, antwortete ich mit einem Achselzucken. „Ich arbeite drei bis vier Mal pro Woche morgens hier. Du kommst wahrscheinlich nach neun Uhr her. Um diese Zeit bin ich normalerweise schon wieder im Bett und versuche, noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Einer von Georges anderen Angestellten ist heute krank, also bin ich bis nach dem größten Ansturm geblieben. Was finden die Leute nur an Bagels?” Ich zog die Augenbrauen zusammen und verzog das Gesicht.

Wills ansteckendes Lächeln war perfekt. Ein Sonnenstrahl brach durch die Wolkendecke und zauberte einen goldenen Schimmer auf seine rosigen Wangen. Ich konnte nicht anders, als das Lächeln zu erwidern, auch wenn ich nicht wusste, warum wir lächelten. Ich suchte nach einem Zeichen von Glitter oder einer Spur von Make-up-Resten, aber abgesehen davon, dass der Typ mit der blonden Perücke und dem blauen Kleid einen tollen Mund gehabt und sich ebenfalls auf die Unterlippe gebissen hatte, konnte ich keine Gemeinsamkeiten erkennen. Offensichtlich war gestern Abend meine übereifrige Vorstellungskraft am Werk gewesen.

Im Moment war ich einfach froh, mit Will zusammen zu sein. Das klang vielleicht überzogen, aber es war die Wahrheit. Ihn unerwartet in einer Umgebung zu treffen, die nichts mit Instrumenten zu tun hatte, war überraschenderweise ... schön.

„Georges Bagels sind legendär.” Will hob die Augenbrauen, als er die Papiertüte öffnete und hineinspähte. Er roch übertrieben an dem Inhalt und verschloss die Tüte dann wieder.

Ich kicherte über seine Posse, während ich eine große Gruppe Fußgänger am Broadway umrundete. Wir gingen die Fourth Street entlang und unterhielten uns über das Wetter ... heute war es wärmer als in der gesamten letzten Woche ... und die Vorteile, Kaffee zu kaufen, statt ihn selbst zu kochen ... wir bevorzugten beide, uns jeden Tag welchen zu kaufen.

„Das ist teuer, aber unsere Kaffeemaschine ist schrecklich. Das wird meine erste Anschaffung, wenn ich ein paar Dollar übrig habe. Eine von diesen tollen Maschinen, die alles können, außer deinen Computer hochzufahren. Also kaufe ich im Moment lieber welchen, statt dieses Spülwasser zu trinken. Verrate es nicht George, aber ich mag den von Starbuck’s lieber als seinen.” Ich deutete auf das bekannte Logo auf einem Fenster zu unserer linken. „Tatsächlich könnte ich jetzt einen Kaffee gebrauchen. Darf ich dich einladen?”

Ich flehte ihn innerlich an, ja zu sagen, aber ich hatte das ungute Gefühl, dass er nein sagen würde. Ich wusste, dass er auch nach mehreren Unterrichtsstunden noch nicht wusste, was er von mir halten sollte. Er fühlte sich unwohl in meiner Gegenwart. Normalerweise machte mir das nichts aus, aber in diesem Fall schon. Aus irgendeinem Grund wollte ich, dass Will mich mochte. Er begann, den Kopf zu schütteln, aber er stoppte im letzten Moment und presste nachdenklich die Lippen zusammen.

„Gerne. Ich habe noch eine Stunde, bevor mein Unterricht anfängt.”

Mein Puls beschleunigte sich und mir wurde ... schwindelig. Ich schluckte schwer und tastete nach der Tür, dabei hoffte ich, dass meine Coolness schnell zurückkehren würde. Meine Güte, war ich nervös? Das konnte nichts Gutes bedeuten.

Ich wartete auf unsere Getränke und beobachtete Will heimlich, während ich so tat, als ob ich Nachrichten auf meinem Handy las. Er stand im vorderen Bereich des Coffeeshops und schaute sich nach einem freien Tisch um. Die Umhängetasche, die sich um seinen schlanken Körper wand, war ein nettes Accessoire. Er wirkte wie ein ernsthafter Student. Nicht wie ein Typ, der noch vor ein paar Stunden in blaue Pailletten gekleidet gewesen war. Ich hatte eine tolle Vorstellungskraft, das musste man mir lassen.

„Sind irgendwo Plätze frei?”, fragte ich und reichte ihm sein Getränk.

„Sieht nicht so aus.”

„Die Sonne ist aufgegangen. Wir könnten uns in den Park setzen, bis du zum Unterricht musst.”

Er antwortete nicht sofort, deshalb bereitete ich mich auf eine Zurückweisung vor und wunderte mich, warum es mir überhaupt so wichtig war.

„Nur wenn du Zeit hast. Wenn nicht, ist es auch in Ordnung. Dann sehen wir uns am nächsten Dienstag zu deiner Unterrichtsstunde.” Will sprach die Worte so zusammenhängend aus, dass ich ihn kaum verstehen konnte. Ich verstand „Zeit” und ein genuscheltes „sehen wir uns am nächsten Dienstag”. Ich berührte ihn am Ellenbogen und lächelte ihn aufmunternd an. Je mehr seine Nervosität wuchs, desto mehr legte sich meine eigene. Verdammt, wir waren ein seltsames Paar.

„Ich habe Zeit”, antwortete ich und wies mit dem Kopf zur offen stehenden Tür.

Wieder zurück auf dem Gehweg wurden wir erneut von ungeduldigen New Yorkern angerempelt. Der beständige Mix aus Autohupen und entfernten Sirenen war als Hintergrundmusik seltsam beruhigend. Die Menschen und die Geräusche gaben unserem zufälligen Treffen ein entspanntes Element. Erst als wir die schmiedeeisernen Tore des Washington Square Parks erreichten, bemerkte ich, dass Will ruhig geworden war. Ich führte ihn zu einer freien Bank mit Blick auf den riesigen runden Brunnen und den berühmten Bogen. Die Bäume waren kahl, der Brunnen war trocken und der Park war wie ausgestorben. Und kalt. Ich bezweifelte, dass wir es länger als fünfzehn Minuten aushalten würden. Will nickte, während ich über den bevorstehenden Auftritt der Band jammerte und mit dabei das Hirn zermarterte, wie ich ihn aus seinem Schneckenhaus locken konnte.

„Du solltest morgen Abend vorbeikommen.” Ich streckte meine Beine aus und betrachtete meine Stiefel, als wäre ich tief in Gedanken. In Wahrheit war ich mir mehr denn je bewusst, dass er neben mir saß, und das verwirrte mich. „Ich texte dir die Infos. Dann weißt du Bescheid, wenn dir danach ist.”

„Okay.” Er öffnete die Papiertüte, zog den Bagel heraus und wickelte sorgfältig die Folie ab. Es sah aus wie ein einfacher Bagel mit normalem Frischkäse.

„Nimmst du diesen jeden Tag?”

„Meistens.” Er riss ein Stück on dem Bagel ab und bot es mir mit einem scheuen Lächeln an.

„Danke.” Ich steckte es mir grinsend in den Mund. „Du solltest mal den Bagel mit allem probieren. Das ist der Beste. Vertrau mir. Ich bin in den letzten Monaten zu einem Bagel-Experten geworden. George hat dreißig verschiedene Bagels und genauso viele Sorten Frischkäse. Eine seiner Enkelinnen wollte ihn überreden, ihnen spezielle Namen zu geben. Aber zum Glück wurde daraus nichts. Sie ist fünf, also hat sie Vorschläge gemacht wie Hübsches Pony Mohn und Schöne Blaubeeren.” Ich schüttelte schaudernd den Kopf, woraufhin Will lachte.

„Wo wir gerade von Name reden ... Ich bin neugierig. Ist dein Name wirklich einfach nur Rand? Oder ist das ein Künstlername?”

„Das ist tatsächlich mein Name. Meine Eltern sind richtige Hippies. Ich gebe dir einen Dollar, wenn du den früheren Namen meiner Schwester errätst.”

„Den früheren Namen?” Er legte die Stirn in Falten. „Keine Ahnung.”

„Du hast es überhaupt nicht versucht.” Ich drehte mich zu ihm, schlug mein rechtes Bein über mein linkes und schaute ihn erwartungsvoll an. Er zuckte mit den Schultern und riss noch ein Stück von seinem Bagel ab. „Er lautete Ayn, wie die Autorin. Verstehst du? Ayn Rand.”

„Ich dachte, deine Eltern sind Hippies. Ayn Rands Philosophie war ziemlich konservativ.”

„Das ist typisch O’Malley. Wir sehen oder hören etwas, das uns gefällt und Zack! Wir wollen es haben. Dann erkennen wir dessen Bedeutung und merken, dass uns ein wichtiges Detail entgangen ist. Meiner Mom gefiel nur der Klang des Namens. Sie hatte die Bücher von Miss Rand nicht gelesen und wusste nichts über Objektivismus oder dessen intellektuelle Repressivität. Ich war schon ein paar Monaten alt, als sie jemand auf ihre interessante Namenswahl ansprach. Es war offensichtlich, dass Stevie Nicks eher zu meiner Mom mit ihren wehenden Kleidern und ihren langen Locken gepasst hätte, als eine radikale Philosophin. Also hat sie Nachforschungen angestellt, wie es die Art der O’Malleys ist, und war sehr erschrocken.”

„Darauf möchte ich wetten.”

„Daraufhin hat sie den Namen meiner Schwester offiziell in Annabelle geändert. Bella ist ihr Rufname. Stell dir das mal vor. Meine Schwester war damals schon zwei! Sie wurde zwei Jahre mit dem „Namen, der nicht mehr ausgesprochen werden darf” gerufen!” Ich schüttelte den Kopf.

Will lachte. „Warum hat sie deinen Namen nicht auch geändert?”

„Er hat ihr gefallen”, sagte ich und rollte mit den Augen. „Diese Geschichte ist in meiner Familie legendär. Sie kommt immer wieder an Thanksgiving oder anderen großen Familienereignissen auf den Tisch und alle lachen über meine liberale Mutter, die ihre Kinder nach einer rechtsgerichteten, radikalen Russin benannt hat. Zum Glück hat sie Sinn für Humor. Ich würde gerne sagen, dass wir daraus gelernt haben, die Dinge erst zu Ende zu denken, aber du kannst dir bestimmt denken, dass ich auch aus meinen Fehlern lernen und mich entschuldigen muss ... und das sehr oft.

„Hmm. Deine Mom scheint ziemlich cool zu sein.”

„Das ist sie. Mein Dad auch. Sie sind nonkonformistische Freigeister.”

„Also das Gegenteil von meinen Eltern”, stellte er trocken fest und lachte auf.

„Bei jedem ist es anders ... und jeder hat andere Menschen in seinem Leben, die Fehler gemacht haben. Unsere Aufgabe ist es, uns mehr Mühe zu geben - und unsere eigenen Fehler zu machen”, fügte ich lachend hinzu. „Es könnte schlimmer sein, wie meine Mom immer sagt. Rand ist ein anständiger Name–”

„Ja, außer für Politiker, die–”

„Ja, ja. Was bedeutet schon ein Name? Es ist der Mensch, der zählt. Man kann sich den Namen mit jemandem teilen und einen ganz anderen Intellekt und Lebensphilosophie haben. Nicht jeder William ist ein William Shakespeare.”

„Das stimmt.” Seine Augen funkelten vergnügt, während er ein weiteres Stück Bagel aß.

„Sie ist auch ein großer Fan von Tolkien. Ich hätte auch nach einem Hobbit benannt sein können.”

Will schaute mich mit großen Augen an, bevor er die Hand vor den Mund schlug und laut lachte. „Tut mir leid. Das ist nicht witzig. Es ist tatsächlich ziemlich clever.”

„Hmpf. Ich könnte genauso gut Bilbo O’Malley heißen. Das würde es dem armen George schwer machen, sich den Namen zurechtzubiegen.”

Dieses Mal spuckte Will fast seinen Bagel aus, während er sich vor Lachen krümmte. Ich schaute ihm amüsiert zu, während er hysterisch lachte. Es war eigentlich gar nicht so lustig ... und wie ich meine Eltern kannte, auch nicht allzu weit entfernt von der Wahrheit.

„Tut mir leid. Ich weiß nicht warum ...” Er tupfte sich die Augenwinkel mit einer Serviette und seufzte tief. Ich beobachtete ihn genau. Will hatte ein schönes Lachen. Man wollte einstimmen, auch wenn man den Witz nicht verstanden hatte.

„Du darfst die Philosophie meiner verrückten Familie gerne in einem deiner Musicals verwenden.”

Will lächelte. „Ich komponiere. Ich schreibe keine Texte. Ich kann nicht gut mit Worten umgehen.”

„Im Gegensatz zu mir. Ich schreibe alles auf, von dem ich sicher bin, dass ich es irgendwann in einem Liedtext verwenden kann.” Ich zog eine zerrissene Serviette aus meiner Tasche und schaute kurz darauf, um sicherzugehen, dass nichts Peinliches darauf stand, bevor ich sie ihm reichte. „Hier ist ein Beispiel.”

„Goldbraun. Grüne Flecken. Und Seele. Was bedeutet das?” Er neigte fragend den Kopf und gab mir die Serviette zurück.

„Bis jetzt noch nichts.” Er brauchte nicht zu wissen, dass mein Gekritzel etwas mit ihm zu tun hatte. Ich musste diese Erkenntnis erst selbst verarbeiten. Ich lächelte ihn an, bevor ich fortfuhr. „Ich war nach der Probe mit meinen Freunden beim Abendessen und bekam dieses Bild nicht aus dem Kopf. Ich weiß nicht immer, was meine Notizen bedeuten, wenn ich sie aufschreibe, aber es ist mittlerweile zur Gewohnheit geworden. Einer meiner Lehrer in der Highschool, einer, dem ich tatsächlich zugehört habe, hat es vorgeschlagen, um mit negativen Gefühlen umzugehen.” Ich zuckte mit den Achseln.

„Welche negativen Gefühle?”

„Teenager-Kram. Ich war so wütend über die Ungerechtigkeit und die Scheinheiligkeit in der Welt. Das bin ich immer noch. Der Unterschied ist, dass ich mittlerweile gelernt habe, meine Wut zu zügeln.”

„Schreibst du über persönliche Erfahrungen?”

„Ja und nein. Jeder gute Autor legt einen Teil von sich selbst in sein Werk. In meinen ersten Texten geht es um die schreckliche Familie meines besten Freundes Seth und die Scheiße, die er durchmachen musste, als sie herausgefunden hatten, dass er schwul ist. Diese Menge an Angst und Unsicherheit war einfach zu viel für einen normalen Fünfzehnjährigen. Es war einfach ... falsch. Ich habe gehasst, was er durchmachen musste. Seine Angst hat meine Wut genährt. Ich wetterte gegen die sogenannten guten Christen wie eine Emo-Version dieser Kirchgänger mit einem Mikrofon, der die ... Wahrheit in die Welt brüllt. Die Vernunft. Auch Seth hat mich angesehen, als wäre ich verrückt. Aber ich konnte nicht anders. Es hat mich aufgefressen. Aber nicht ihn. Nicht auf die gleiche Weise. Er hat seinen eigenen Weg gefunden, mit dem Schmerz umzugehen. Ich habe in den letzten Monaten unseres Abschlussjahres in der Highschool erkannt, dass ich seinem Beispiel folgen muss, sonst würde ich noch sitzen müssen.”

„Im Gefängnis?” Wills Augen traten erschrocken hervor.

„Im Sommerunterricht, du Genie.” Ich trank einen Schluck von meinem Cafe Latte und nahm das Stück Bagel, das Will mir reichte. „Wie auch immer, Mr. Jacobs, mein Englischlehrer, hat den freien Schreibstil vorgeschlagen. Keine Regeln. Einfach drauflos schreiben. Ich musste trotzdem noch meine Semesterarbeit schreiben und mich mit Haikus herumschlagen, aber er hat mir gesagt, ich bekäme Extrapunkte, wenn ich einfach meine Gedanken aufschreibe. Da hatte ich mir angewöhnt, ein paar Wörter oder Sätze aufzuschreiben, wann immer ich wütend wurde oder aufgeregt war. Ich war nicht diszipliniert genug, um Tagebuch zu schreiben, aber diese Übung hat mir geholfen, meinen Geist zu beruhigen. Aber weil ich nun mal ein Arschloch war, habe ich immer Sachen aufgeschrieben, von denen ich wusste, dass der arme Kerl sich deshalb winden würde.” Ich kicherte und rutschte auf der Bank herum, um ihn ansehen zu können. „Einmal gab ich ihm eine Serviette, mit der ich verschüttete Milch weggewischt hatte. Ich hatte irgendetwas über das Probieren von Sperma darauf geschrieben und wartete ab, wie lange es dauern würde, bis die Ohren von Mr. Jacobs pink anliefen. Er ließ die Serviette so schnell fallen, als wäre sie voller Anthrax-Sporen. Ich habe gelacht, bis mir die Tränen kamen. Im wahrsten Sinne des Wortes.”

Bei der Erinnerung daran musste ich kichern, dabei streckte ich meine Beine aus und scheuchte damit ein paar Tauben auf. Will lachte nicht. Stattdessen starrte er mich an.

„Bist du ...”

Ich nahm noch einen Schluck von meinem mittlerweile lauwarmen Kaffee und wartete darauf, dass er weitersprach. Er tat es nicht. Er biss sich auf die Lippe, was ich mittlerweile als ein Zeichen von Nervosität erkannte.

„Bin ich was?”

Er schluckte sichtlich und blickte zu den emsigen Tauben, die um seine Füße hüpften. Ich scheuchte sie mit einer Handbewegung weg und sie flatterten geräuschvoll davon. Damit hatte er keine Ablenkung mehr. Kindischerweise wollte ich all seine Aufmerksamkeit. Auch wenn ich das einen Moment später bereute.

„Bist du schwul?”

Ich war mir seines festen Blickes und seiner ernsten Ruhe bewusst. Ich rutschte auf der Bank hin und her und überlegte, ob ich ehrlich sein sollte. Wie Tim gesagt hatte, ich war nicht berühmt. Und ich merkte allmählich, dass ich das Schwulsein nicht einfach abstellen konnte. Was konnte schon passieren, wenn ich meinem Gitarrenlehrer die Wahrheit sagte. Ich öffnete den Mund und–

„Nein”, log ich.

Aber es war keine Lüge, sagte ich mir. Es war die halbe Wahrheit. Oder eine halbe Lüge. Aber es fühlte sich schlimmer an als ein gewöhnliches Auslassen der Wahrheit oder eine Notlüge. Es war die Art Lüge, bei der man ich augenblicklich wünschte, man hätte nichts gesagt.

Will schien es unangenehm zu sein, genau wie mir. Die Temperatur lag um die Null Grad, aber mein Gesicht brannte vor Scham. Ich musste das Gespräch auf ihn lenken, bis ich mich wieder gefasst hatte.

„Hmm.”

„Was soll das Geräusch bedeuten?” Ich zog an seiner Mütze und zwickte in sein Ohrläppchen, damit er mich ansah.

Er schlug meine Hand weg und drehte sich um, sodass sich unsere Knie berührten. „Nichts. Es tut mir leid. Das war eine dumme Frage. Ich hatte sowieso angenommen, dass du hetero bist. Und eine Freundin hast.”

„Keine Freundin.” Ich zog ihm die Mütze über die Augen und zwang mich zu fragen: „Und was ist mit dir?”

„Lass das”, fuhr er mich an und schlug meine Hand weg, um sich die Mütze aus den Augen zu schieben. „Ich bin schwul. Ich dachte, das wüsstest du. Ich hatte erwartet, dass Terry mich innerhalb von fünf Minuten outet.”

„Warum sollte Terry interessieren, ob du schwul bist?”

„Es interessiert ihn eigentlich nicht, aber er ist ein Idiot. Ich konnte nie einschätzen, ob er unsicher oder homophob ist. Ich hatte nur ein komisches Gefühl in seiner Gegenwart.”

„Und dann hast du ihn uns empfohlen. Danke, Arschloch.”

„Er ist ein guter Gitarrist”, stotterte er und sein Gesicht nahm einen interessanten Pinkton an. „Ich dachte, dass es gut läuft.”

„Er ist in Ordnung. Aber ich will nicht über Terry reden. Erzähl mir von dir.” Ich setzte meinen leeren Becher auf meinem Knie ab und beäugte ihn. „Ich nehme an, dass du out bist.”

„Ich bin out.” Er zerknüllte die Papiertüte gewaltsam zu einer Kugel und stand abrupt auf. Er ging ein paar Schritte, um seinen Müll zu entsorgen, dann drehte er sich mit einem falschen Lächeln um. „Ich muss los. Danke für den Kaffee. Wir sehen uns nächste Woche.”

Ich sprang auf und packte ihn am Ellenbogen. „Halt! Warum hast du es plötzlich so eilig?”

„Ich habe gleich Unterricht. Ich muss los.”

Ich blickte erst auf meine Uhr, dann zu ihm, um ihn wissen zu lassen, dass ich ihn durchschaut hatte. „Warte. Was habe ich gesagt?”

Einer seiner Mundwinkel hob sich. Es war kein Lächeln, denn es erreichte nicht seine Augen. Nein ... es war ein Ausdruck von Traurigkeit. Einsamkeit. Ich studierte ihn einen Moment und fragte mich, ob ich zu viel hineininterpretierte.

Er seufzte und blickte in die Ferne. „Du hast nichts gesagt. Ich bin out, aber ... ich – meine Familie hat es nicht gut aufgenommen. Nicht so schlimm wie die Eltern deines Freundes, aber es gefällt ihnen nicht. Also reden wir nicht darüber. Niemals. Sie sind nicht locker oder cool, und um ehrlich zu sein, sie fänden es toll, dass du nach einer rechten Radikalen benannt wurdest. Sie haben die gleichen starren Ansichten und Moralvorstellungen. Es gibt keinen Raum für Diskussionen oder ... Familienmitglieder, die nicht ins Gesamtbild passen. Ich bin ein Außenseiter. Es macht keinen Unterschied, dass ich out bin, denn sie erkennen es sowieso nicht an. Ich weiß nicht, ob das einen Sinn ergibt, doch es ein großer Störfaktor für meine Eltern, dass ich schwul bin”, spottete er. „Für mich selbst ist es oft genug ein Störfaktor. Das einzige, was mir wirklich etwas bedeutet, ist meine Musik. Ich sollte gehen, mir ist kalt.”

Ich zog ihn am Arm zurück, als er losgehen wollte. „Hey. Ich kenne deine Geschichte nicht, aber ... du bist unglaublich talentiert, Will. Du kannst alles tun oder sein, was du willst. Du kannst es schaffen.” Würg. Ich hasste diese plakativen Sprüche, sobald ich sie ausgesprochen hatte. Ich versuchte, etwas Bedeutungsvolles zu sagen. Ich konnte ihn nicht so gehen lassen, besonders, da meine Lüge deutlich zwischen uns stand, zumindest für mich. „Was ist dein Traum? Was willst du erreichen, während du auf der Welt bist?”

Will lachte auf und seine Augen glitzerten vor widerwilliger Belustigung. „Ist das dein Ernst? Wir stehen an einem eiskalten Wintertag mitten im Park und du willst über Träume reden?”

„Es war seit Tagen nicht so warm.”

„Was nicht viel heißen will.”

„Du lenkst ab.”

„Ich habe in zwanzig Minuten Unterricht.”

Ich grinste ihn an, bevor ich ihm die Mütze vom Kopf zog. Ich konnte nicht anders. Ich wollte Spaß mit ihm haben. Herumalbern. Ich wollte ihn zum Lachen bringen.

„Ich behalte deine Mütze als Geisel.”

Er setzte einen entrüsteten Gesichtsausdruck auf, während er die Hand aufhielt und ungeduldig mit dem Stiefel klopfte. „Wie alt bist du noch mal?”

„Fünfundzwanzig. Beeil dich. Deine Ohren werden schon rot.”

„Du benimmst dich wie fünf, statt wie fünfundzwanzig. Gib sie her.” Er schürzte die Lippen, dann brach er in Gelächter aus.

„Ich wünschte, es läge Schnee. Wenn es das nächste Mal schneit, müssen wir für eine Schneeballschlacht wieder herkommen. Machst du mit?”

„Bist du verrü– wo willst du hin? Hey! Komm zurück!”

Ich zog seine Mütze über meine eigene und tänzelte davon, während ich meine Schneeballfähigkeiten erklärte. „Ich stamme aus Baltimore. Dort gibt es genug Schnee, sodass ich meine Fähigkeiten über die Jahre perfektionieren konnte. Man muss in die Berge fahren, wenn man wirklich guten Pulverschnee sehen will, aber–”

„Ich werde nicht hinter dir herrennen.”

„Nein, das solltest auch du nicht. Denn ich kann sehr schnell rennen.”

„Ich nicht, und ich will auch nicht herumalbern.”

Er kam hinter mir her. Er hatte nicht übertrieben. Er war langsam und komisch. Es wäre einfach gewesen, ihn abzuhängen, zu einfach. Ich zögerte und gab ihm die Möglichkeit, mich einzuholen. Leider stolperte er dabei über meinen Fuß. Ich hielt ihn am Arm fest und zog ihn an mich. Wir standen Brust an Brust und unser Atem vermischte sich in der der kalten Winterluft. Ich sah das Verlangen in seinen Augen und trat sofort zurück. Ich riss die Mützen von meinem Kopf, stopfte meine eigene in die Tasche und winkte ihn heran. Er starrte mich an, dann gab er widerwillig nach. Ich setzte die marineblaue Mütze auf seinen Kopf und versteckte sein Haar darunter. Ich war ihm noch nie so nah gewesen. Ich versuchte, ihn mir mit einer Perücke, einem blauen Kleid und einem langen, schwarzen Mantel vorzustellen, aber ich konnte nichts sehen außer seinen goldbraunen Augen, den dunklen Wimpern und den niedlichen Sommersprossen auf seiner Nase.

Ich zuckte zurück. Was machte ich da? Heteros taten so etwas nicht. Sie starrten anderen Kerlen nicht in die Augen oder klauten ihre Mützen, außer sie wollten sie mit Schnee vollstopfen oder sie aus Spaß durch den Park werfen. Plötzliche Hitze krallte sich in mein Gesicht. Ich zupfte an meinem Schal und setzte ein Lächeln auf, das hoffentlich ehrlich wirkte.

„Also, erzähl mal ... was ist dein Traum?”

„Ich will Musiker werden.” Wills Stimme war so ruhig. Eine unterschwellige Emotion in diesen einfachen Worten berührte mich, als wollte er mir etwas Wichtiges sagen, dass ich selbst zwischen den Zeilen erkennen musste. Die kahlen Bäume, der bewölkte Himmel und der fast menschenleere Park, machten den Moment bedeutsam.

„Du bist Musiker.”

„Ich will der Beste werden. Ich will mit meiner Musik etwas bewirken. Das ist mein Traum. Nichts anderes zählt.”

Ich nickte. Ja, das verstand ich nur zu gut. „Du wirst es schaffen. Das weiß ich. Aber vergiss nie, das ist dein Leben, Will. Lass dich von niemandem zurückhalten. Sei glücklich.”

„Ich bin glücklich”, flüsterte er.

„Gut.” Ich berührte leicht seine Nasenspitze und lächelte. Ich zog meine Mütze ungelenk aus der Tasche und setzte sie auf. „Ich schätze, du warst nicht im Leichtathletikteam zu Hause in ... woher stammst du eigentlich?”

„Indiana. Und nein, ich bin kein Läufer. Sport ist nicht mein Ding.”

„Offensichtlich.” Ich kicherte und keuchte überrascht auf, als er mir gegen den Arm boxte. „Au.”

„Hmpf.”

„Das war nur ein Scherz. Ich stehe auch nicht auf Sport. Ich war im Leichtathletikteam, weil ich die Extrapunkte gebraucht habe, aber ich mochte es nicht. Wenn ich nicht Musik gehört oder Gitarre geübt habe, habe ich vor dem Fernseher gesessen und Battlestar Galactica geschaut.”

„Du stehst auf Science Fiction?” Seinem Tonfall nach zu urteilen, war er interessierter, als sein lässiger Blick auf die Uhr vermuten ließ.

„Ja! Ich bin ein großer Fan von Science Fiction. Ich liebe alles, was mich in andere Welten entführt. Seien es Zauberer und Drachen oder Raumschiffe auf geheimen, intergalaktischen Missionen. Das ist meine Flucht vor der Realität. Was ist deine Flucht?”

Will kicherte, während wir an einer Fußgängerampel stehen blieben. „Ich mag Science Fiction auch. Aber mich hat der Weltraum nicht so sehr interessiert, wie zum Beispiel Harry Potter und Der Herr der Ringe.”

„Magische Kräfte, was?”

„Genau!” Sein strahlendes Lächeln war wunderschön. „Wäre es nicht toll, wenn man einen Zauberstab hätte und alles einfach ... besser machen könnte?”

„Ja. Das wäre es.”

Die Ampel wurde grün. Die Leute drängten sich um uns herum, als wir uns nicht schnell genug in Bewegung setzten und eine unbekannte Panik überkam mich. Wenn wir auf der anderen Straßenseite ankamen, wäre dieser unerwartete Morgen zu Ende. Ich fühlte den seltsamen Drang, ihn dazu zu bringen, weiterzureden. Diesen Moment so lange wie möglich auszudehnen.

„Ich habe gehört, im Village ist ein Kino, wo Filme wie Harry Potter gezeigt werden. Dort sollten wir zusammen hingehen. Ich meine, ich kenne nicht so viele Leute hier und–” Ich erkannte meine Stimme nicht wieder. Ich versuchte, cool zu bleiben, und versagte kläglich. Ich biss mir auf die Innenseite meiner Wange, damit ich nicht noch weiter dummes Zeug von mir gab.

„Das wäre schön.” Will lächelte und schielte zum Eingang seines Gebäudes, dann wieder zu mir. „Danke für den Kaffee. Wir sehen uns nächste Woche.”

„Ja. Hey ... komm zu unserem Auftritt morgen Abend. Ich texte dir die Informationen.” Oh Gott, ich konnte einfach nicht die Klappe halten. Jetzt lass den Kerl schon in Ruhe, Rand.

Will trat mit einem verwirrten Gesichtsausdruck von der Drehtür zurück. „Ich weiß nicht, ob ich kann, aber–”

„Versuch es.”

Er nickte und lächelte mich ein letztes Mal an, bevor er in das Gebäude verschwand. Ich trat zu Seite, damit ich nicht von gehetzt aussehenden Studenten niedergemäht wurde. Ich war nicht einmal in der Nähe von dort, wo ich eigentlich sein sollte und fühlte mich fehl am Platz. Ich hatte gerade zum ersten Mal einen jungen Mann zum Unterricht gebracht. Und es gefiel mir.