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Hotel Melia Madeira Mare, Funchal, Madeira

Hellens Gesicht war noch immer blass. Die Vorkommnisse der letzten Stunden hatten ihre Spuren hinterlassen: Sie hatte in kürzester Zeit zwei Leichen gesehen, wäre selbst fast in einem Haus verbrannt und hatte mitansehen müssen, wie Tom im Kampf in der Seilbahn fast zu Tode gestürzt wäre. Sie war wahrlich hart im Nehmen, aber das war dann doch etwas viel gewesen. Jetzt saß sie in ihrem Zimmer, blickte aufs Meer hinaus und wollte ein wenig runterzukommen. Sie versuchte, ruhig zu atmen und zu realisieren, dass sie nun in Sicherheit waren. Ihr Verstand wusste das, aber ihr Körper spielte da noch nicht mit. Sie schreckte auf und stieß einen spitzen Schrei aus, als es an der Tür klopfte.

„Hellen, ist alles in Ordnung mit dir?“, hörte sie Toms Stimme und war sofort beruhigt. Sie stand auf und ging mit wackeligen Knien zur Tür, öffnete sie und fiel ihm in die Arme. Nun konnte sie nicht mehr an sich halten und begann zu weinen.

Es dauerte ein paar Sekunden, in denen Tom die Situation abwog und nachdachte, wie er jetzt reagieren sollte. Er entschied sich wie immer:

„Ja, ich weiß, die haben hier kein Panna Cotta, aber das ist nun wirklich kein Grund zu weinen. Das Ding besteht ohnehin nur aus Fett und Zucker.“

Hellen guckte in verdutzt an. Eine Sekunde später waren ihre Tränen verschwunden, sie kicherte kurz und boxte Tom gegen den Oberarm.

„Du bist ein Idiot“, feixte sie. „Da will ich einmal so richtig die Drama Queen raushängen lassen und dann bringst du mich mit deinen dummen Sprüchen zum Lachen.“

„Drama Queen? Einmal? Eigentlich dauernd“, konterte Tom mit einem breiten Grinsen.

„Ich bin einfach nur froh, wenn wir wieder zu Hause in Wien sind“, sagte Hellen.

„Morgen geht unser Flieger“, antwortete Tom. „Und um die Bedeutung dieses Schlüssels und des Rätsels kann sich auch ein anderer kümmern. Für dich ist dann wieder Schluss mit den Abenteuern. Du kannst wieder in Ruhe deine alten Dokumente in Glasvitrinen stellen und die Büste von Kaiser Franz Joseph abstauben.“

„Du bist wirklich frech“, sagte sie merklich erleichtert.

Tom hatte es tatsächlich gut drauf, sie wiederaufzurichten. Ein weiteres Mal wollte sie spielerisch auf ihn einboxen, er war aber schneller. Geschickt wich er aus und sie stolperte in Richtung Bett. Instinktiv griff sie nach seiner Hand und riss ihn mit. Lachend kamen sie beide auf der Matratze zum Liegen. Es war nicht Toms Gewicht, das Hellen den Atem nahm. Es war seine Nähe. Es waren die paar Zentimeter, die seine Lippen nur mehr von den ihren entfernt war. Das Lachen verstummte und sie blickten sich in die Augen. Beide zögerten. Fast in Zeitlupe näherten sich Toms Lippen den ihren. Sie ertappte sich dabei, eine Sekunde dagegen anzukämpfen, sie wusste selbst nicht warum. Jetzt etwas mit ihm anzufangen war nicht sonderlich vernünftig. Sie wusste aber eines: Nämlich, dass ihre Muskeln, denen sie gerade diktierte, Tom wegzudrücken, ohnehin nicht gehorchen wollten. Tom wollte sie. Und Hellen wollte ihn. Als seine Lippen zuerst sanft, dann mehr und mehr fordernd ihre Lippen berührten, waren alle Zweifel verflogen. Schlafen konnte sie auch morgen im Flugzeug. Diese Nacht würden sie beide wohl kein Auge zumachen.