Hellen de Mey hatte die UNO-City, wie der 1973 bis 1979 errichtete Komplex umgangssprachlich genannt wurde, oftmals von außen bewundert. Jetzt stand sie in einem kleinen Sitzungssaal im 26. Stockwerk und blickte auf die Donau. Weiter hinten konnte sie einige Wiener Wahrzeichen, wie den Stephansdom und das Riesenrad, erkennen. Sie lächelte. Sie war in dieser Stadt zwar nicht geboren worden, aber hatte sie in den letzten Jahren sehr lieb gewonnen. Die Lebensqualität in dieser Stadt und nicht zuletzt der Wiener Schmäh gefiel ihr und sie fühlte sich in der alten Kaiserstadt mittlerweile sehr wohl. Es war ihr Zuhause geworden. Auch wenn sie noch nicht sicher war, wohin die Sache mit Tom führen würde, war die sich entwickelnde Beziehung ein weiteres Puzzleteil, das ihr gut gefiel. Hellens Gedanken wurden unterbrochen, als Graf Palffy den Sitzungssaal betrat.
„Meine Liebe, ich freue mich, dass du so kurzfristig Zeit gefunden hast. Ich wollte unbedingt persönlich mit dir sprechen.“
Hellen runzelte die Stirn. „Was gibt es denn so Wichtiges zu besprechen, Nikolaus?“
Palffy war bekannt dafür, nicht lange um den heißen Brei herumzureden.
„Deine Rolle bei der Wiederbeschaffung des Florentiners. Du hast gezeigt, dass viel mehr in dir steckt, als eine talentierte Archäologin, Historikerin und Kuratorin. Du hast Mumm, Biss und Leidenschaft und bist dir nicht zu schade, dir die Finger schmutzig zu machen, wenn es notwendig ist.“
Hellens Augen verengten sich. Sie ahnte bereits ein Stück weit, worauf ihr Mentor hinauswollte.
„Du kennst die Organisation, der ich seit einiger Zeit vorstehe. Die Frauen und Männer von Blue Shield werden oftmals mit einem modernen Indiana Jones verglichen. Wir schützen historische Artefakte und Fundstätten auf der ganzen Welt und sorgen dafür, dass unser wertvolles Kulturgut erhalten bleibt. Und das nicht nur am Schreibtisch, sondern draußen in der echten Welt.“
Hellen seufzte.
„Hellen, ich möchte, dass du bei Blue Shield anheuerst. Wir brauchen so jemanden wie dich. Fachkompetenz gepaart mit Mut.“
„Aber ich habe das nicht alleine zustande gebracht. Tom hat die meiste Drecksarbeit erledigt und all die wirklich gefährlichen Situation gemeistert. Und außerdem habe ich einen tollen Job.“
„Das ist mir klar. Ich brauche aber keine Elitekämpfer. Vielleicht in der Zukunft, wenn wir bei Blue Shield noch mehr finanzielle Ressourcen bekommen, aber momentan brauche ich Wissenschaftler mit besonderen Fähigkeiten. Und das bist du.“
Palffys Vortrag wurde vom Piepsen seines Mobiltelefons unterbrochen. Er blickte auf das Display.
„Mein Wagen ist da. Mein Flugzeug startet in 90 Minuten. Ich weiß, dass ich mit der Tür ins Haus falle, aber kann ich prinzipiell mit dir rechnen? Alle weiteren Details würden wir dann in einer Woche in Den Haag besprechen.“
Er blickte sie streng und gleichzeitig liebevoll an. Hellens Kopf bewegte sich nur wenige Millimeter. Sie wusste, dass diese Entscheidung die Beziehung mit Tom auf eine harte Probe stellen würde. Sie würde rund um die Welt jetten und keine Zeit haben. Keine Zeit für ihn und keine Zeit für ihre Beziehung. Und viel schlimmer. Sie würde das Leben führen, das Tom sich wünschte. Sie kannten sich noch nicht allzu lange, aber ihr war klar, wie sehr Tom in seinem Job bei der Cobra feststeckte. Wenn sie von einer exotischen Location zur anderen fliegen würde, während er in Wien langweilige Routinearbeiten leistete, würde das nicht lange gut gehen. Sie konnte sich selbst gerade nicht sonderlich gut leiden, aber ihre kleinen Kopfbewegungen wurden größer und sie nickte.
„Natürlich, Nikolaus. Ich bin dabei.“