In der Mitte des Kirchenschiffs stand Jacquinto Guerra wie ein Kapitän auf der Brücke eines Dreimastersegelschiffs. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, ließ seinen Blick durch die Kathedrale wandern und nickte zufrieden. Erst vor ein paar Tagen war er hier gewesen und hatte alle Vorkehrungen getroffen. Dafür musste er sich gar nicht verstecken. Guerra und seine Männer gehörten zu den Bauarbeitern, die die sechzehn kupfernen Statuen unterhalb des Vierungsturmes abgenommen und zur Restaurierung gebracht hatten. Niemandem war jedoch aufgefallen, dass Guerra nicht nur mithalf, die Statuen abzumontieren, sondern auch etwas hinterlegte: kleine Brandbomben, die mit einem Fernzünder ausgestattet waren. Der Vierungsturm würde nicht lange standhalten und mit Sicherheit kurz nach dem Ausbrechen des Brandes einstürzen.
Für die Pariser würde in Kürze vermutlich eine Welt zusammenbrechen. Er konnte schon jetzt die Schlagzeilen sehen, die weltweiten Spendenaufrufe, die Wehklagen rund um das unwiederbringlich zerstörte Kulturgut.
„Menschen sind doch sonderbare Wesen“, dachte er. Tag für Tag starben Tausende Menschen an Hunger und Durst. Tausende wurden entführt, verschleppt, vergewaltigt, misshandelt, getötet. Tag für Tag taten sich Menschen Gräueltaten an, zu denen kein Tier fähig wäre. Aber daran hatte die Menschheit sich gewöhnt. Es war normal.
Dass aber ein historisches Gebäude, das jährlich Tausende Touristen nach Paris zog, lichterloh brannte, würde ganz und gar nicht normal sein. Und dass im Zuge dessen, auch noch eine der kostbarsten Reliquien der katholischen Kirche, die Dornenkrone Jesu Christi abhandengekommen war, würde zusätzlich noch für Schlagzeilen sorgen. Am 10. April 1239 hatte der französische König Ludwig IX. der Kathedrale die Dornenkrone Christi übergeben, die später in die Sainte-Chapelle übertragen wurde. Seit dem 19. Jahrhundert befand sich die Reliquie wieder in Notre Dame de Paris. Napoleon selbst hatte dies veranlasst. Bis zum heutigen Tag. Denn während seine drei Helfer die restlichen Brandbomben in der Kathedrale platzierten, packte Guerra die Dornenkrone behutsam in seinen Rucksack. Sie würde bald in guter Gesellschaft sein, mit all den anderen Reliquien, die noch auf seiner Liste standen. Er verzog das Gesicht, als sein Blick auf dem goldenen Kranz ruhte.
„Wie kann man so etwas nur verehren? Wie kann man überhaupt einer Religion folgen, die den Schmerz und das Leiden so hochhält und zur zentralen Lehre macht?“
Er hatte schon vor langer Zeit aufgegeben, das verstehen zu wollen. Guerra und seine Männer verließen seelenruhig die Kathedrale, während er den kleinen roten Knopf an der Fernbedienung drückte. Das leise Zischen, das nun an den verschiedensten Stellen der Kathedrale zu vernehmen war, fiel natürlich niemandem auf. Erst in ein paar Stunden würde die Welt den Atem anhalten. Und es sollte nicht der letzte Anlass dazu sein.