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EIN PENETRANTES Brummen riss mich aus einem tiefen Traum, die Art Traum, von dem man sich wünscht, dass er so lange wie möglich anhält, damit man erfährt, wie er ausgeht, auch wenn man weiß, dass man sich an nichts mehr erinnern wird, wenn man aufgewacht ist. Ich stöhnte auf, während ich die Arme über meinen Kopf streckte und wegen des hellen Sonnenlichtes, das durch die Vorhänge hereinschien, blinzelte. Ich war allein in Wills Bett. Ich erlaubte mir, die Stille zu genießen.

Ich war schon lange nicht mehr wirklich allein gewesen. Es fühlte sich dekadent an. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass ich irgendwann tatsächlich eine eigene Wohnung haben würde. Selbst eine kleine Wohnung wie diese. Ich wartete auf die Geräusche, die mir bestätigten, dass Will in der Nähe war, aber außer dem gedämpften Brummen, das aus einem Berg Klamotten drang, war der Raum still. Ich blickte auf den leeren Platz neben mir, während ich nach meiner Jeans langte, um mein Handy hervorzuholen. Es leuchtete sofort auf wie ein Weihnachtsbaum.

Da waren mindestens zehn verpasste Anrufe, Sprachnachrichten und ein Haufen Textnachrichten. Ich hielt bei einer inne, die Will vor etwa einer Stunde geschickt hatte.

Ich treffe mich mit meiner Mom zum Brunch. Bis später, Dornröschen.

Ich starrte auf die Nachricht, bevor ich eine Antwort tippte.

Ich liebe Brunch. Wo soll ich euch treffen?

Tim, Cory und Mike hatten mir zahlreiche Nachrichten geschickt. Eine war sogar von Terry. Ich wollte ohne Kaffee nicht weiterlesen. Mir war bewusst, dass nach dem Hoch eines Auftritts häufig ein Tief folgte. In einer Band bedeutete das, man musste am nächsten Morgen drei weitere Egos streicheln, weil dann die üblichen Selbstzweifel aufkamen. „Wir waren der Hammer!” konnte schnell zu „Wir waren Scheiße” werden. Ich war noch nicht bereit, mich mit den Hochs und Tiefs der anderen zu beschäftigen. Genauso wenig wollte ich mich mit Terry beschäftigen. Ich legte das Telefon zur Seite und setzte mich wieder auf den Futon, um meine Socken und Schuhe anzuziehen.

Nie im Leben. Ich bin in der Nähe des Central Parks im Plaza Hotel. Wollen wir uns danach treffen?

Ich tippte ein paar kindische Smileys ein, aber ich zögerte, bevor ich eine Antwort schickte.

Gerne.

Will beantwortete meine Teufel, Totenschädel und lilafarbene, gehörnte Emojis mit Sonnenschein, Hummeln und einem Marienkäfer. Ich kicherte und wollte gerade antworten, als ich einen Anruf bekam.

„Rands Telefon”, sagte ich, wobei ich die hohe Stimme einer Frau imitierte, um den Anrufer zu ärgern.

„Himmel, ist er da?”

„Ich sehe mal nach.”

„Danke, und sag dem Idioten, dass ich schon den ganzen Tag versuche, ihn zu erreichten!”

Ich seufzte tief und sprach mit normaler Stimme weiter. „Was ist los, Timmy? Soll ich auf dem Weg nach Hause Toilettenpapier besorgen?”

„Du bist ein Witzbold. Hast du dir zufällig ein paar der Nachrichten angehört?”

„Nö. Ich bin gerade erst aufgewacht. Ich kann mich erst mit der wirklichen Welt beschäftigen, wenn ich genug Kaffee intus habe. Du kennst die Regeln.”

„Aber da ich endlich deine Aufmerksamkeit habe und da Zeit Geld ist, gebe ich dir eine Zusammenfassung.”

„Hast du tatsächlich gesagt ‘Zeit ist Geld’? Ich kann das nicht ohne Kaffee. Mach`s gut, Tim.”

„Leg nicht auf! Gestern Abend waren drei Talentscouts im Publikum, Rand. Nicht einer, sondern drei. Und sie fanden uns toll. Mike schwebt auf Wolke Sieben, aber er dreht durch, denn sie alle wollen dich treffen.” Er wartete, bevor er hinzufügte: „Und Will.”

„Will? Du hast ihnen aber nicht seinen Namen genannt oder–”

„Nein. Aber es gibt noch eine Komplikation namens Terry.”

„Nein, gibt es nicht. Er ist gefeuert.”

„Ich glaube nicht, dass es so einfach ist. Glaub mir, wir alle hätten lieber Will. Du hast gesagt, dass er talentiert ist, aber ich denke, du hast ihn unter Wert verkauft. Der Kerl ist ein Wunder. Das denken wir alle. Mike macht sich Sorgen, dass es vertragliche Schwierigkeiten mit Terry gibt, aber–”

„Es gibt keine vertraglichen Schwierigkeiten. Wir haben nie etwas unterschrieben und wir schulden ihm nichts. Er ist raus. Basta. Ende der Geschichte. Und als unser Manager ist das Mikes Job. Wenn er es nicht hinkriegt, soll er mich anrufen. Aber das bedeutet nicht, dass Will Terrys Platz einnehmen wird.”

Ein Stück schwarzer Stoff neben dem Bett weckte meine Aufmerksamkeit. Ich hob die Netzstrümpfe auf und berührte das feine Gewebe, bevor ich es an die Nase hob und Wills Geruch aufnahm. Gott, das war so heiß.

„Wie auch immer, wir müssen reden. Es scheint, als hätten wir es fast geschafft, Rand. Wir sind beinahe so weit.”

An dieser Stelle brachte ich normalerweise einen altklugen Kommentar an, um den einfachen Worten Wir haben es fast geschafft die Stärke zu nehmen. Meine Rede über das Fell des Bären, das man nicht verteilen soll, bevor man ihn erlegt hat, wollte nicht kommen, denn ich hatte das Gefühl, dass Tim recht hatte.

 

 

ICH FUHR mit der U-Bahn zur Fifty-Ninth und Fifth Avenue. Ich blieb an der Ecke vor dem Eingang zum Central Park stehen, gegenüber des Plaza Hotels. Eigentlich hatte ich mich nicht mit Will treffen wollen. Die letzte Nacht war intensiv und unerwartet gewesen, von Anfang bis Ende. Ich hielt es für das Beste, mich ein oder zwei Tage zurückzuziehen. Ich musste einen klaren Kopf behalten, nicht ihn wegen eines Kerls verlieren. Aber Will war nicht einfach ein Kerl. Er war etwas Besonderes. Und es fiel mir schwer, ihn zu verstehen.

Wir hatten ausgemacht, uns bei den Bänken auf der Parkseite der Fifth Avenue zu treffen. Ich ging Richtung Weg, aber ich war noch ein wenig früh. Ich ging um die Ecke und blickte über die Straße. Das Plaza Hotel war ein stattliches Gebäude mit einem großen Eingang und rotem Teppich auf den Treppenstufen. Es war schön anzusehen, aber ich würde kein Geld ausgeben, um dort zu übernachten. Zu protzig für meinen Geschmack, dachte ich. Ich drückte den Knopf an der Fußgängerampel, aber blickte noch einmal auf, als ich eine vertraute Gestalt wahrnahm.

Ein Mann mit beginnender Glatze in einem dunklen Mantel kam die Treppe herunter. Er blieb auf halbem Wege stehen und streckte den Arm aus. Einen Moment später erschien eine Frau. Wills Mom. Und Marty. Er nahm ihre Hand und führte sie zu einem schwarzen Escalade, der auf sie wartete. Die Geste war galant – und ekelerregend. Vielleicht war es kein guter Charakterzug, Menschen zu verurteilen, ohne sie zu kennen, aber ich konnte weder Marty noch Mom leiden. Ich blickte zum Haupteingang auf der Suche nach Will, aber mein Blick wanderte zurück, als er nicht erschien. Sie standen dicht beieinander und unterhielten sich. Dann hob Marty die Hand, streichelte ihr Gesicht und küsste sie auf den Mund, bevor er zur Fahrertür ging.

Ich starrte die beiden schockiert an. Wow. Sie hatten eine Affäre.

Sie lachte über etwas, das er gesagt hatte, dann blickte sie in meine Richtung. Ich stand weit genug weg, sodass sie mich vielleicht nicht erkennen würde, aber als sie zögerte, bevor sie in den SUV einstieg, war ich sicher, dass sie es doch getan hatte.

Ich sah zu, wie der Escalade davonfuhr. In diesem Teil der Stadt war der Verkehr dicht. Taxis schnitten Fahrräder und Pferdekutschen. Die Klänge vieler verschiedener Sprachen zwischen den Hupen und den allgegenwärtigen Baustellen hallten in meinem Kopf. Ich konnte nur daran denken, dass Will es unmöglich wissen konnte. Ich holte tief Luft, bevor ich wieder zu den Bänken ging, um auf Will zu warten, dabei fragte ich mich, ob das alles etwas zu bedeuten hatte, und wenn ja, was.

 

 

DER CENTRAL Park war im Frühling wunderschön. Narzissen und Tulpen säumten die breiten Wege unter üppigen, grünen Baldachins. Es waren mehr Mensch unterwegs als üblich, aber wer konnte ihnen das verdenken. Nach einem harten Winter war es schwer, der Verlockung von Sonnenschein und einem wolkenlosen Himmel zu widerstehen. Ich setzte meine Sonnenbrille auf, um die Strahlen des frühen Nachmittags auszublenden, während Will auf interessante Stellen zeigte, als wäre er ein Touristenführer.

„Dieses Feld nennt man Sheep Meadow, denn hier gab es einst eine Herde reinrassiger Schafe. Ich glaube, von Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre. Wo jetzt das Restaurant The Tavern on the Green steht, haben die Schafe und der Schäfer gelebt. Verrückt, was?”

„Was davon? Schafe im Central Park oder dass du darüber Bescheid weißt?”

Will zog seine Ray Ban-Sonnenbrille herunter und funkelte mich an. Ich kicherte und zog ihn an mich, dabei schlang ich einen Arm um seine Schulter, scheinbar um seine Wange zu küssen, aber stattdessen leckte ich darüber.

„Iiih! Rand!”

Ich warf den Kopf zurück und lachte, während er seine Wange abwischte und mich mit Blicken aufspießte. Sein Haar war gewachsen, sodass ihm die wuscheligen, hellen Strähnen in die Augen fielen, wenn er den Kopf drehte.

„Tut mir leid. Die Geschichte über die Schafe war wirklich interessant. Erzähl mir mehr.”

„Es tut dir nicht leid. Du willst mich bloß ärgern. Ich rede nicht mehr mit dir.”

„Hmpf. Warum erzählst du nicht stattdessen von deinem Besuch bei Mami? Ich war am Boden zerstört, weil ich nicht eingeladen wurde.”

„Darauf möchte ich wetten.”

„Darf ich sagen, dass sie überhaupt nicht so ist, wie ich sie mir vorgestellt habe?”

Will wurde still und blickte mich verschämt von der Seite an. „Es tut mir leid, dass sie dich neulich beleidigt hat. Manchmal denke ich, sie gibt sich Mühe, aber sie weiß nicht wie. Ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht einfach darüber hinwegsehen sollte.”

„Ich wollte sie aus der Fassung bringen. Ich hasse es, ignoriert zu werden.”

„Also, damit hattest du Erfolg. Sie hat heute Morgen wieder nach dir gefragt.”

„Ich dachte, sie wäre nur für eine Nacht hier.”

„Das dachte ich auch. Sie wollte noch mehr Zeit mit Shoppen verbringen, aber jetzt ist sie weg. Ich bin bloß froh, dass ich daran gedacht habe, den Wecker für heute Morgen zu stellen, damit ich mich mit ihr treffen konnte. Es wäre schwer zu erklären gewesen, wenn ich den Brunch verpasst hätte.”

„Du bist ein zweiundzwanzig Jahre alter Collegestudent. Ich bin sicher, sie hätte es verstanden.”

„Das hätte sie nicht. Und sie würde auch nichts von dem verstehen, was letzte Nacht passiert ist.” Er wurde leuchtend rot, bevor er weitersprach. „Ich meine damit die Show.”

„Schon klar”, antwortete ich mit einem verschmitzten Lächeln, dann legte ich erneut den Arm um ihn. „Was hast du ihr gesagt, wo du letzte Nacht warst?”

„Eine Schulveranstaltung. Ich wollte ihr erst erzählen, dass ich im Theater arbeiten musste, bis ich hörte, dass sie mit Martin zu einer Vorstellung gehen wollte und–”

Ich ließ den Arm sinken und blieb stehen. „Schon wieder Martin?”

Will biss sich auf die Lippe und wandte den Blick ab. „Fangen wir nicht wieder damit an. Sie sind Freunde. Dagegen kann ich nichts tun.”

„Denkst du, sie wären immer noch Freunde, wenn sie über ihn Bescheid wüsste?”

„Vielleicht”, antwortete er mit einem Achselzucken. „Ich nehme an, das hängt davon ab, wie sie unsere Sünden wertet. Er hat mir bloß ein Angebot gemacht. Ich hätte es nicht annehmen müssen. Auch wenn es nicht über ein paar Dates hinausging, bin ich dennoch mitschuldig. Davon abgesehen ist Martin ein erfolgreicher, verheirateter Mann. Ich bin schwul.”

„Das ergibt keinen Sinn. Du bist noch vieles andere, abgesehen von schwul.” Als er abwesend mit den Achseln zuckte, entschied ich mich, eine weitere Frage zu stellen. „Denkst du, zwischen deiner Mom und Marty läuft etwas?”

Wills Augenbrauen kräuselten sich und er neigte nachdenklich den Kopf. Ich konnte praktisch sehen, wie sich in seinem Kopf die Räder drehten. Als er nicht sofort antwortete, tat es mir leid, dass ich das Thema angesprochen hatte. „Warum fragst du?”

„Ich weiß nicht. Ich bin eben ein Idiot.”

„So weit ich weiß, sind sie nur Freunde. Beim Frühstück wirkten sie normal. Sie haben eine Menge nerviger Fragen über meine Pläne nach dem Abschluss gestellt. Keinem von beiden gefällt die Vorstellung, dass ich für ein Aufbaustudium in der Stadt bleibe. Besonders, wenn es ein Musik- und Theaterstudium ist. Das ist zu schwul.”

„Und du hast ihnen gesagt, wohin sie sich ihre Fragen stecken können, hm?”

Will lachte. „Nicht direkt, aber ich wünschte, ich hätte es getan. Es ist ein besonderes Talent meiner Mom, das Wort ‘schwul’ wie eine Beleidigung klingen zu lassen. Eine Krankheit. Ich bin mit der Vorstellung aufgewachsen, dass mit mir etwas nicht stimmt. Meine Eltern haben es mir eingetrichtert. Nicht über mich speziell, doch noch bevor ich genau wusste, was an mir anders war, habe ich gehofft, dass ich nicht schwul bin. Niemand hatte etwas Gutes über Homosexualität zu sagen.

„Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich New York besucht habe, als ich ungefähr zwölf war. Wir waren vorher schon hier gewesen, also war mir der übliche Touristenkram egal. Ich habe mich auf das Theater gefreut. Wir hatten Karten für Spring Awakening und ich konnte es kaum erwarten. Das wenig subtile Augenrollen meines Dads konnte mir die Freude nicht verderben. Es war eine große Sache und ich wurde nicht enttäuscht. Es war so ... toll. Ich war von der Geschichte, der Musik ... von einfach allem überwältigt. Ich denke, da wurde mir klar, dass ich etwas mit Theater machen wollte. Ich war zu Tränen gerührt und konnte sie nicht zurückhalten. Mein Dad war entsetzt. Er schaute zu meiner Mom und fauchte sie an, mich zum Schweigen zu bringen, bevor jemand auf die Idee käme, ich wäre schwul.”

„Das klingt, als wäre dein Dad ein Arsch.”

„Naja, er hatte recht. Ich bin schwul.” Will lachte humorlos. „Ich bin nicht der Sohn, den er gern gehabt hätte. Seine Strategie ist es, mich zu bestrafen, indem er mir die finanzielle und emotionale Unterstützung verweigert, als würde ich dann sein wollen, wie er mich haben will. Und meine Mom ... manchmal glaube ich, dass sie auf meiner Seite steht, aber dann wiederum bin ich mir nicht sicher. Ich denke, sie spielt etwas vor, damit niemand erfährt, dass sie einen schwulen Sohn und einen schwierigen Ehemann hat. Wenn sie die Rolle der ergebenen Ehefrau und Mutter spielt, findet niemand die Leichen in unserem Keller. Wie mein Schwulsein. Familien sind so ... kompliziert. Da gibt es so viel Heuchelei und Spielchen, deren Regeln niemand mehr kennt. Funktionsstörung in Reinkultur.”

„Das gibt es bis zu einem gewissen Grad in jeder Familie. Der Trick ist, nicht zuzulassen, dass die Eltern oder jemand anders einem vorschreiben, wie man glücklich wird. Ich mag dein ‘Schwulsein’. Sei stolz darauf!”

Will lächelte. „Ich habe langsam das Gefühl, dass ich das schaffen kann. Wenn es eine Sünde ist, sich so gut zu fühlen, dann will ich ein Sünder sein, wie du.”

Ich warf den Kopf zurück und lachte, dann legte ich den Arm wieder um seine Schultern. „Das ist die richtige Einstellung!”

Wir blieben stehen, um einer Horde Kinder Platz zu machen, die auf das offene Feld hinter uns rannten und einander jagten. Ich blickte ihnen nach und dachte, wie schön es wäre, keine größeren Sorgen zu haben, als beim Fangen spielen geschnappt zu werden. Herauszufinden, dass Wills Vater ein homophober Idiot war und dass seine Mom möglicherweise eine Affäre mit dem Kerl hatte, der ihm Geld dafür angeboten hatte, sein Begleiter in Frauenklamotten zu sein, war keine Kleinigkeit. Die Menschen, auf die er sich eigentlich verlassen können müsste, hatten ihn im Stich gelassen. Er war wirklich allein. Ich war fast dankbar, als mein Telefon in meiner Tasche klingelte und meine Aufmerksamkeit forderte.

„Du solltest rangehen. Ich bin neugierig, was man über letzte Nacht so hört.”

„Was man so hört, was?”, stichelte ich. Ein stolperndes Kind lief an mir vorbei zu seinen Freunden. Ich ging ihm aus dem Weg und ließ fast mein Handy fallen. Ich bekam es im letzten Moment noch zu fassen und nahm schnell das Gespräch an, ohne nachzusehen, wer dran war.

„Hi Rand. Hier ist Leah.”

„Oh hi. Was gibt’s?”

„Tolle Show gestern Abend. Euer neuer Gitarrist ist unglaublich!”

„Danke. Er war wirklich toll. Wir haben jemanden gebraucht, der im letzten Moment für Terry–”

„Ich konnte nicht glauben, dass er eine solche Gelegenheit ruiniert hat.”

„Genau. Hey, kann ich dich zurückrufen? Ich bin–”

„Natürlich. Du sollst bloß wissen, dass ich auf deiner Seite bin, Rand. Ich will, dass Spiral Erfolg haben.” Ihre Stimme bekam diesen tiefen, verführerischen Tonfall, der mich sofort misstrauisch machte. Eine Sekunde später klang sie wieder professionell. „Ich habe ein paar PR-Ideen, die ich gerne mit dir besprechen würde. Können wir uns morgen treffen?”

„Ähm ... sicher.”

„Gut. Ich melde mich morgen bei dir.”

Ich schaltete das Telefon aus und steckte es in meine Tasche. Ein seltsames Gefühl überkam mich. Ich konnte es nicht genau benennen, aber ich wusste, dass ich vorsichtig sein musste.

„Wer war das?”, fragte Will.

„Leah.”

„Oh.”

„Sie hat ein paar Ideen wegen der PR – aber wie auch immer. Ich habe Hunger. Holen wir uns ein Eis. Ich bezahle.”

Ich zog ihn hinter mir her den Weg entlang, bevor er anfangen konnte, Fragen zu stellen. Zum Beispiel, warum Leah immer in der Nähe war. Warum wollte sie sich mit mir treffen? Glaubte ich diesen PR-Quatsch tatsächlich? Die letzten achtundvierzig Stunden hatten mich verwirrt. Meine Ziele im Auge zu behalten, wurde zunehmend schwieriger. Ich wusste, was ich wollte, aber es schien nicht mehr so einfach zu sein, das auch zu erreichen. Und ich hatte das ungute Gefühl, dass es noch viel komplizierter werden würde.

 

 

LEAH RIEF mich am folgenden Morgen an, wie versprochen, um ein Treffen für später am Tag auszumachen. Ich ging davon aus, dass sie sich am Nachmittag mit der Band im Proberaum treffen wollte, aber sie hatte etwas anderes im Sinn.

„Ich kenne ein tolles Restaurant in der Nähe des Proberaums. Ich reserviere einen ruhigen Tisch für zwei, damit wir uns unterhalten können. Ich texte dir die Adresse. Wie klingt sieben Uhr?”

„Ähm. Gut. Wir – wir sehen uns später.”

Es klang nicht gut. Es klang nach Ärger.

Ich blicke zu Cory, der neben mir am Spülbecken in unserer winzigen Küche stand. „Hilfe.”

„Was ist passiert?”, fragte er, während er gewissenhaft eine Banane schälte.

„Sie ist hinter mir her.” Ich erzählte Cory die Kurzversion meiner Interaktionen mit Leah in der letzten Zeit. „Hat Holly etwas darüber erzählt, wie es zwischen ihr und Terry läuft?”

„Sie hat nicht viel erzählt, aber ich weiß, dass Leah ihn abgeschossen hat. Mir scheint, als wäre es nichts Ernstes zwischen ihnen gewesen.” Er hielt inne und blickte mich vielsagend an. „Willst du wissen, was ich wirklich denke?”

„Ich bin mir nicht sicher.”

„Ich sage es dir trotzdem. Ich denke, sie hat ihn benutzt, um an dich heranzukommen. Vielleicht, um dich eifersüchtig zu machen. Jetzt gibst du dich unnahbar, deshalb muss sie dich haben.”

Ich schnaubte: „Ich gebe mich nicht unnahbar. Ich bin einfach nicht interessiert.”

„Seit wann bist du an jemandem wie Leah nicht interessiert? Egal. Ich wusste, dass das mit Terry nicht halten würde. Sie hat ihn ständig angemacht. Ich habe seit der Highschool kein Paar mehr erlebt, das sich so oft angegrapscht hat, ohne dass Alkohol im Spiel war. Sie wollte dir zeigen, was dir entgeht. Wenn du mich fragst ... sie ist der Grund, warum es mit Terry bei uns nicht funktioniert hat. Sie hat ihn sabotiert.”

„Das klingt weit hergeholt.”

„Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber sei vorsichtig, Mann. Sie ist wahnsinnig sexy und sie will einen Kerl, der in einer Band ist. Ein Gitarrist ist toll, aber ein Leadsänger? Noch besser. Anscheinend bist du der Nächste.”

 

 

NACHDEM SIE mir später eine zwanglose Nachricht mit Anweisungen, sie an der Bar zu treffen, geschickt hatte, glaubte ich, dass ich überreagiert hatte und dass Cory zu viel in die Sache hineininterpretiert hatte. Dann flirtete Leah eben gerne. Na und? Das tat ich auch. Normalerweise hatte das nichts zu bedeuten. Aber ich hinterfragte ihre Motive trotzdem. Ich glaubte nicht, dass es ihr nur um Sex ging oder darum, mit einem Kerl in einer Band zusammen zu sein. Ich hatte den Eindruck, dass sie ihre Karriere in Gang bringen wollte. Ich hatte kein Problem damit, sie für die PR-Arbeit zu engagieren, wenn sie zustimmte, den Job eine Weile für einen Hungerlohn zu machen. Aber ich würde klarstellen müssen, dass es nur ein geschäftliches Arrangement wäre. Nur deshalb fand ich es letztlich in Ordnung, mich mit ihr ohne den Rest der Band im Schlepptau zu treffen. Ich musste den unangenehmen Teil, nämlich Grenzen zu setzen, hinter mich bringen.

Ich war alarmiert, als ich später am Abend das Orange Tree Bistro betrat. Es war schick. Nicht mein Ding. Es gab Topfpflanzen, die wahrscheinlich ein rustikales Element sein sollten, doch beim Anblick der kristallenen Kronleuchter und der verschnörkelten Spiegel war ich froh, dass ich ein ordentliches Hemd zu meiner Jeans angezogen hatte.

„Hallo!”

Leah stand auf, um mich zu begrüßen, als ich zu unserem Tisch geführt wurde. Wie ich war sie ganz in Schwarz gekleidet, wie üblich, aber der eng anliegende Stoff und der tiefe Ausschnitt waren ungewöhnlich. Genauso wie ihre überschwängliche Begrüßung. Sie beugte sich vor, als wollte sie meine Wange küssen, aber im letzten Moment landete der Kuss auf meinen Lippen. Ich zuckte zurück und blickte sie verwirrt an. Der Blick, den ich von ihr erntete, sagte, dass sie liebend gern das Abendessen ausfallen lassen würde, um gleich zum Dessert überzugehen.

„Es ist nett hier”, stellte ich fest, während ich zur Weinkarte griff.

„Ich habe eine Flasche bestellt. Ich hoffe, das macht dir nichts aus. Sie sollte jeden Moment gebracht werden. Erzähl mir in der Zwischenzeit von deinem Tag.”

Ein Sommelier erschien an unserem Tisch, bevor ich antworten konnte. Während er die fruchtige Mischung des Weines, den er gebracht hatte, beschrieb, nickte ich aufmerksam und machte mir Gedanken, wie ich mit diesem unerwarteten Date umgehen sollte. Denn das schien dieses Treffen zu sein. Sie war hinterlistig, aber ich hatte sie durchschaut. Es lag an mir, beim Thema zu bleiben.

„Mir gefallen die Ideen, die du letzte Woche erwähnt hast. Wir haben nicht viel Geld, deshalb haben wir keine Firma engagiert. Bisher war ich für unsere Präsenz in den sozialen Netzwerken zuständig. Mike hilft uns jetzt, aber wir sind praktisch pleite.” Ich schnaubte und nahm einen Schluck Wein. „Das werden wir wahrscheinlich auch noch eine ganze Weile sein. Wir brauchen auch wieder einen Gitarristen, nachdem Terry–”

„Ich habe mit ihm Schluss gemacht.” Sie gab ein selbstzufriedenes Geräusch von sich und schwenkte die dunkelrote Flüssigkeit in ihrem Glas umher. „Ich wollte damit nicht einfach so herausplatzen, aber ich wollte ehrlich sein, was den Stand unserer Beziehung angeht. Es war nie etwas Ernstes, aber jetzt ist es definitiv vorbei. Es war leicht, ihm den Laufpass zu geben, nach dem, was er euch angetan hat. Es tut mir leid, dass ich mit ihm zusammen war. Ich will mich nicht aufdrängen, aber ich will mit der Band arbeiten. Ich habe in den letzten paar Monaten gesehen, was ihr könnt, und ich möchte helfen. Das ist alles.”

Sie sagte genau das Richtige und ihre Worte klangen ehrlich.

„Also gut. Toll.”

Wir waren uns einig und lächelten uns an, bevor wir uns an die Arbeit machten. Wir sprachen beim Essen über Märkte, soziale Medien und Marken. Es war angenehm, mit jemandem unsere Möglichkeiten zu diskutieren, der unsere Musik kannte und ein gutes Verständnis dafür hatte.

„Der Kerl, der Terry ersetzt hat, war ein Genie. Wer ist er?”

„Ein Freund, der zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Leider wird er den Posten nicht dauerhaft übernehmen. Ich werde einen Ersatz finden müssen. Mike sagte, er hätte ein paar potenzielle Kandidaten.” Ich hielt meinen Tonfall neutral.

„Zu schade. Ich mochte seine Ästhetik. Er war furchtlos. Ich glaube, der optische Kontrast, den er gebildet hat, hat einen guten Eindruck gemacht. Daran solltet ihr festhalten. Ein Schuss Glamour. Das gefällt dem Publikum.”

„Das sehe ich auch so.” Will hatte mir gezeigt, was ich brauchte, ohne dass ich wusste, dass ich danach gesucht hatte. Es konnte zwar schwierig werden, jemanden zu finden, der bereit war, sich so anzuziehen, aber das Konzept gefiel mir. „Ich kenne einen potenziellen Stylisten.”

„Wunderbar. Ich arbeite zurzeit an ein paar größeren Projekten, aber ich kann anfangen, eure Webseite aufzupeppen und Blogger zu kontaktieren, wenn du interessiert bist.

„Das bin ich. Ich muss mit Mike und den Jungs reden, aber ich muss fragen ... warum willst du uns helfen? Wir sind noch lange nicht berühmt. Wir haben noch keinen Plattenvertrag und–”

„Das wird sich ändern.”

Mir gefiel die Sicherheit in ihrem Blick. Ich erwiderte ihr breites Grinsen und war plötzlich sehr froh, dass ich dieses „Date” heil überstanden hatte. Bis sie wieder den Mund aufmachte.

„Du hast erwähnt, dass du dich mit jemandem triffst. Wie ernst ist das?” Der Sex in dem flirtenden Unterton war nicht zu überhören.

„Sehr ernst. Denke ich.”

Leah kicherte leise und beugte sich mit den Armen auf den Tisch gestützt vor. „Gut zu wissen.”

 

 

IN DER folgenden Woche erreichten uns zwei Vertragsangebote. Es fühlte sich an wie ein Traum, nichts schien real. Wie war es möglich, dass jemandem so viel Geld angeboten wurde, um das zu tun, was er liebte? Es war verrückt. Die Zahlen waren unfassbar. Es galt vieles in Betracht zu ziehen, um für Spiral den besten Deal herauszuschlagen. Beide waren lukrativ, aber das Angebot von einer großen, bekannten Plattenfirma erschien wie ein Standardvertrag für neue Bands. Die Schlupflöcher, die die Firma beschützen sollten, konnten sich im kreativen Bereich nachteilig für uns auswirken. Das zweite Angebot schien besser zu uns zu passen. Es kam von einem kleineren Label namens Suite Dog Records, gegründet von alternativen Künstlern. Nach einem Treffen mit den Firmenvertretern wusste ich instinktiv, dass dies die beste Wahl war, um die Integrität unseres Sounds zu bewahren. Das letzte, was ich wollte, war, dass ein idiotischer Tontechniker unsere Musik gegen unseren Willen mit Synthesizern und gospelartigem Backgroundgesang unterlegte. Ich wollte so viel Kontrolle über die Musik behalten wie möglich. Das Geld war für den Anfang fantastisch und würde später astronomisch werden. Mehr, als ich mir jemals vorstellen konnte. Und wenn sich unser erstes Album gut verkaufte, gab es keine Grenzen mehr. Aber zuerst mussten wir ein paar Probleme ausmerzen. Und zwar schnell.

„Wills Name muss aus dem Vertrag verschwinden.”

Cory, Tim und ich saßen an einem kleinen Konferenztisch in Mikes Büro und gingen den Vertrag Zeile für Zeile durch, bevor ein Anwalt das Gleiche tun würde, aber es war eine gute Gelegenheit, einen Schlachtplan auszuarbeiten. Mike fiel es noch schwerer als sonst, still zu sitzen. Er war noch nie in einen potenziellen Deal dieser Größenordnung involviert gewesen. Ich merkte, dass er allem zustimmen würde, was ich sagte, nur damit ich endlich den Mund hielt und den verdammten Vertrag unterschrieb.

„Wir wissen nicht, ob es das ist, was er will. Wir müssen ihn zuerst fragen. Wenn er Nein sagt, werden wir auf eine Änderung bestehen, finden einen Ersatz und unterzeichnen.” Mike lehnte sich mit einem breiten Grinsen in seinem Stuhl zurück, nur um gleich wieder herumzuzappeln und mit dem Knie zu wippen wie ein Dreijähriger, als sich die Stille ausbreitete. „Isaac hat dir doch gefallen. Wir können ihm den Job anbieten, wenn Will ihn nicht möchte. Wir können ihm auch vorschlagen, dass er den Posten übernimmt, bis Isaac das Material spielen kann. Es gibt mehr als ein oder zwei Möglichkeiten, die Sache unter Dach und Fach zu bringen, aber wir müssen wissen, wo er steht.”

Alle Augen waren auf mich gerichtet.

„Frag ihn, Rand. Das ist alles. Wenn er Nein sagt, werden wir einen Gegenvorschlag machen, wie Mike gesagt hat”, riet Tim. „Das ist auch für ihn eine große Chance. Das Geld ist der Wahnsinn. Allein den Vertrag zu unterschreiben, bringt uns alle in die schwarzen Zahlen. Er ist ein Collegestudent. Die sind immer pleite. Selbst wenn er sich nur auf ein kurzfristiges Engagement einlassen will, haben wir alles etwas davon.”

„Ich weiß nicht, ob er es so sehen wird, doch ich rede mit ihm. Aber erzählt dem Anwalt von Terry. Ich will nicht, dass wir wegen ihm Probleme bekommen.”

„Terry stellt kein Problem dar. Er weiß, dass er raus ist”, erklärte Mike zuversichtlich. „Es ist seine eigene Schuld. Das weiß er.”

„Und er nimmt das einfach so hin? Na klar. Das glaube ich kaum, Mikey. Es ist mir egal, ob die Gefühle des Kerls verletzt wurden. Ich will bloß nicht, dass er uns später Ärger macht.”

„Alles wird gut gehen. Rede einfach mit Will.”