Ein großer Schritt war für Jacinto Guerra notwendig, um nicht über die drei toten Wachmänner zu stolpern, die vor ihm auf dem Kirchenboden lagen. Er hatte soeben das Turiner Grabtuch aus der Glasvitrine im Altar genommen und es vorsichtig zusammengerollt.
Er hielt kurz inne und lauschte. Auf einer Kirchenbank neben ihm hatte er eine kleine Bluetooth-Box von JBL abgestellt, aus der gerade Georg Philipp Telemanns „Musique de table“ zu hören war. Guerra liebte besonders das Rondeau aus der Ouvertüre. Einer seiner Begleiter, der mit der großen Narbe quer über die rechte Wange, ging auf ihn zu und wollte ihm das Tuch abnehmen. Guerras Hand schnellte nach oben, dem Narbengesicht Einhalt gebietend. Er forderte jetzt Fokus. Und absolute Stille. Er würde demjenigen, der ihn bei der Stelle, an der die beiden Flöten sich mit dem Orchester dialogartig abwechselten, stören würde, ohne eine Sekunde nachzudenken, die Kehle durchschneiden. Der Mann wusste das, sah Guerra entsetzt an und fror mitten in der Bewegung ein. Er blickte seinen Boss an. Dieser fast zwei Meter große, schwarzhaarige Hüne, muskulös, mit grausamen Zügen, für seine Mitte 40 das Gesicht zu stark von Falten zerfurcht, sah nicht aus wie ein feinsinniger Musikliebhaber. Er sah aus wie ein Killer, der er auch war. Und trotzdem stand er in Musik versunken da. Fast in Trance. Mit Engelsgeduld wartete der Mann, bis das Rondeau vorbei war und Guerra wieder in die normale Welt zurückkam.
„Ab in den Rucksack damit, Soldat!“ Guerra reichte das Tuch an den Mann weiter, dessen Namen er sich einfach nicht merken wollte. Für ihn war er nur „der mit der Narbe“.
„Typisch Italiener. Wenn sie mal das echte Tuch ausstellen, dann sind die Sicherheitsmaßnahmen während des Tages, wo tausende Touristen durchgeschleust werden, streng wie in Fort Knox“, sagte Narbengesicht.
„Und nachts postieren nur ein paar Wachmänner, die uns nicht lang im Weg gestanden haben“, sagte Guerra und blickte auf die drei Leichen. Narbengesicht nickte und verpackte das Grabtuch in die eigens dafür hergestellte Dokumentenrolle aus Leder, die ab jetzt das 4,6 x 1,1 Meter große Tuch beherbergen sollte.
„Du kannst die Alarmanlage jetzt wieder aktivieren, damit nicht nur die Turiner, sondern die ganze Welt erfährt, dass eine weitere heilige Reliquie gestohlen wurde“, wies er den zweiten Mann an. „Wir wollen ja sichergehen, dass wir ein wenig PR bekommen, wenn wir uns schon so anstrengen und diesen katholischen Plunder aus der ganzen Welt zusammentragen“, sagte er mehr zu sich selbst.
Guerra blickte durch das Kirchenschiff und bedauerte, dass er keine Zeit hatte, sein Werk zu beenden. Und zwar so zu beenden, wie sie das letzte Woche beim Raub der Dornenkrone in der Notre Dame getan hatten: mit einem Feuer, das für Schlagzeilen auf der ganzen Welt sorgte. Das war ihre Mission: Aufmerksamkeit. Angst. Terror. Der Brand der Notre Dame war ein perfekter Auftakt gewesen und Guerra hatte nicht vor, von diesem Perfektionismus bei den noch kommenden Projekten abzuweichen.
„Okay, die Alarmanlage ist wieder an und ich habe sie so eingestellt, dass sie in zehn Minuten losgeht“, sagte der andere der beiden Söldner, die vom eigentlichen Plan keine Ahnung hatten. Und vermutlich interessierte dieser Plan sie auch nicht.
„Perfekt.“ Guerra nickte den beiden zu und befahl mit einer kleinen Kopfbewegung, den Dom zu verlassen. Männer von diesem Schlag brauchten keine langen Dankesreden. Eine respektvolle Geste unter Soldaten und die zeitgerechte Überweisung des Honorars reichte voll und ganz. Da wurde nicht viel herumgeredet.
Zielgerichtet, aber ohne Hast gingen die drei Männer zum Ausgang des Doms. Kurz bevor sie die Kirche durch den Nebeneingang auf die Piazza San Giovanni verließen, nahmen sie mit einer schnellen, synchronen Handbewegung ihre Wollmasken ab. Die schwarze Kleidung, die sie gemeinsam mit den Masken zu Einbrechern gemacht hatte, wurde innerhalb eines Augenblicks zum Priestergewand. Die drei Heckler & Koch-Pistolen, die sie mit sich trugen, verschwanden in den großen Seitentaschen der Soutanen.
Der Platz an der Seite des Doms lag in völliger Dunkelheit und Stille. Es hatte vor Kurzem ausgiebig geregnet. Die Straßen waren nass und es roch nicht gerade angenehm. Die üblichen Gerüche, die sich in einer Großstadt vereinigten, wenn zu viel Luftfeuchtigkeit herrschte. Die Straßenbeleuchtung war in diesem Turiner Stadtteil für ein paar Stunden ausgefallen. Guerra lächelte, als er wieder einmal daran erinnert wurde, wie weit ihr Einfluss ging. Ein Anruf genügte und der Schalter wurde in ihrem Sinne umgelegt. So waren ihre Vorhaben manchmal sogar ein wenig zu leicht. Dieser Gedanke wurde jäh unterbrochen.
„Padre, habt Ihr ein paar Cent für mich? Ich habe seit Tagen nichts mehr gegessen.“
Guerras Wesenszüge kannten das Gefühl des Erschreckens oder der Überraschung nicht. Sein Pulsschlag veränderte sich daher nur unmerklich, als er von hinten von einer Kinderstimme angesprochen wurde. Die beiden anderen Männer nahmen das offenbar weniger locker. Ihr Gesichtsausdruck machte ihre Verwirrung klar. Guerra deutete ihnen mit beiden Händen kurz zu warten. Er ging in die Knie und sah den ungefähr zwölfjährigen Jungen nun auf Augenhöhe an. „Was machst du ganz alleine mitten in der Nacht hier?“, fragte Guerra mit sanfter Stimme, die seine beiden Begleiter erstaunen ließ.
Der Junge sah in Guerras graue, kalte Augen. „Ich bin vor ein paar Wochen aus dem Waisenhaus ausgerissen, weil mich die vielen Regeln dort nerven. Ich habe in der Bibliothek vor Kurzem ein Buch über Tom Sawyer und Huckleberry Finn gelesen und möchte auch so frei sein, wie die beiden. Ich schlage mich seitdem ganz gut alleine durch“, sagte der Junge.
Man sah den Stolz in den Augen des kleinen Mannes. Guerra zog die Mundwinkel nach unten und nickte anerkennend.
„Du bist also jemand, der sich nicht an die Regeln halten möchte. Ein kleiner Meuterer also?“
„Ja“, sagte der Kleine mit strahlenden Augen. „Ich habe einen Traum, ich möchte Autorennfahrer werden und viel Geld verdienen. Dafür brauche ich keine Schule, keine Lehrer und keine Erzieher, die mir sagen, was ich tun und lassen soll.“
Guerras Begleiter wurden nervös. Bald würde die Alarmanlage im Inneren des Domes aktiviert werden und dann würde es innerhalb kürzester Zeit hier nur so von Carabinieri wimmeln. Hektisch tippte der eine auf seine Armbanduhr. Guerra ignorierte die beiden jedoch und sprach seelenruhig mit dem Kleinen weiter.
„Wie heißt du, mein Sohn?“ Guerra grinste kaum merkbar. Die Rolle des Priesters begann ihn zu amüsieren.
„Raffaele“, antwortete der Junge hastig.
Guerra strich ihm behutsam über den Kopf und zerzauste dabei ein wenig seine Haare. Der Kleine gluckste und sah Guerra mit breitem Lächeln an.
„Regeln sind wichtig, Raffaele. Sonst gerät die Welt völlig aus den Fugen und jeder macht, was er will. Der Großteil der Menschen ist nicht reif genug, um mit Freiheit umgehen zu können. Sie brauchen Regeln. Sie brauchen Gesetze, an die sie sich halten sollen. Die Menschen sind einfach zu dumm für die Freiheit. Sie brauchen eine starke Hand, die ihnen zeigt, was sie tun sollen.“
Raffaele nickte stumm, verstand aber nicht genau, was ihm der Padre sagen wollte. Guerra sah zu seinen beiden Begleitern und stand langsam wieder auf. Er blickte auf den Jungen herab und griff in seine Soutane. Raffaeles Augen wurden groß. „Danke, Padre!“, sagte er, noch bevor Guerras Hand wieder aus der Seitentasche der Soutane hervorgekommen war. Offenbar dachte er, dass der Padre ihm ein paar Euro schenken würde, damit er sich endlich wieder etwas zu essen kaufen konnte. Dann ging alles blitzschnell. Guerra richtete die Pistole auf den Kopf des Jungen und drückte, ohne einen Augenblick zu zögern, ab. Der Schalldämpfer machte aus dieser kaltblütigen Handlung ein harmloses „Pff“. Raffaeles Kopf kippte nach hinten und der kleine Körper sackte zu Boden. Die beiden Begleiter, die schon einiges in ihrem Söldnerleben gesehen hatten, sahen Guerra entsetzt und auch ein wenig angewidert an.
„Keine Zeugen“, sagte Guerra emotionslos, während er, ohne sich noch einmal umzudrehen, zu dem alten Alfa Romeo 156 ging, den sie an der Ecke zur Via IV Marzo abgestellt hatten.