Nachdem ein paar Stunden vergangen waren, war sich Hellen nicht mehr so sicher, ob das eine gute Idee war. Ja, dieser Tom Wagner war ein Cobra-Offizier und dass er ein Kettensägenmörder war, konnte sie wahrscheinlich ausschließen. Aber trotz allem, sie kannte diesen Mann nicht. Sie war überhaupt nicht der Typ, so wichtige Dinge einfach so mit ihrem Bauch zu entscheiden. Er war sicher ein Waffennarr oder hatte sonst irgendeinen heftigen Klescher , wie die Wiener sagen würden. Sie musste verrückt geworden sein. Jahrelang hatte sie hart gearbeitet, um endlich in einem der führenden Museen der Welt Kuratorin zu werden. Und dann warf sie das von einem auf den anderen Moment einfach so hin, nur weil sie einen Diamanten finden wollte und sie wegen eines Mannes ein paar Schmetterlinge im Bauch hatte. Verdammt, was war da nur in sie gefahren?
All diese Gedanken der Selbstzweifel waren plötzlich wie weggeblasen, als sie Tom die Rolltreppe heraufkommen sah.
Sein Lächeln ließ all ihre Bedenken sofort verschwinden und das ärgerte sie noch viel mehr. Mit seinem zerzausten Haar und dem unrasierten Gesicht strahlte er etwas Verwegenes aus, das sie beinahe magisch anzog. Er trug ein einfaches, weißes T-Shirt, Jeans und Sneakers und hatte einen abgewetzten Seesack über die Schulter geworfen. Alles in allem gar nichts Besonderes. Gerade deswegen gefiel er ihr.
„So, lassen Sie uns diesen Klunker finden. Ich war noch nie in Amsterdam. Bin ja von Berufs wegen nicht so der Kiffer-Typ, aber wenn wir den Diamanten eingesackt haben, gehen wir zur Feier des Tages schon in einen Coffee-Shop, nicht war, Frau Doktor de Mey?“
Es gab kaum eine unkonventionellere Begrüßung als diese. Normalerweise hätte Hellen erbost den Kopf geschüttelt. Sie kam aber nicht dazu, sich darüber aufzuregen. Sie war nämlich zu sehr damit beschäftigt, auf Toms Hinterteil zu starren, während er in den Waggon stieg. „Verdammt“, dachte sie, „nicht nur sein Lächeln ist anziehend.“ Sie betraten den Schlafwagen und wie aus der Pistole geschossen sagte Hellen: „Ich schlafe unten.“
„Höhenangst?“
Hellen fühlte sich ertappt, ging aber nicht näher darauf ein. Nach ihrem Geschmack hatte sie bereits viel zu viel Schwäche diesem Mann gegenüber gezeigt. Die beiden verstauten ihr Gepäck in den dafür vorgesehenen Ablagen und machten es sich gemütlich. Als der Zug den Bahnhof in Richtung Frankfurt verließ, sagte Tom: „Ich habe ein wenig im Internet über diesen Florentiner recherchiert, bin aber nicht wirklich schlau geworden. Ich denke, Sie können mir ein wenig mehr darüber erzählen.“
Hellen atmete auf. Endlich begab sie sich wieder auf sicheres Terrain.
„Da muss ich ein wenig ausholen. Der Florentiner gilt als einer der größten Diamanten auf der Welt. Vermutlich kam er aus Indien. Genaueres wissen wir aber erst, seit er im Besitz der Medici war.“
„Das war diese Fürstenfamilie aus Florenz, nicht wahr?“
Tom versuchte, bei Hellen Eindruck zu schinden. Er hatte mit Geschichte gar nichts am Hut, aber er konnte vor dieser bezaubernden und vor allem blitzgescheiten Frau nicht wie ein kompletter Vollidiot dastehen. Es reichte schon, wenn er auf die Schnelle irgendwelche Klamotten aus der Wäschekiste übergeworfen hatte. Da musste er wenigstens mit ein wenig Wissen punkten.
„Genau!“
„Und als die ausgestorben waren, ging der ganze Plunder an die Habsburger?“, sprach Tom stolz weiter.
„Wir Historiker würden das vermutlich ein wenig dezenter formulieren, aber grundsätzlich haben Sie recht.“ Hellen war erstaunt. Der Kerl hatte was im Kopf.
„Danach wurde es turbulent für den Stein.“
Hellen war in ihrem Element.
„Maria Theresia gab den Florentiner ihrer Tochter Marie Antoinette als Mitgift, als diese mit dem französischen König Ludwig XIV. vermählt wurde. In den Wirren der Französischen Revolution verschwand der Stein und tauchte erst wieder mit der Machtübernahme von Napoleon auf. Der schenkte den Stein seiner zweiten Frau, Marie-Louise von Habsburg-Lothringen. Als Napoleon dann auf St. Helena verbannt wurde, kehrte Marie-Louise nach Wien zurück und mit ihr kam auch der Florentiner wieder in den Besitz der Habsburger.“
„Die Medici starben aus, Maria Antoinette wurde geköpft und Napoleon wurde verbannt. Ein Glücksbringer ist das Teil ja nicht gerade“, warf Tom ein.
„Deswegen nennt man den Diamanten auch den Stein des Schicksals . Abergläubische sagten dem Stein nach, er wäre verflucht. Denn die Pechsträhne geht weiter.“
„Noch mehr Drama? Ich bin gespannt wie ein Regenschirm. Das ist ein echter Krimi.“
„Das Schlimmste kommt noch. Kaiser Franz Joseph hat den Stein in ein Collier einarbeiten lassen und es seiner Frau, Kaiserin Elisabeth, geschenkt.“
„Die Sisi. Über die weiß ich nicht viel. Außer das, was in den Romy Schneider-Filmen vorkommt“, gestand Tom.
Hellen lächelte. „Verdammt, sogar wenn er ahnungslos ist, ist er noch immer süß“, dachte sie.
„Ja, die Filme haben wenig mit der Realität zu tun. Aber zurück zum Stein. Kaiserin Elisabeth nahm das Collier auf eine ihrer Reisen nach Genf mit. Dort wurde sie dann von einem Attentäter erstochen.“
„Und warum suchen wir diesen Klunker dann, wenn er ohnehin jedem nur Pech bringt?“
„Ach was, alles nur Hokuspokus. Wir sind ja nicht in einem Indiana-Jones-Film. Uns werden keine Herzen aus dem Leib gerissen, nur weil wir irgendwelche magischen Steine finden. Ich bin Wissenschaftlerin, ich glaube nicht an solchen Unfug.“
Hellens Ton war energisch geworden, was Tom ganz besonders anziehend fand. Sie war perfekt. Klug, temperamentvoll, für ihre Überzeugungen einstehend und bildhübsch. Er hatte sich bereits in diese attraktive Historikerin verknallt. Das musste er leider zugeben. „Nur nicht anmerken lassen“, schärfte er sich ein.
Nachdem die Bordgastronomie einen Snack vorbeigebracht hatte, merkte Hellen, dass der Stress des Tages sie ein wenig erledigt hatte.
„Ich hoffe, ich kann bei diesem Gerumpel schlafen. Ich bin todmüde“, sagte sie.
Tom nickte. „Ja, wir sollten fit sein. Wir wissen nicht, was uns morgen in Amsterdam erwartet.“
Er kletterte in das obere Bett und legte seine Pistole unter sein Kopfkissen. „Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste“, dachte er, bevor er vom monotonen Rattern des Zuges in den Schlaf gewiegt wurde.