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ZWEI TAGE später war ich immer noch ratlos. Wie konnte ich etwas unternehmen, wenn er nicht mit mir reden wollte? Ich musste herausfinden, was ihm bevorstand, bevor die Dinge außer Kontrolle gerieten. Die Geschichte wurde von anderen Schlagzeilen verdrängt, als ein Hurrikan den Südosten traf. Ich bat Ed, ein Statement abzugeben, aber er beharrte darauf, dass wir uns nicht äußern würden. Spiral war noch kein großer Name. Wir hatten noch nicht einmal unsere erste Single aufgenommen. Wir waren ein kleiner Fisch in einem riesigen Teich. Alles, was wir hatten, waren Versprechungen. Eds Strategie beinhaltete, uns still zu verhalten, bis wir im Aufnahmestudio waren. Ich hatte den Kopf voller Sorgen und viel zu viel Zeit, um sie zu wälzen.

Gott sei Dank für Bagels.

 

 

„GUTEN MORGEN Randall. Wie geht es dir an diesem wundervollen Dienstag?” George begrüßte mich an der Hintertür mit seinem üblichen einladenden Lächeln. Er hielt den Arm in einer ausladenden Geste, als wollte er mich in den wundervollsten Ort der Welt einladen. Ich schaffte es, nicht mit den Augen zu rollen, und merkte, dass ich für diese nette, familiäre Geste dankbar war. Was am Anfang nur ein Mittel gewesen war, um einen klaren Kopf zu behalten, war zu einer Zuflucht geworden. Die Arbeit hier gab mir die Möglichkeit, mit Menschen in Kontakt zu kommen, die nichts mit Musik zu tun hatten, und meinen Gedanken eine Pause zu gönnen. Die Leute kamen wegen der Bagels und der netten Unterhaltungen hier her.

Ich folgte George in den Verkaufsbereich und hörte zu, wie er sich erneut über den Freund von Zeke beschwerte. George fand es offensichtlich sehr beleidigend, dass er nicht zu einer Familienfeier erschienen war.

„Ich wünschte, Ezekiel würde erkennen, dass der Kerl ihn benutzt! Kennst du nicht einen netten Mann? Vielleicht würde er wieder zu Sinnen kommen, wenn er jemanden kennenlernt, der anständig ist.”

„Ich kenne keine netten Männer, George. Ich gehöre zu den Leuten, die man nicht seinen Eltern vorstellt, und das gleiche gilt auch für meine Freunde.”

„Das ist lächerlich. Du bist ein guter Mann, Randall. Du hast eine gute Seele. Ich erkenne so etwas.”

Ich hielt den Kopf gesenkt, während ich meine Schürze zuband. Es wäre wahrscheinlich unhöflich, George darüber zu informieren, dass er einen Scheißdreck wusste. „Womit soll ich anfangen?”

„Du kannst–” Er zog die Augenbrauen zusammen und legte die Hand auf meine Stirn, wie ein besorgter Vater. „Du siehst nicht gut aus. Was ist los? Geht es um William?”

Vielleicht war es die Freundlichkeit in seinem Blick oder sein besorgter Ton, doch ich verlor beinahe die Fassung. Ich wollte wie ein Kind in Tränen ausbrechen, denn ich war unglaublich frustriert und wusste nicht, wie ich etwas reparieren sollte, für das ich mich verantwortlich fühlte.

Ich biss auf die Innenseite meiner Wange und nickte. „Ja.”

„Habt ihr euch getrennt? Ist er krank? Was ist passiert?”

Ich hatte keine Chance gegen George. Seine Sorge war so echt. Es war weniger als achtundvierzig Stunden her, dass meine Welt zusammengebrochen war, und ich konnte einen Freund brauchen. Ich erzählte ihm alles. Ich erzählte ihm von Terry, den Gitarrenstunden mit Will und sogar, wie ich entdeckt hatte, dass Will gern Frauenkleider trug. Ich erzählte ihm von Wills kalten, konservativen Eltern, die von ihm verlangten, dass er seine sexuelle Orientierung geheim hielt, um politische Vorteile davon zu haben. Ich beschwerte mich über ihre fehlende Anerkennung seines Talents, während ich im Laden auf und ab lief.

„Er ist ein Wunder, Mr. G. Ein einmaliger Musiker. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so talentiert ist und so ... gut.”

„Du bist in den Jungen verliebt, oder?”

Ich lachte auf, doch das würde niemanden täuschen, auch wenn ich die Worte nicht aussprechen konnte. Nicht, wenn mich Tränen zu ersticken drohten, die sich nicht ergießen wollten.

„Wenn du ihn liebst, Randall, dann solltest du dafür sorgen, dass er es erfährt.”

„Es geht nicht um Liebe. Es ist sein Dad, der Plattenvertrag ... ich sollte Ihnen wahrscheinlich sagen, dass ich früher oder später kündigen muss. Im Moment bin ich noch nicht bereit dazu, aber ... irgendwann.”

„Was soll das heißen? Es geht nicht um Liebe. Liebe ist das Einzige, das zählt. Nichts ist unmöglich, wenn du ihn liebst. Seine Eltern mögen vielleicht für das, was sie glauben, und wie sie ihr Leben führen, einen guten Grund haben, aber das Gleiche gilt für William und für dich. Du stimmst vielleicht nicht mit ihrer Lebensphilosophie überein, genauso wenig, wie sie mit deiner, aber das spielt keine Rolle. Es zählt nur, was das Richtige für dich ist. Willst du zulassen, dass jemand anderer bestimmt, wer oder was dich glücklich macht?”

„Natürlich nicht, aber–”

„Hör mal ... Liebe ist wie ein Bagel.”

Ich rollte mit den Augen, ich konnte nicht anders. „George, bis jetzt konnte ich noch folgen, aber–”

„Ein nie endender Kreis. Keiner gleicht exakt dem anderen, und das Beste von allem: Es gibt sie in verschiedenen Geschmacksrichtungen.”

„Das ergibt keinen Sinn”, seufzte ich.

„Das muss es auch nicht. Ich bin ein alter Mann. Ich habe das Recht, verrückte Dinge zu sagen, denn ich habe schon vieles erlebt. Einiges davon war härter als anderes. Ich habe kein Recht, andere wegen der Art, wie sie glücklich werden, zu verurteilen. Ich habe einen schwulen Sohn, den ich von ganzem Herzen liebe, aber es gab eine Zeit, da habe ich versucht zu ändern, was ich nicht verstehen konnte. Ich dachte, es läge an mir, ihm beizubringen, was ein richtiger Mann ist. Kinder zu haben, macht einen nicht klüger. Idioten pflanzen sich jeden Tag fort. Gute Eltern lernen genauso viel von ihren Kindern, wie diese von ihnen. Vielleicht werden Williams Eltern eines Tages verstehen–”

„Wohl kaum.”

„Dann hat er Glück, dich zu haben.”

George tätschelte meine Schulter, bevor er sich dem ersten Kunden des Tages zuwandte. „Gute Morgen, Mr. Katzmann! Wie geht es Ihnen an diesem schönen Dienstag?”

Ich beobachtete, wie er den Geschäftsmann mittleren Alters in seiner üblichen, freundlichen Art begrüßte. Glück? Ich bezweifelte, dass Will das im Moment auch so sah.

 

 

GEGEN ZEHN Uhr war ich ein nervliches Wrack. Das Gespräch mit George hatte mich zum Nachdenken gebracht. Ich hatte noch keinen richtigen Plan, aber ich wollte nicht mehr auf den richtigen Zeitpunkt warten. Ich legte meine Schürze ab und winkte George zu, bevor ich mich den verpassten Anrufen und Nachrichten auf meinem Handy zuwandte. Die neueste war von Benny. In Großbuchstaben.

ACHTUNG! DAD GIBT HEUTE MORGEN EINE ERKLÄRUNG AB. W TRIFFT SEINE MOM AUF DEM CAMPUS.

Wann?

12 UHR MITTAGS.

George hob die Hand und sein Blick sagte deutlich ‘Kümmere dich darum, Randall’, während ich mein Telefon verstaute und hinauseilte. Als ich den Starbuck’s eine Straße weiter betrat, zog ich es wieder hervor. Es zeigte weitere Nachrichten an. Die meisten waren von Tim, Cora und Mike, ein paar waren von Ed. Damit konnte ich mich erst beschäftigen, wenn ich einen vernünftigen Kaffee getrunken hatte. Ich gab meine Bestellung auf und wartete am anderen Ende des Tresens. Mein Blick wanderte zu dem Fernseher an der gegenüberliegenden Wand.

„Der hoffnungsvolle Kandidat auf den Gouverneursposten, Charles Sanders, hat eine Erklärung veröffentlicht zu seinem Standpunkt zu den Rechten für Homosexuelle in Bezug auf eine kürzlich durchgesickerte Meldung, sein Sohn sei angeblich homosexuell.

„Mein Sohn ist ein talentierter Musiker mit einer großen Zukunft. Er praktiziert keinen homosexuellen Lebensstil. Was meine Kampagne angeht, haben sich meine Ansichten nicht geändert. Ich unterstütze die Homosexuellenbewegung nicht und das tut auch niemand sonst in meiner Familie, inklusive meines Sohnes.”

Eine junge Frau mit einem großen Hut und einem gelben Kleid blickte zum Bildschirm und schüttelte den Kopf. „Der Typ ist ein Idiot.”

Ich nickte abwesend und nahm meinen Cafe Latte, als mein Telefon klingelte. Ed.

„Hi.”

„Mensch, ich versuche schon den ganzen Tag, dich zu erreichen! Hast du die Nachrichten gesehen? Das ist verrückt! Erst ist es ein Gerücht, das auf einem Foto basiert, und plötzlich ist es politischer Albtraum! Die Leute von Wills Daddy rufen schon den ganzen Morgen an und drohen, uns dem Erdboden gleichzumachen, wenn wir dich nicht fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Er will dich zerstören, Rand. Was soll das nur?”

Mein Puls beschleunigte sich bedenklich. Ich schluckte schwer und zwang mich, einen Schluck Kaffee zu trinken, bevor ich antwortete. Die Höhen und Tiefen des Ruhms, dachte ich humorlos. Man versuchte schon jetzt, mich kaputt zu machen, auch wenn ich noch gar nicht berühmt war.

„Was wirst du tun? Wirst du dich einem unerheblichen Möchtegern-Politiker beugen, dessen Position sich auf Hass gründet? Nur aus Neugier.”

„Nein, das werde ich nicht. Unser Deal steht. Wir vermarkten dich als bisexuell und sitzen diesen Ansturm der freien Presse aus. Wenn wir etwas tun, dann dich so schnell wie möglich ins Studio zu bringen. Wir ziehen das Veröffentlichungsdatum vor und–”

„Nicht so schnell, Ed. Sieh mal ...” Ich ging zum Fenster und ließ meinen Blick über den Verkehr auf der Straße wandern. „Ich werde nicht lügen. Überhaupt nicht. Ich bin bi, aber ich werde nicht lügen, wenn es um Will geht. Wir können nicht gewinnen, wenn wir wie sie sind.”

„Das lässt sich nicht vermarkten, Rand”, schnaubte er ungeduldig ins Telefon. „Du musst dich distanzieren. Halt dich von ihm fern. Wir veröffentlichen ein eigenes Statement, wenn die Zeit reif ist, aber–”

„Nein.”

„Wie bitte?”

„Du hast mich schon verstanden. Ich halte mich nicht von ihm fern und ich werde nicht still sein.”

„Das lässt sich nicht vermarkten”, wiederholte er.

„Das wird es doch. Ich habe ein gutes Gefühl bei der Sache. Das ist ein Risiko, das ich eingehen muss. Aber ich weiß, wie wir uns die Leute von Mr. Sanders von Hals halten können.”

„Wie? Hast du etwas gegen ihn in der Hand?”

„Das habe ich tatsächlich. Sag ihm, du weißt alles über Martin Kanzler, und wenn bei ihm nicht sofort alle Alarmglocken schrillen, sag ihm, er soll seine Frau fragen. Wir reden später weiter.”

Ich fuhr mit dem Taxi nach Hause und ließ den Fahrer warten, während ich meine Gitarre holte. Das Leben der nicht wirklich Reichen und noch nicht Berühmten, sinnierte ich, als ich mich zur NYU fahren ließ. Mein Plan war schlecht durchdacht ... eigentlich hatte ich gar keinen. Ich wusste nur mit Sicherheit, dass Will in dem Gebäude war. Alles andere war unwichtig. Ein Musiker wendet sich immer seinem Instrument zu, wenn er unter Stress steht. Ich verließ mich drauf, dass es Will ebenso erging. Wenn er sich mittags mit seiner Mom auf dem Campus treffen wollte, würde er an demselben Klavier sitzen, an dem er immer übte. Er konnte sich in der Musik verlieren und würde nur in die wirkliche Welt zurückkehren, wenn er keine Wahl hatte.

Mein Taxi parkte hinter einem schwarzen Escalade, der in der Nähe eines Fußgängerüberwegs stand. Das roch nach Ärger. Der Übertragungswagen eines Nachrichtensenders an der Ecke war vermutlich auch kein Zufall. Verdammt, ich fühlte mich wie in der Falle. Ich konnte mir nur vorstellen, wie Will sich fühlte. Ich nahm den Gitarrenkoffer in die linke Hand und trat auf den Gehweg, wo mich sofort eine Hand auf meinem Arm aufhielt.

„Sie haben hier nichts zu suchen! Was denken Sie, was Sie hier tun?”

Ich drehte mich um und blickte in das wütende Gesicht von Wills Mutter. Mrs. Sanders war perfekt frisiert und sah in ihrem dünnen beigefarbenen Leinenkleid mit einer Halskette aus modischen Strasssteinen wunderschön aus. Sie strahlte Autorität aus, aber meine Anwesenheit hatte sie offensichtlich aus dem Konzept gebracht. Sie sah etwas ... aufgewühlt aus. Ich grinste sie frech an, was sie wohl noch mehr aufregte, und streckte ihr die Hand entgegen. Ich kicherte, als sie sie nicht ergriff, denn ich hatte mit nichts anderem gerechnet.

„Ich bin nur ein Bürger, der auf den Straßen von New York City einen Spaziergang macht. Außerdem möchte ich Will sprechen. Und Sie?”

„Sie haben schon genug angerichtet. Verschwinden Sie und lassen Sie meinen Sohn und meine Familie in Ruhe. Das hat ab sofort ein Ende. Wenn er erst einmal seine Erklärung abgegeben–”

„Und welche Erklärung wäre das?”

„Die Erklärung, in der er sich von Ihnen und Ihrer Art lossagt”, fauchte Sie mit drohendem Tonfall. „Er ist ein guter Mann aus einer guten Familie und–”

„Davon ist nur ein Teil zutreffend. Es ist lächerlich, dass Menschen wie Sie mit dem Finger auf andere zeigen, um von ihren eigenen Sünden abzulenken. Aber es ist einfach nur traurig, wenn eine Mutter das mit ihrem eigenen Sohn macht. Sie wurden erwischt, Mom. Ich weiß alles über Sie und was Sie tun. Mit Mr. Kanzler.”

Bevor sie antworten konnte, erschien eine weitere Frau vor dem Gebäude. Sie war unverkennbar eine Reporterin mit dem typischen, überfreundlichen Lächeln auf dem Gesicht, das sagte „Du kannst mir vertrauen”. Ich vertraute ihr kein Bisschen.

„Hallo, sind Sie nicht der Mann aus der Band?”

„Das bin ich.” Ich lächelte breit und bot ihr die Hand an, die Mrs. Sanders nicht hatte schütteln wollen.

„Wollen Sie einen Kommentar abgeben zu–”

„Nein, das will er nicht. Wir können dieses Gespräch–”

„Wie lautet der Name Ihrer Band? Was haben Sie zu der Behauptung von Mr. Sanders zu sagen, sein Sohn sei nicht schwul?” Die Reporterin ignorierte Mrs. Sanders und setzte ihr Sperrfeuer an Fragen fort. „Ist William Sanders Ihr Freund? Sind Sie beide ein Paar?”

Mit jeder Frage verlor Mrs. Sanders weiter die Fassung. Ihre Armbänder klimperten, während sie mit den Händen wedelte, um die junge Frau aufzufordern, nicht weiter zu fragen. Ich floh in das Gebäude, während die beiden Frauen sich über das Recht der Öffentlichkeit stritten.

 

 

IN DEN letzten acht Monaten hatte ich das Personal an der Rezeption des Performing Arts Centers gut kennengelernt. Heute hatte Ray Dienst. Er war ein afroamerikanischer Mann mittleren Alters mit ergrautem Haar und einem runden Bauch, der für die Knöpfe seines lilafarbenen, kurzärmeligen Hemdes eine Herausforderung darstellte. Er grüßte mich mit einem breiten Grinsen und einem freundschaftlichen Handschlag.

„Wie geht’s dir, Rand, mein Freund?”

„Mir geht’s gut. Hey, könntest du Will wissen lassen, dass ich hier bin?”

„Er wird gleich herunterkommen. Er muss sich mit der Gruppe dort drüben herumschlagen.” Ray deutete auf zwei Männer und eine Frau in der gegenüberliegenden Ecke der Lobby in der Nähe der Glastür.

„Wer ist das? Was geht hier vor?”

„Sie sind gerade erst gekommen. Ich glaube, sie sind von einem lokalen Nachrichtensender. Ich habe mitgehört, dass irgendwo in der Nähe eine Pressekonferenz abgehalten wird, wenn seine Mom hier ist. Ich denke, sie wollten schon vorab ein Zitat von dem jungen Mann. Aasgeier!”, stellte er fest und schüttelte angewidert den Kopf.

„Sie ist draußen. Warum sind die hier im Gebäude? Er will diese Art von Aufmerksamkeit nicht, Ray”, flüsterte ich.

„Sie belästigen niemanden ... da kann ich nichts machen. Ich habe ihn gewarnt, dass sie hier sind. Er hat gesagt, er wäre in ein paar Minuten unten. Damit hatte ich nicht gerechnet.”

„Oh.”

Ray redete immer noch: Erklärung der Familie. Wills Mutter. Skandal. Armer Will. Lächerliches Durcheinander. Und sie sollten sich besser schnell woanders hin verziehen, denn er wollte keine Unruhe, während er Dienst hatte. Bei seinem letzten Kommentar drehte ich mich um und lächelte. Mein erstes Lächeln seit Tagen.

Ray runzelte die Stirn. „Was hast du vor, Junge?”

„Überhaupt nichts, Sir.”

Ich holte meine Akustikgitarre aus dem Koffer und hängte sie über meine Schulter. Ich hatte keine Zeit, sie zu stimmen, denn jetzt galt alles oder nichts. Ich stimmte die ersten Zeilen eines Liedes an, das vor Kurzem erst fertig geworden war. Die Musik stammte von Will, der Text von uns beiden. Ray sah mich neugierig an, aber er wirkte nicht sonderlich besorgt. Er hatte es jeden Tag mit Musik-Heinis zu tun, die ständig auf ihren Instrumenten spielten. Erst als ich begann, zu singen, zog er die Augenbrauen zusammen und sein Gesichtsausdruck wirkte alarmiert. Ich gab vor, es nicht zu bemerken, als ich die Stimme hob und lauter sang, damit mich jeder in der Lobby hören konnte.

„It’s a dangerous kind of music. So beautiful but I’m haunted–”

„Rand, sei leise!”

Ich ignorierte ihn und ging zur Mitte der Lobby, wo ich auf einen Blumentopf neben der großen Treppe kletterte. Die zusätzlichen gut siebzig Zentimeter sicherten mir noch mehr Aufmerksamkeit und ich konnte Will besser erkennen, wenn er eintreten sollte. Mein Blick wanderte zwischen der Tür, die die Aufzüge von der Lobby trennte, und den Reportern, die von der Ecke aus zuschauten, hin und her. Ich sang laut und meine Stimme hallte durch den Raum. Es war Mittagszeit und die Unterrichtsstunden mussten zu Ende sein, also dauerte es nicht lange, bis mein Publikum wuchs. Jeder liebte Clowns. Jedenfalls für einen Moment. Ich hatte nicht viel Zeit, bevor Ray Verstärkung rufen würde.

Ich beendete das Lied mit einem letzten Strich über die Saiten und meine Fans klatschten begeistert. Ich wollte gerade ein neues Lied beginnen, als ich eine vertraute Stimme hörte: „Du bist unglaublich.”

Ich blickte auf und musste zweimal hinschauen.

Will war in meinen Augen immer wunderschön, aber er war am schönsten, wenn er etwas vollkommen unerwartetes machte. Die blonde Perücke mit Stachelfrisur, die zerrissenen Jeans und die niedrigen, roten Stiefel waren eine Überraschung. Ebenso wie der Eyeliner und der Lipgloss. Keinesfalls ein Outfit für einen normalen Schultag.

„Du siehst toll aus.”

Ich drehte meine Gitarre auf den Rücken und hüpfte von dem Blumentopf herunter. Ich konnte das Lächeln nicht unterdrücken, als ich mich ihm näherte, auch wenn ich nicht sicher war, wie ich empfangen werden würde.

„Ich will eine Erklärung abgeben”, sagte er mit einem frechen Grinsen, als ich näherkam. „Du solltest vielleicht verschwinden. Bald ist ein Team von Reportern mit meiner wütenden Mom hier. Das könnte hässlich werden.”

Mein Blick wanderte über ihn hinweg. Er war wirklich furchtlos.

Die Menge löste sich auf, nachdem die Musik geendet hatte. Ich vernahm ein paar Kommentare wie „Das war der Hammer, Mann” und sah Rays erleichterten Blick, als er wieder seinen Posten hinter dem Tresen der Rezeption einnahm.

„Die Reporter stehen in der Ecke neben dem Eingang. Sie sehen aus, als wollten sie sich gleich auf dich stürzen, und deine Mom ist draußen. Deine Aufmachung wird ihr übrigens gefallen.”

„Es spielt keine Rolle mehr, was die anderen denken. Ich mache die Dinge auf meine Art.”

„Ich bin stolz auf dich. Ich – ich muss mit dir reden. Komm mit.”

Ich packte seinen Ellenbogen und zog ihn mit mir in Richtung der Rezeption, bevor er protestieren konnte. Hinter Rays Tresen war eine Nische, wo wir allein waren. Jedenfalls kurzfristig. Will blickte mich ungeduldig an, aber sagte kein Wort. Wir starrten einander lange an. Ich wollte ihm die Perücke herunterziehen und das Make-up vom Gesicht wischen, damit ich mit den Fingern durch sein Haar fahren und seine Sommersprossen sehen konnte. Ich wollte ihn in die Arme nehmen und ihn anflehen, mir zu verzeihen.

„Rand, ich kann das jetzt nicht. Ich will erst vor den Reportern meine Erklärung abgeben und–”

„Was wirst du sagen?”

„Ich werde die Wahrheit sagen.”

Ich schluckte nervös und nickte. „Und was ist die Wahrheit?”

„Dass ich schwul bin.”

„Das ist alles?”

Er lachte. „Nein, das ist nur ein Teil davon.”

Ich unterdrückte den Drang, ihn an mich zu ziehen, und blickte ihn neugierig an. „Was ist der Rest der Wahrheit?”

„Dass ich stolz darauf bin. Ich wünsche meinem Dad Erfolg, aber ich werde deswegen nicht verleugnen, wer ich bin. Ich werde mich nicht mehr dafür schämen, was ich bin.” Er fuhr mit der Hand durch seine Perücke und lächelte schief. „Für keinen Teil von mir.”

„Gut.”

„Und ich werde hinter nichts und niemandem zurückstehen. Ich bin–”

„Es tut mir leid.”

„Das sagtest du bereits. Du–”

„Es ist mein Ernst.” Ich legte die Hand auf seinen Mund und zog ihn an mich. „Hör mir zu ... bitte.”

„Ich höre zu.” Er schob mich weg und neigte den Kopf, eine Geste, die deutlich sagte, dass es besser etwas Wichtiges war.

„Du stehst an erster Stelle. Es tut mir leid, dass ich dir nicht erzählt habe, dass Leah über deinen Dad Bescheid wusste. Ich habe mir eingeredet, dass ich dich damit beschützte. Ich wollte nicht, dass du dir wegen ihr Sorgen machst. Oder wegen deiner Eltern. Vielleicht wollte der selbstsüchtige Teil von mir die Zeichen einfach ignorieren, denn ich hatte Angst, dass sie alles zerstören würden.”

„Für die Band.”

„Nein, für uns.” Ich biss auf die Innenseite meiner Wange und blickte hinter mich, um abzuschätzen, wie viel Zeit ich noch hatte, bevor man nach Will suchte. Ich muss meine Chance nutzen.

„Rand, ich–”

„Nein, bitte! Lass es mich ... versuchen. Ich kann so etwas normalerweise gut. Die Worte, die Musik, aber – ich habe nicht mit dir gerechnet, Will. Ich bin nicht mehr derselbe Mann, der ich war, als ich in die Stadt gekommen bin. Alles hat sich geändert. Mir ist nicht mehr kalt. Ich bin nicht mehr verloren. Und wenn ich mir Sorgen mache, dass ich vom Weg abkomme, dann gibt es jemanden, der mich auf den richtigen Pfad zurückführt.

„Als du mir gesagt hast, dass du mich von Anfang an belogen hast, und dass du wusstest, du würdest dich in mich verlieben ... für mich war es nicht so. Ich wusste nicht, dass ich mich in dich verlieben würde. Ich habe dich nicht erwartet, Will. Ich bin eines Morgens neben einem Kerl aufgewacht, der eine lustige Pyjamahose anhatte, mit Sommersprossen auf der Nase und Glitter an den Augen. Und da wusste ich, dass ich auf der Hut sein musste. Ich weiß nicht, was ich tun soll, aber ich bin sicher, dass das Gefühl keine Laune ist. Es wird nicht verschwinden. Du bist ein Teil von mir. Ich kann ohne Ruhm und Reichtum leben, Will, aber ich will nicht ohne dich leben. Ich liebe dich.”

Will stürzte sich auf mich und schlang die Arme um meinen Hals. Ich hielt ihn fest und atmete seinen Geruch ein. Alles andere verschwand im Hintergrund. Die Studenten, die Reporter, Wills Mutter, die draußen wartete. Das war Hintergrundmusik. Unwichtig. Ich zog mich ein wenig zurück und wartete, bis er mir in die Augen schaute, bevor ich meinen Mund auf seinen legte. Wir verloren uns im Moment und legten unsere Stirn an die des anderen. Es gab keine Fragen mehr, keinen Grund, sich zu verstecken. Und das fühlte sich gut an.

„Ich liebe dich auch.” Unvergossene Tränen glitzerten in seinen Augen. „Aber was ist mit der Band, mit deinem Vertrag? Du kannst das nicht alles aufgeben. Das will ich nicht.”

„Wir stehen an erster Stelle. Alles andere kommt danach. Alles wir gut. Vertraust du mir?”

„Ja.”

Ich verschränkte unsere Finger und zog an seiner Hand, um ihn aus der Nische zu führen. „Gehen wir. Dein Publikum wartet.”

Will lachte, ein süßer, melodischer Klang, der mein Herz schweben ließ. „Bist du bereit dafür?”

„Das bin ich.”

Ich war mehr als bereit. Konformität jeder Art war eine Lüge. Manchmal vielleicht notwendig, aber nicht für mich. Es war an der Zeit, die Maske der Mehrdeutigkeit fallen zu lassen und ehrlich zu sein. Es war an der Zeit, für die Wahrheit zu kämpfen und stolz auf sich zu sein. Kein Ausweichen, keine Unsicherheit. Nur Liebe. Die beste Wahrheit.