„Die Katterburg bewahrt des Schicksals Stein,
In edler Kemenate der schönsten aller Kaiserinnen,
Die dyadische Zeit hält alles geheim,
Um Mitternacht kann des Löwen Schicksal neu beginnen.“
Hellen las das Gedicht mehrmals laut vor, nachdem sie und Direktor Richter die letzten Buchstaben entschlüsselt hatten. Die Pragmatische Sanktion war tatsächlich das richtige Dokument gewesen, um den Code der letzten Kaiserin zu knacken. Nachdem Hellen die Verse mehrmals gelesen hatte, blickte sie von dem Blatt Papier auf.
„Ich will meinen Job wieder!“
Hellen sah den Direktor mit einem breiten Grinsen an.
„Und ich will eine Gehaltserhöhung“, fügte sie hinzu, bevor Richter etwas sagen konnte.
„Ja, ja, ja, ich glaube, das haben Sie sich verdient.“
Richter nickte bestätigend und lächelte Hellen an, die ihn mit ihrem Blick förmlich durchbohrte. Er nahm den Zettel mit dem Vers an sich, um ihn selbst noch einmal zu lesen.
„Also, Schönbrunn!“, sagte der Direktor kurz darauf.
„Ja, Katterburg war der Name des Schlosses im 14. Jahrhundert bevor im 17. Jahrhundert Kaiser Matthias den Schönen Brunnen entdeckte, der dem Schloss später seinen Namen gab. Kaiser Leopold I. gab 1688 den Auftrag für einen Neubau. Nachdem 1736 Kaiser Karl VI. seiner Tochter Maria Theresia das Schloss schenkte, ließ sie es in seine heutige Pracht bringen.“
Hellen legte das historische Dokument vorsichtig zurück in die Glasvitrine und verschloss sie.
„Die Geschichtsstunde ist ja ganz interessant, aber geht es ein wenig genauer?“
Hellen und Direktor Richter fuhren zu Tode erschrocken herum und starrten in den Lauf von Hagens schallgedämpfter Pistole.
„Schloss Schönbrunn ist riesig!“, fügte Hagen mit einem etwas sarkastischen Tonfall hinzu.
Er hatte den beiden schon eine ganze Weile zugehört, wollte sich aber erst zu erkennen geben, nachdem sie mit der Decodierung fertig waren.
„Das nehme ich“, sagte Hagen und ergriff das Blatt, das der Direktor in seiner Hand hielt, während er Hagen mit angsterfüllter Mine ansah.
„Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich Ihnen auch nur …“
Hellen konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Der gedämpfte Schuss und der augenblickliche Aufschrei Richters hatten sie verstummen lassen. Hagen hatte dem Direktor ins Bein geschossen, der sofort zu Boden gegangen war.
„Miss de Mey, ich habe keine Zeit für Spielchen.“
Hagens Waffe wanderte ein wenig nach rechts und zielte auf das andere Bein des Direktors. Hellen stand sichtlich geschockt und mit erhobenen Händen neben dem sich vor Schmerzen windenden Richter.
„Hellen – bitte!“, flehte der Direktor.
Hagen hielt Hellen das Blatt mit dem Code vor ihre Nase.
„Wo genau finde ich den Diamanten?“
Hellens Gehirn lief auf Hochtouren, immer und immer wieder ging sie den Vers im Kopf durch. Hagen war deutlich ungeduldig und fest entschlossen. Er beugte sich zu Richter nach unten und drückte den heißen Schalldämpfer der Waffe auf die frische Schusswunde. Der Schrei des Direktors fuhr Hellen durch Mark und Bein. Tränen liefen ihr über die Wange und sie flehte Hagen an.
„Nein, Stopp, bitte, bitte warten Sie! Geben Sie mir ein paar Minuten“, schluchzte sie. Hagen stand wieder auf und ließ für den Moment von Direktor Richter ab, behielt ihn aber weiter im Visier.
„Sie haben eine Minute.“
Hagen hob demonstrativ seinen linken Arm und sah auf die Uhr.
„Dann bekommt ihr Freund hier eine Kugel ins andere Bein. Und nach einer weiteren Minute in den Arm und so weiter. Ich nehme an, Sie verstehen, wohin das schlussendlich führen wird.“
Hellen nickte und sah zu ihrem Boss hinunter.
„Hellen – bitte, sagen Sie es ihm …“, stöhnte Richter, benommen durch die starken Schmerzen.
„Okay, okay, okay“, sagte Hellen hastig und blickte in die schmerzverzerrten Augen ihres Chefs.
„Die Katterburg ist Schönbrunn.“
„Ja, soweit waren wir schon“, sagte Hagen ungeduldig.
„Mit der Schönsten aller Kaiserinnen, kann nur Elisabeth gemeint sein, die Gattin von Kaiser Franz Joseph.“
„Weiter …“
„Mit der edlen Kemenate ist der Salon der Kaiserin gemeint.“
„Dort steht eine Uhr vor einem großen Spiegel“, ergänzte der Direktor und stöhnte die letzten Worte förmlich.
Hellen riss begeistert die Augen auf und vergaß fast, dass ihr Hagen eine Pistole vor die Nase hielt.
„Stimmt! Diese Uhr hat ein zweites, spiegelverkehrtes Zifferblatt auf der Rückseite. Im Spiegel, der an der Wand hängt, ist die Uhrzeit dann wiederum richtig abzulesen.
„Und dann einfach 12.00 Uhr einstellen“, finalisierte Hagen selbst ihren Gedanken. „Sehen Sie, das war ja gar nicht so schwer – helfen Sie ihm auf“, sagte Hagen und deutete auf den Direktor.
„Und mit ein wenig Therapie wird Ihr Boss auch wieder laufen können. In ein paar Jahren“, fügte er scherzhaft hinzu.
Hellen stützte den humpelnden und wimmernden Direktor und sie gingen vor Hagen her. Dieser führte die beiden zu einem kleinen Serviceraum und stieß sie hinein. Aus der Gesäßtasche seiner Hose zog er ein paar Kabelbinder und gab Hellen die Anweisung Richter damit zu fesseln. Widerwillig kam sie der Aufforderung nach und fesselte seine Hände und Beine, stopfte ihm sein Einstecktuch in den Mund und zog einen Zipper hinter seinem Kopf zusammen. Direktor Richter stöhnte auf, als sich das dünne Plastikband in seine Mundwinkel grub. Hellen setzte sich neben ihn auf den Boden des engen Serviceraums in dem Sanitärzubehör und Reinigungsmittel der Putzmannschaft gelagert wurden. Hagen, der mit der Waffe im Anschlag immer noch drohend über ihr stand, deutete Hellen weiterzumachen.
„Jetzt sind Sie dran, los die Beine!“ Sie fesselte ihre eigenen Beine und streckte Hagen danach widerwillig ihre Hände entgegen. Zufrieden steckte er seine Waffe hinten in seinen Gürtel.
„Diesmal laufen Sie mir nicht davon“, sagte er, als er Hellens Hände mit einem Kabelbinder zusammenzurrte.
„Glauben Sie mir, ich hätte Sie schon längst umgebracht, aber …“
Hagen stutze.
„… genug geplaudert“, sagte er.
Hagen stopfte Hellen ein Tuch, das er in einem Regal gefunden hatte, in den Mund und zog es mit dem letzten Kabelbinder fest. Hellen wand sich und versuchte trotz des Knebels zu sprechen. Doch mehr als ein zorniges Gemurmel war nicht zu vernehmen.
„Bleiben Sie ruhig und entspannen Sie sich. Wenn alles gut geht, wird sich in ein paar Stunden so einiges in Ihrem Land ändern“, sagte Hagen und schloss die Tür.