AllanBerg wurde aus den Listen des Pflegedienstes gestrichen aber ich konnte nicht aufhören an ihn zu denken. Einen Mann der sich selbst ausgelöscht hatte. AllanBergs Leben musste schon seit vielen Jahren so gewesen sein. Warum hatte er sich ausgerechnet jetzt erschossen.
Ich wärmte meinen Proviant in der Mikrowelle auf und fragte IngerMarklund ob sie wüsste wer die Kammer bei AllanBerg geputzt hatte. Aber sie schüttelte den Kopf.
Nein du keine Ahnung. Dann fiel ihr ein dass es Maria gewesen sein könnte aber das sei dann schon lange her.
Er wollte nicht für das Putzen zahlen sagte IngerMarklund. Wir versuchten trotzdem ein bisschen Ordnung zu halten so gut wir konnten aber das brachte ihn auf die Palme. Er wollte niemandem was schuldig sein hat er gesagt.
Weißt du ob AllanBerg verheiratet war fragte ich und sie musste wieder eine Weile nachdenken ehe sie antwortete.
Ich glaub schon sagte sie. Wenn ich mich recht entsinne ist sie früh gestorben. Vielleicht an einer Krankheit oder durch einen Unfall. Das weiß ich nicht mehr genau. Ich komme aus Sölbyn und kannte sie nicht persönlich. Aber ihr. Ihr müsst doch in der Nähe gewohnt haben.
Ja haben wir sagte ich.
Am Nachmittag fuhr ich nach Hause zu GöstaGrönlund. Die Nachtwache hatte berichtet er hätte eine manische Phase was alles Mögliche bedeuten konnte. Ich hatte ihn nie anders als normal gesehen.
Als ich dorthin kam stand er auf einer Leiter in der Küche und pinselte die Wand mit einer leuchtend roten Lackfarbe an.
Die Klappleiter aus Holz schwankte jedes Mal wenn er sich herabbeugte um mehr Farbe zu holen.
Die Jana sagte er. Das ist aber nett. Wie finden Sies. Er präsentierte sein Werk mit einer ausholenden Pinselhand sodass die Farbe auf die Küchenschränke spritzte.
Wirklich schön sagte ich. Tolle Farbe. Aber mit einer Rolle würde es schneller gehen falls Sie eine haben. Wenn Sie möchten kann ich Ihnen helfen.
Nein nein nein sagte er. Sie sollen sich einfach nur hinsetzen und ausruhen.
Ich koch Ihnen ein Käffchen sagte ich und behielt diskret die Leiter im Auge. Er war über neunzig. Langsam stieg er wieder herunter und steckte den Pinsel in den Farbeimer.
Ganz schön anstrengend so was sagte er. Aber ich hab mir schon immer ne rote Küche gewünscht. Rot ist die Farbe der Liebe. Das wissen Sie doch.
Ja sagte ich. Natürlich. Alle sollten eine rote Küche haben.
Waren Sie schon mal verliebt Jana fragte er als wir mit unseren Kaffeetassen am Küchentisch saßen.
Nicht direkt antwortete ich und dachte an John. Verliebt war nicht das richtige Wort. Vielleicht eher süchtig.
Nie fragte er erstaunt.
Nein nie antwortete ich. Es hat sich einfach nicht ergeben. Nicht wie bei Ihnen Gösta.
Er blickte verschüchtert in seine Kaffeetasse.
Ja Sie wissen ja dass es da mal jemanden gab aber ich hab nie gesagt wers war.
Nein sagte ich. Das ist Ihre Sache.
Sie kennen die Person sagte er dann.
Aha fragte ich wer ists denn.
EdvardKippo sagte er und sah beinahe trotzig aus. Ihr Großvater EdvardKippo.
Natürlich war ich erstaunt. Nicht weil GöstaGrönlund eine Romanze mit einem Mann gehabt hatte sondern weil dieser Mann mein Großvater war. Ich konnte ihn mir nicht verliebt vorstellen. Ich konnte mir niemanden aus meiner Familie verliebt vorstellen. Wir waren keine liebende Familie. Wir waren einfach nur Erbgutträger die Nachfahren in die Welt setzten und taten was getan werden musste. Oft auf die denkbar schlechteste Weise und mit erbärmlichem Ergebnis.
Wie haben Sie ihn kennengelernt fragte ich. Ich dachte er hätte früh geheiratet. Auch weil sie so viele Kinder hatten.
Er war einen Sommer lang bei uns Knecht. Mein Vater war krebskrank und lag im Krankenhaus. Meine älteren Brüder hatten schon eigene Höfe und halfen nur im Notfall. EdvardKippo musste auf dem Dachboden im Zimmer neben meinem schlafen. Er war ein Jahr älter als ich. Wir kannten uns aus der Schule.
Tagsüber haben wir das Heu eingebracht und nach der Ernte sind wir zum Teich gegangen und haben geangelt. Haben nebeneinander ganz am Ende des Stegs gesessen. Anfangs war alles ganz unschuldig. Knie die sich berührt haben. Hände die sich gestreift haben. Ich war klein und mager. Ungefähr so wie jetzt. Aber EdvardKippo war mit einem stattlichen Körper gesegnet.
GöstaGrönlund versank in Gedanken an den jungen Liebhaber. In seinem Blick lagen Mitternachtssonne und schweißheiße Dachbodenzimmer. Ich schielte auf meine Uhr. Meine halbe Stunde war längst vorbei. Wie immer begleitete er mich auf die Vortreppe. Ich umarmte ihn aber statt mir den Kopf zu tätscheln wie ein zärtlicher Vater packte er meine Arme mit einem festen Griff und sah mich voller Konzentration an.
Ihr Großvater war ein guter Mann sagte er. Wir haben uns weiter getroffen. Bis zu seinem Tod. Außerdem war er ein richtiges Ass im Schach.
Im Auto zurück in den Ort dachte ich an GöstaGrönlund und Großvater und ihre lebenslange Liebesgeschichte die vor über siebzig Jahren begonnen hatte. Ein paar Jahre bevor mein Großvater meine Großmutter geheiratet hatte. Ich wusste nicht mehr über sie als dass sie aus einer frommen Familie in der Gegend von Överkalix stammte. Ich stellte mir vor dass sie mit ihrer Mitgift und hellen Hoffnungen auf ein Leben herkam. Die Enttäuschung hallte bis in die Gegenwart wider.
Mein letzter Besuch des Tages war GöranBäckströms Mutter.
Es gab keine Klingel es gab nie eine Klingel. Ich klopfte an und ging hinein.
VeronicaBäckström hatte dünnes silbergraues Haar das über ihren Rücken fiel. Mit ihrem krummen Rücken erinnerte sie an eine Hexe. Ihre Augen waren mild hellbraun.
Voj voj sagte sie. Dass du kommst. Wie nett dich wiederzusehen.
Ich konnte mich nicht erinnern wann wir uns zuletzt gesehen hatten. Wahrscheinlich verwechselte sie mich mit Maria.
Voj voj ich dachte du wärst tot.
Sie denken ich wär Maria. Sie ist immer noch tot. Ich bin ihre Schwester Jana.
Was hast du gesagt fragte sie und hielt sich die Hand hinter das Ohr.
Ihr Hörgerät lag in einer Schachtel auf dem Küchentisch. Ich half ihr es anzustellen. Wir schraubten daran herum bis die Rückkopplung verschwand.
Was sagtest du noch Maria fragte VeronicaBäckström.
Ich habe gesagt ich bin nicht Maria sondern ihre Schwester Jana.
Jana antwortete sie. Bist du nicht dem Erik seine Tochter.
Doch sagte ich. Und Maria war es auch.
Darüber durfte sie in Ruhe nachdenken. Ich wusch die Teller vom Mittagessen ab und wischte über Spüle und Arbeitsplatte.
Die Alten die vom Pflegedienst versorgt wurden bekamen um Punkt vier ihr Abendessen.
VeronicaBäckström war Vegetarierin. Wie dieses Wort überhaupt bis ins Dorf gelangen konnte war ein Mysterium.
Ich fragte sie nach dem Grund. Ich sagte ältere Leute die kein Fleisch äßen seien eher die Ausnahme.
Voj voj sagte sie. Will den Tieren nichts Böses.
Ich rieb eine Karotte und eine Rote Beete. Schlug ein paar Eier hinein und verrührte alles mit Mehl. Dann briet ich Gemüsepfannkuchen und servierte sie mit Preiselbeermarmelade und einem Salat aus geriebenem Rotkohl mit Apfelsinenstückchen und Rosinen. Der Salat sah genauso widerlich aus wie damals in der Schulspeisung der Smalångerschule aber VeronicaBäckström aß mit gutem Appetit.
Während des Essens klopfte es an der Tür und eine Frau kam herein.
Sie hielt kurz inne sah mir aber nicht in die Augen. Setzte sich auf den Stuhl neben VeronicaBäckström.
Wie gehts dir heute fragte sie. Studierte das Essen eingehend als wären Pfannkuchen mit Preiselbeermarmelade mal was ganz anderes.
Maria kocht so gut sagte VeronicaBäckström. Wie kam ich bloß drauf dass sie tot ist.
Ein wütender Schatten huschte über die Gesichtszüge der Frau und ließ sie alt aussehen. Mich befiel die kollektive Familienscham und ich sagte ich müsse wohl los.
Hat sie ihre Medikamente genommen fragte die Frau. Vermutlich sprach sie mit mir.
Nein antwortete ich und las auf der Liste nach. Sah mich nach der Dosierhilfe um.
Manchen fällt es schwerer als anderen sagte sie und stand so schnell auf dass der Stuhl umfiel. Ohne ihn wieder aufzuheben öffnete sie den Putzschrank und holte die Dosierhilfe heraus.
Entschuldigung sagte ich dümmlich. Aber ich war noch nie hier.
Noch nie hier sagte die Alte. Du rennst doch öfter hier ein und aus als die Katze.
Das ist nicht Maria schrie die Frau so laut ins Ohr der Alten dass ihr Hörgerät wie eine Sirene kreischte.
Beruhigen Sie sich sagte ich. Ihre Schwiegermutter hat doch nichts falsch gemacht.
Was wissen Sie schon darüber erwiderte sie. Mit zitternder Stimme.
Nichts sagte ich. Ich weiß nichts. Ich bin nicht Maria ich bin Jana. Wenn Sie ein Hühnchen mit ihr zu rupfen haben müssen Sie das mit Ihrem Mann besprechen und nicht mit mir. Und wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden beziehe ich noch eben das Bett damit Ihre Schwiegermutter sich hinlegen kann wenn sie will. Die Abendschicht kommt um neun. Aber das wissen Sie wahrscheinlich.
Die Frau antwortete nicht. Blieb einfach nur sitzen und starrte ins Nichts. Dasselbe Nichts in dem auch Bror sich oft aufhielt.
Sie hat alles kaputtgemacht sagte die Frau mit leiser Stimme. Vielleicht damit die Alte es nicht hören konnte. Den Kerlen den Kopf verdreht. Sie haben alles für sie getan. Manche haben sich sogar erschossen. Der letzte erst kürzlich.
Meinen Sie AllanBerg sagte ich.
Ja genau. Dem Ärmsten hatte sie auch den Kopf verdreht. Anscheinend hatte sie ihn dazu gebracht sie zur Alleinerbin zu machen. Aber jetzt liegt sie in der Erde wo sie auch hingehört.
Hören wollte ich es nicht aber ich wollte es wissen.
Das verstehe ich nicht fragte ich unschuldig. Haben sich denn noch mehr Männer umgebracht als AllanBerg. Und der war alt und hatte Krebs. Er wäre sowieso bald gestorben. Er könnte sich auch deshalb erschossen haben. Ich meine um sich das Leid zu ersparen.
Schwachsinn sagte sie dass die Spucke spritzte. Schwachsinn. Er hat die Trauer nicht mehr ertragen. Genau wie KristerHansson EvertLindqvist und SuneStolt.
Und. Sagte sie unterbrach sich jedoch. Und alle anderen die nicht ganz so weit gegangen sind wie bis zum Selbstmord.
Was ist mit denen fragte ich. Sie klingen als müsste ich verstehen worum es geht. Ich kannte Maria nicht. Bis vor kurzem wusste ich nicht mal dass wir eine Schwester haben.
Entschuldigung sagte die Frau. Ich heiße übrigens Sonja sagte sie und streckte mir die Hand entgegen.
Ich schüttelte sie. Ihre Hand war kalt und hart. Ihre Brille und die kurzgeschnittenen Locken machten sie älter als sie war. Genau wie die Finsternis die sich als Falten in ihrem Kinn eingegraben hatte.
Der Abend war sternenklar und kalt. Langsam fuhr ich zurück zum KippoHof. Ich hatte Lukas bei GöranBäckströms Zwinger abgeholt. Das Auto in der Garage geparkt und das Holz reingeholt.
Ein unbeheizter Tag hatte das große Haus ausgekühlt. Ich behielt meine Jacke an und kochte Tee. Löffelte kalte Spaghetti Bolognese aus einer Plastikschüssel in mich hinein. Gab Lukas die Hälfte ab.
Verheißungen lockten obwohl ich wusste dass es falsch war.
John könnte wieder dort sitzen wo er gesessen hatte.
Trotzdem wägte ich Risiko und Nutzen gegeneinander ab. Sah ein dass das Risiko groß war und der Nutzen begrenzt. Verantwortung empfand ich nicht. Ich wollte es nur hinter mir haben und wenn ich versprochen hatte zu kommen musste ich mich wohl auch auf den Weg machen.
Ich packte einen Rucksack mit einer Thermoskanne Wollleggins und Strümpfen. Ein paar Extraschuhe für den Fall dass. Taschenlampe Streichhölzer und Handy. Eine Tüte Hundefutter. Dann nahm ich denselben Weg den ich beim letzten Mal genommen zu haben glaubte. Es gab keine Spuren im Schnee denen ich folgen konnte. Der Oktoberschnee war genauso schnell geschmolzen wie er gekommen war. Aber ich erinnerte mich ungefähr. Mit trockenen Füßen und gefülltem Bauch ging es bedeutend schneller als beim letzten Mal.
Lukas witterte meine Spuren. Seine aufgeweckte Nase führte uns geradewegs zur Hütte. Als wir zu dem jungen Wald kurz vor dem alten Wald gelangten konnte ich mich wieder orientieren. Jetzt mussten wir nur noch den Berg hinauf.
Dünner Rauch stieg aus dem Schornstein auf. Ohne anzuklopfen ging ich hinein. Immerhin musste er vor kurzem noch da gewesen sein. Im Kamin schwelte die Glut. Eine halbvolle Kaffeetasse stand auf dem Tisch.
Ich blieb einen Moment sitzen falls er nur Wasser holen gegangen war. Wärmte den Kaffee auf und setzte mich auf den einen Holzstuhl. Nahm mein Handy und tippte planlos darauf herum.
Eigentlich wollte ich nicht erreichbar sein. In den letzten Tagen hatte ich manchmal den Ton ausgestellt. Ich hatte mehrere entgangene Anrufe und vier unbeantwortete SMS.
Hallo Jana. Möchtest du in der UnihockeyBetriebsmannschaft der Gemeinde mitspielen.
Nein danke.
Hallo Schwester. Jetzt kannst du mich wieder abholen. Die Rechnung ist wohl noch nicht bezahlt. Bror.
Okay.
Guten Tag. Wir möchten Sie darauf aufmerksam machen dass die Rechnung mit der Nummer Dreieinsnullachtacht für die Entzugsklinik Rosendal noch nicht bezahlt wurde. Bitte begleichen Sie diese umgehend.
Leider kein Geld.
Hallo Jana. Hab gehört du hast Sonja getroffen. Würde gern mit dir sprechen. Können wir uns morgen Abend sehen. Melde dich. Göran.
Wenn dann nach der Arbeit schrieb ich. Ich hab um Viertel vor fünf Feierabend.
Dann rief ich John an. Er ging nicht dran.
Ich leinte Lukas an und ließ mich zurück in Richtung Dorf zerren. Seine Nase mit allen gespeicherten Düften führte uns auf derselben Spur zurück.
Der ganze Ausflug hatte ein paar Stunden gedauert aber der Abend war noch nicht vorbei. Das Haus war immer noch kalt. Das Thermometer zeigte vierzehn Grad.
Die Baumstämme die John gekappt hatte lagen noch ungehackt in halbmeterlangen Stücken da. Der Vorjahresvorrat ging aufs absolute Ende zu und würde bestenfalls noch ein paar Tage reichen. Ich trug einen Großteil ins Haus und stapelte die Scheite vor dem Ofen bis auf einen Armvoll den ich direkt in den offenen Kamin legte.
Ehe ich einschlief schickte ich John eine SMS.
Um Viertel vor drei in der Nacht rief er an.
Ich hätte nicht rangehen müssen.
Ich habe dein Auto bei GöranBäckström gesehen sagte er. Seine Stimme klang betäubt. Nicht aufgeregt oder wütend. Nur anders.
Hallo fragte er. Hast du nicht gehört was ich gesagt habe.
Doch antwortete ich.
Warum sagst du nichts.
Was soll ich sagen.
Du könntest dich erklären.
Was denn erklären.
Stell dich nicht dumm sagte er. Du weißt was ich meine.
Willst du wissen was ich für GöranBäckströms Mutter gekocht habe oder welche Medikamente sie nimmt. Tut mir leid aber ich unterliege der Schweigepflicht.
Er atmete in den Hörer.
War das alles fragte ich. Ich muss morgen um Viertel vor sieben arbeiten.
Er legte auf.
Anschließend konnte ich nicht wieder einschlafen. Lag wach und dachte über unsere Beziehung nach. Wenn man sie überhaupt Beziehung nennen konnte. Wir waren aus demselben Holz geschnitzt. Wir gehörten niemandem. Niemand gehörte uns. Unsere Geschichte war unser Kitt. Doch im Laufe des nächtlichen Gesprächs hatte sich all das Gute verflüchtigt und einen stechenden Gestank von Eifersucht und Misstrauen hinterlassen. Ich wusste dass es nicht besser werden würde. Im Gegenteil. Ich sollte büßen. Schon jetzt fing ich an über jedes Wort nachzudenken was ich sagte.