Die Kirche füllte sich mit Menschen die mit dem Auto oder Tretschlitten zur Christmette gefahren waren. Ich war gelaufen. Es war nicht besonders kalt. Nur ein paar Minusgrade.
Bror und Angelika waren nicht mitgekommen. Sie wollten sich in der Zwischenzeit um das Essen kümmern. Seit jenem Abend auf dem Sofa war Angelika gar nicht mehr nach Hause gefahren. Sie zog in Brors Kinderzimmer ein und ich wunderte mich wie sie beide in seinem schmalen Bett Platz fanden. Ihre Gegenwart störte mich nicht eher im Gegenteil. Bror blieb halbwegs nüchtern und suhlte sich in Angelikas Liebe und Fürsorge. Außerdem war sie ein Mensch mit Ordnungssinn. Kein Schussel wie mein Bruder.
Ich wollte jemandem danken. Ich setzte mich weit nach vorn um dem Licht nahe zu sein.
Die Wochen zwischen Johns Ausstellung und Weihnachten waren schnell vergangen. Ich nahm alle Zusatzschichten an und wenn ich nicht arbeitete jagte ich Vögel oder knetete Tonmännchen. Die Leere die ich ohne John und Diana spürte war genauso graukalt wie der Dämmerberg. Ich wusste nicht was ich dagegen unternehmen sollte.
Ich sah sein schwarzes Haar schräg vor mir auf der anderen Seite des Mittelgangs. Hier und da drehte er sich um und suchte meinen Blick.
Leider haben wir einen Ausfall zu beklagen sagte die Küsterin mit dem Mund so nah am Mikrofon dass es in den Lautsprechern knisterte.
Der Pfarrer war kürzlich Vater geworden und hatte sich krankgemeldet. Es wirkte verkehrt dass er nicht einfach eine Aspirin nahm und seiner Gemeinde zuliebe für einen kurzen Moment die Zähne zusammenbiss. Immerhin war die Christmette die wichtigste Kirchenfeier des Jahres. In den Bankreihen wurde geschnieft und gehustet. Die Balken in der alten Holzkirche knackten. An den Füßen zog es kalt und die Kerzen auf dem Altar flackerten.
Wir müssen uns gegenseitig helfen damit die Christmette trotzdem so stimmungsvoll wie möglich wird sagte sie und las ein Stück aus dem Weihnachtsevangelium.
Nachdem sie sich gesetzt hatte erhob sich eine Frau in den ersten Bankreihen und ging vor. Sie war schon bewegt noch ehe sie zu sprechen begann. Vielleicht durch den Ernst der Stunde. Sie hatte eine angenehme Stimme frei von Pfaffenpathos.
Ich hab an die Maria gedacht sagte sie. Denn obwohl wir alle wissen dass sie Jesus Mutter war wissen wir nur wenig über sie wie sie da in Nazareth umherging und jeden Moment gebären sollte mit ihrem großen Bauch.
Ich hatte auch an die Maria gedacht seit ich nach Smalånger zurückgekommen bin. Sie hatte das Dorf mit einer solchen Kraft eingenommen dass es sich noch immer nicht erholt hatte. Obwohl sie tot war.
Von Angelika wusste ich dass der Kaufmann der letzte Mann gewesen war der Marias Weg gekreuzt hatte. HerrIcander. Das erklärte auch Brors Verhalten ihm gegenüber. Sie hatte Bror fallenlassen und sich stattdessen Icander zugewandt.
Stell dir das mal vor sagte Angelika. Ein übergewichtiger Achtzigjähriger der plötzlich von der Femme fatale des Dorfs angemacht wird. Das schien mir so merkwürdig dass ich sie fragte warum. Weißt du was sie geantwortet hat fragte Angelika.
Nein wusste ich nicht.
Sie würde sich über den Gedanken amüsieren wie der fette Kaufmann seinen letzten Seufzer unter ihrem Körper ausstoßen würde.
Als ich aus meinen Grübeleien erwachte war die Vertretung des Pfarrers schon am Ende ihrer Geschichte über Jesu Geburt.
Stellt euch nur vor wie ängstlich und schutzlos sie sich gefühlt haben muss während sie sich voranschleppte. Das Kind konnte jeden Moment kommen. Im schlimmsten Fall würde sie nicht einmal mehr ein Dach über dem Kopf finden. Sie war ungefähr vierzehn Jahre alt und wusste nichts über Geburten. Sicher vermisste sie ihre Mutter als plötzlich die Wehen einsetzten und Josef sein Bestes tat um einen Ort zur Übernachtung zu finden. Er fand nur eine alte Scheune wo er Maria auf Stroh bettete. Sie gebar ihr Kind in der Nacht als die Sterne am hellsten leuchteten. Vor allem ein Stern der sie bis nach Nazareth geführt hatte.
Das muss Sirius gewesen sein dachte ich.
Wir beteten und sangen und beteten und sangen aber ich dachte nicht an Maria und Jesus. Ich dachte an Diana. An ihr ernstes Gesicht als sie neugeboren in meinen Armen lag und an ihr schlafendes Gesicht im Krankenhaussessel. An ihre helle Gestalt die durch die Menschenmenge schritt und ihren verzweifelten Blick als ich sie auf dem Parkplatz zurückließ.
Ich dachte an mein Kind und trauerte um ein Leben das gekommen und genauso schnell wieder verschwunden war wie ein Nachbar der sich Zucker ausborgte. Es hätte anders ausgehen können. Ich schaute zu John hinüber. Er drehte sich so schnell zu mir um dass ich nicht mehr reagieren konnte. Nicht einmal das Licht von den großen Altarkerzen wurde in seinen Augen reflektiert. Ich fragte mich warum der Tod befunden hatte dass ich noch nicht an der Reihe wäre obwohl ich die Lust am Leben verloren hatte. So hatte ich mich noch nie gefühlt. Es hatte irgendetwas mit Hoffnung zu tun.
Eine alte Dame die ewig an ihrem Mantel herumfummelte sorgte dafür dass John und ich gleichzeitig auf den Mittelgang traten.
Ich muss mit dir reden sagte er. Es ist wichtig. Er packte meine Hand mit einem Griff der sich nicht abschütteln ließ.
Komm mit mir nach Hause sagte er und entzündete seine Fackel als wir auf den Kirchhügel traten. Das will ich nicht sagte ich. Er tat so als hörte er mich nicht oder vielleicht hörte er mich auch wirklich nicht.
Hier sagte er. Schieb die Hand durch meinen Arm und dann gehen wir. Wenn du nicht mit mir mitkommen willst können wir uns wenigstens bis zur Kreuzung unterhalten.
Lief die Ausstellung gut fragte ich.
Ja antwortete er. Ich hab fast alles verkauft aber dann hab ichs bereut und die meisten doch behalten.
Welche denn fragte ich.
Die auf denen es um uns geht.
Die hättest du auch verkaufen sollen sagte ich. Es sind nur Erinnerungen.
Nein erwiderte er. Es sind nicht nur Erinnerungen.
Es hatte angefangen zu schneien. Große stille dicht fallende Flocken. Wir waren wie ein Paar in einer Glaskugel die jemand geschüttelt hatte damit der Schnee wirbelte.
Erzähl mir von Maria sagte ich. Wie sie starb. Ich kann mich nicht weiter mit dir treffen wenn dus nicht erzählst.
Der Atem dampfte aus unseren Mündern. Er zog meinen Arm noch dichter an sich heran. Wir gingen nicht in denselben Schneesturm wie letztes Mal. Wir näherten uns einem Scheideweg wo die Ehrlichkeit bestimmen würde welche Richtung wir einschlugen.
Ich hab ihr beim Sterben geholfen sagte er. Sie wollte auf der Lichtung bei der Birke sterben und so kam es auch.
Warum wollte sie sterben fragte ich.
Das weiß ich nicht sagte er aber sie war krank. Krebs. Der sich nicht operieren ließ. Sie bekam eine Chemo aber als der Krebs sich ausbreitete beschloss sie zu sterben. Sie wollte nicht dass jemand von ihrer Krankheit erfuhr.
Er blickte auf den Boden als er sprach. Als müsste er sehen wie sich seine Füße bewegten um die richtigen Worte zu finden.
Maria war eitel. Sie wusste dass das halbe Dorf alles gegeben hätte um mit ihr zusammen zu sein. Sich in eine ausgemergelte Krebspatientin zu verwandeln war nicht ihr Stil. Sie wollte sterben solang sich die Krankheit noch verbergen ließ.
Das ist mir aufgefallen als ich die Gemälde betrachtet hab sagte ich. Dass sie auf jedem Bild schmaler wurde. Ich dachte es wär ein Fehler gewesen.
Er blickte auf und lächelte sein Hasenschartenlächeln.
Und dann fragte ich was ist dann passiert.
Es war Sommer. Einer der heißesten Sommer überhaupt. Man konnte sogar im Meer baden. Maria hat fast bis zuletzt gearbeitet aber irgendwann ging es nicht mehr. Mitte August kam sie zu mir. Wir hatten uns lange nicht gesehen. Haben auf der Vortreppe gesessen und Kaffee getrunken. Über einfache Dinge geredet. Über jemanden aus dem Dorf gewitzelt. Es war wie früher.
Nach einer Weile wurde unser Gespräch ernster. Sie hat gesagt sie habe Kanülen und Morphium gestohlen. Sie brauche Hilfe dabei sich die Spritze zu setzen.
Warum das fragte ich. Das hätte sie doch selbst gekonnt.
Ich weiß es nicht sagte er. Bei ihr wusste man nie. Vielleicht wollte sie nicht allein sterben oder sie fand ich hätte es verdient als Mörder zu enden.
Aber warum hast du dich darauf eingelassen fragte ich.
Mir gings genau wie allen anderen. Man tat was sie wollte. Sie hatte diese Fähigkeit.
War das auch der Grund warum du ein letztes Mal mit ihr geschlafen hast fragte ich.
Er sah mich an. Seine Verwunderung schien echt.
Verdammter Bror.
Wir gingen schweigend Arm in Arm. Jetzt fiel der Schnee so dicht dass wir kaum noch den Weg vor uns sahen.
Ist sie auf der Lichtung oder an einem anderen Ort gestorben fragte ich.
Sie ist am Abend im Haus gestorben. Nachts hab ich sie rausgetragen.
Und das hat niemand gesehen fragte ich.
Soweit ich weiß nicht. Nur du weißt was passiert ist.
Und die Polizei. Sie hätte doch Spuren von dir finden müssen. Fingerabdrücke oder Fußspuren.
Ganz so dumm war ich auch wieder nicht sagte er. Ich hab Handschuhe getragen und Schuhüberzieher vom Pflegedienst. Ich weiß nicht was du gehört hast aber die Polizei hat sich nicht groß für ihren Tod interessiert. Hat sich nur ein bisschen umgehört weil man ja wusste wer sie war und wie sie war. Bror war mit seiner Vergangenheit wahrscheinlich besonders verdächtig aber man konnte jeden Verdacht des Mordes ausschließen. Die Spritze steckte noch in ihrem Arm. Ihr Körper war von dem langen Morphiumkonsum gezeichnet. Außerdem hat die Obduktion erwiesen dass der Krebs weit fortgeschritten war. Sie war todkrank.
Trotzdem sagte ich.
Wie trotzdem.
Es ist mir unheimlich dass nur ich es weiß.
Vertraust du mir nicht fragte er.
Nein sagte ich. Wohl eher nicht.
Er blieb abrupt stehen. Machte eine Linksdrehung und umfasste meine Oberarme wie ein Vater der seinem Kind etwas Wichtiges sagen will. Ich war Leute leid die mich an den Oberarmen packten. Vor allem John. Als wäre ich diejenige die schlecht hört und nicht er.
Maria ist von eigener Hand gestorben. Sie hat nur etwas Hilfe bekommen. Ich hab bei ihr gesessen. Bis zuletzt ihre Hand gehalten. Ich glaub sie hat es nicht gewagt allein zu sterben.
Wir gingen weiter.
Anscheinend ist es so dass man nie wissen kann ob etwas richtig wahr ist sagte ich. Die Wahrheit verbiegt und verdreht sich zu sehr.
Das stimmt wohl erwiderte er aber jetzt hab ich alles gesagt was ich weiß. Es gibt keine weiteren Geheimnisse.
Vermisst du sie fragte ich.
Ja sagte er. Natürlich vermisse ich sie. Maria war Maria.
Maria war Maria und wir waren bei EskilBrännströms Kreuzung angekommen.
Und selbst fragte er. Empfindest du sie als verlorene Schwester.
Nicht direkt antwortete ich. Man kann schwer jemanden verlieren den man nie gehabt hat.
Im Unterschied zu Diana sagte er.
Im Unterschied zu Diana sagte ich.
Ihr werdet wieder zueinander finden das weiß ich sagte er.
Darüber weißt du rein gar nichts entgegnete ich.
Komm mit sagte er. Legte den Arm um mich und zog mich zur Abzweigung aber ich wehrte mich. Maria hing noch immer an seinem anderen Arm. Ich ließ zuerst los.