Der Zug geriet stark ins Schwanken, und Micael Bratt hätte fast das Gleichgewicht verloren. Im letzten Moment konnte er sich an einem Fenster abstützen. Fluchend setzte er seinen Weg ins Bordbistro fort und spürte die Blicke der Mitreisenden auf sich. An manchen Tagen gingen sie ihm gewaltig auf den Sack, diese glotzäugigen Armleuchter, die ihn begafften, wo auch immer er sich in diesem Land blicken ließ. Aber heute war er bester Laune.
In der Hand hielt er eine Plastiktüte mit einer Flasche Wein, der heutigen Ausgabe des Expressen und seinem aktuellen Drehbuch. Die Dreharbeiten in Falun begannen erst in drei Tagen. Was hieß: drei Tage Saufen und Halligalli. Heute Abend würde er irgendeine lokale Schönheit aufreißen und im Stadthotel, wo sein Agent ein Zimmer für ihn reserviert hatte, ordentlich die Sau rauslassen.
Er betrat den Durchgang zwischen zwei Wagenteilen. Das Rauschen des Zugs steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Donnern, bis er die Tür des Bistro-Wagens aufdrückte und der Lärm verklang. Vor der Essensausgabe standen vier Personen Schlange, ein paar weitere saßen an den Tischen verteilt. Es roch nach aufgewärmten Mikrowellenessen und Eiersandwiches.
Draußen vor dem Fenster zog Dalarna vorbei.
Eine junge Frau, die einen kleinen Rotzbengel an der Hand hielt und an ihren Platz zurückwollte, riss bei seinem Anblick die Augen auf.
»Sind Sie nicht Micael Bratt?«, fragte sie in breitem Dalarna-Dialekt.
»Korrekt, Herzchen.«
Er strubbelte dem Bengel durch die Haare.
»Was führt Sie nach Dalarna?«, fragte die Frau weiter.
»Ich bin auf dem Weg zu einem Dreh.«
Sie himmelte ihn an.
»Würden Sie mir ein Autogramm geben? Natürlich nur, wenn es Ihnen keine Umstände macht.«
»Das kriegen wir hin«, sagte Micael und zwinkerte ihr zu.
Sie war attraktiv. Keine Hau-mich-vom-Hocker-Granate, er hatte weiß Gott schönere Frauen gehabt, aber für einen Abend taugte sie.
»Wie heißen Sie?«
»Veronica.«
»Ja, meinen Namen kennen Sie ja bereits«, sagte er und streckte ihr die Hand hin.
»Ja, den kenne ich.«
Er nahm eine Serviette von ihrem Tablett und griff nach dem Stift, den sie ihm hinhielt.
»Und wo wohnt ihr?«, fragte er, wie um einen kleinen Small Talk zu halten, während er seine Unterschrift kritzelte.
»In Falun«, antwortete sie.
Micael musterte sie von oben bis unten, drehte die Serviette um und schrieb den Namen des Hotels und seine Zimmernummer auf die Rückseite.
»Komm heute Abend um acht vorbei, wenn du ein bisschen Spaß haben willst«, raunte er leise.
Dann schenkte er ihr ein Lächeln, gab ihr Serviette und Stift und rückte in der Schlange weiter vor.
Als er an der Reihe war, bestellte er eine Kartoffelpfanne, setzte sich anschließend an einen Fenstertisch, nahm die halb volle Weinflasche aus der Plastiktüte und goss sich einen Pappbecher voll. Eigentlich war der Verzehr von Alkohol an Bord des Zuges verboten, aber wer würde ihn schon zurechtweisen? Dann zog er das zusammengerollte Drehbuch aus der Tüte. Die Jagd stand auf der ersten Seite. Garantiert irgendeine grottenschlechte Kriminalgeschichte, dachte er, aber die Produktionsgesellschaft zahlte gut, und der Drehplan in Falun war so gestaffelt, dass er sich nicht würde totarbeiten müssen.
Viele seiner Schauspielerkollegen waren wählerisch, rümpften über Spielfilme geringschätzig die Nase, aber er tat das nicht. Er hatte seine Hundejahre hinter sich. Mit seinen sechsundvierzig Jahren hatte er es nicht mehr nötig, auf Kleinbühnen zu stehen, Shakespeare herunterzuleiern und sich in schlecht belüfteten Kellerspelunken zum Hanswurst zu machen. Er war ein wahrer Künstler, da konnten die Rezensenten in ihren Käseblättern gerne schreiben, er verkaufe sich unter Wert. Sie waren neidisch, nichts weiter. Das übliche schwedische Neidertum. Er war reich, an Erfolg ebenso wie an Geld. Laut einer Umfrage, die irgendeine Zeitschrift letzte Woche durchgeführt hatte, war er der Mann, mit dem die meisten schwedischen Frauen gerne eine Affäre hätten.
Er blätterte das Drehbuch durch. Es war Müll. Seine Rollenfigur war, genau wie er geahnt hatte, ein raubeiniger Bulle mit einer Schwäche für Frauen und Alkohol. Er ackerte einige Seiten der holprigen Dialoge durch, verlor jedoch rasch das Interesse, rollte das Drehbuch wieder zusammen und konzentrierte sich stattdessen aufs Trinken und die vor dem Fenster vorbeiziehende Landschaft. Hin und wieder stocherte er mit der Gabel auf seinem Teller herum, aß aber nichts. Der Alkohol stieg ihm allmählich zu Kopf.
Schließlich stand er auf und stopfte das Drehbuch zurück in die Plastiktüte. Die leere Weinflasche ließ er auf dem Tisch stehen. Die Leute vor der Essensausgabe gafften ihn ungeniert an.
Micael ging durch das Bordbistro zurück in Richtung Erste-Klasse-Abteil. Als er an dem Tisch eines jungen Pärchens vorbeikam, das einen Kaffee trank, schwankte der Zug erneut. Diesmal verlor er das Gleichgewicht und fiel auf den Typen, der den Kaffee über seine hellblauen Schlabberjeans schüttete. Fluchend stieß er Micael von sich.
»Fass mich nicht an, du Affe!«, blaffte Micael.
Der Typ blickte ihn verblüfft an.
»Sie haben mich angerempelt. Eigentlich sollten Sie sich entschuldigen, wie jeder zivilisierte Mensch.«
Micael maß ihn verächtlich.
»Du armes, verbittertes Würstchen. Du tust mir leid, wie du hier sitzt, unzufrieden, arm und hässlich. Fahr zur Hölle.«
Vor sich hinmurmelnd, schwankte er weiter durch die Wagenabteile. Zurück an seinem Platz, lehnte er sich im Sitz zurück. Die Geräusche um ihn herum erstarben, alles wurde still. Im nächsten Moment fuhr er zusammen, schlug die Augen auf. Der Schaffner sah ihn mit einem dämlichen Grinsen an.
»Wir sind in Falun.«
Das Stockholmer Dezernat für Kapitalverbrechen lag im sechsten Stock des Polizeipräsidium Kungsholmen. Die etwa fünfzig Mitarbeiter befassten sich mit den Mord-, Raub- und Gewaltverbrechen in der Stadt.
Nach dem morgendlichen Briefing und dem Überblick über alle laufenden und neuen Fälle blieben die Kollegen, die mit größeren Ermittlungen befasst waren, für separate Besprechungen zurück.
Tomas gehörte nicht dazu. Aktuell arbeitete er an einer Kneipenschlägerei im Bruder Tuck. Mit einer Ausgabe des Expressen , die ein Foto von Ministerpräsident Carl Bildt schmückte, setzte er sich in den Pausenraum. Klara war mit den Kindern nach Rättvik gefahren, in das Landhaus ihrer Eltern. Er fragte sich, ob sie wollte, dass er sie am Wochenende besuchte, oder ob sie lieber mit den Kindern allein blieb.
Sie war ziemlich einsilbig gewesen, seit er mit leeren Händen von Kristian zurückgekommen war. Er verstand sie. Und er fragte sich, was sie sagen würde, wenn sie von seinen Nachforschungen erführe.
Tomas schlug die Zeitung auf, kam aber nur dazu, ein paar Zeilen zu lesen, bevor er unterbrochen wurde.
»Wolf, hast du eine Ahnung, wo Johansson steckt?«
Vor ihm stand der Chef der Stockholmer Mordkommission, Gunnar Borssén, ein groß gewachsener Mann in den Sechzigern mit leuchtend blauen Augen, die von einer rechteckigen Brille umrahmt wurden, und grauem, kurz geschnittenem Haar.
»Er ist unterwegs und observiert«, erwiderte Tomas mechanisch, obwohl er keinen Dunst hatte, wo sich Lars Johansson befand.
»Sag Zingo … ich meine Johansson, dass ich mit ihm reden will, wenn du ihn siehst«, murmelte Borssén.
»Mache ich«, versprach er.
Borssén entfernte sich. Tomas widmete sich wieder der Zeitung. Lars Johansson wurde unter den Kollegen nur Zingo genannt, in Erinnerung an eine Festnahme, als er Ende der Siebziger beim Diebstahldezernat in Västerås gearbeitet hatte. Er hatte sich in einem Keller gegen einen messerbewaffneten Einbrecher verteidigt und ihn mit einer Glasflasche der Marke Zingo k. o. geschlagen. Als er später nach Stockholm zog, zog sein Spitzname mit.
Ein Kollege, der zwei Tische entfernt saß und in einem Comicheft las, lachte.
»Zingo muss sich bald eine Brille zulegen. So oft, wie er unterwegs ist und observiert, müssen seine Augen schon viereckig sein.«
Tomas wurde wütend. Auf Zingo, dem zuliebe er hatte lügen müssen, und auf den Kollegen.
Er nahm seinen Kaffee und die Zeitung, ging in sein Büro, machte die Tür zu und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er war es leid, Zingo zu decken, der wahrscheinlich zu Hause in Lilla Essingen verkatert im Bett lag. Aber Zingo war der einzige Mensch auf der Welt, den Tomas als Freund bezeichnete. Es war Zingo gewesen, der ihn unter seine Fittiche genommen, der ihn dazu gebracht hatte, Polizist zu werden, und ihm nach der Ausbildung zu einer Anstellung bei der Mordkommission verholfen hatte. Solche Dinge bedeuteten etwas. Tomas rief ihn an, aber es ging niemand ans Telefon.
Seine Gedanken schweiften zu seinem Bruder Kristian, der sich noch nicht wegen des Geldes gemeldet hatte. Tomas drückte die Gabel nach unten und wählte die Festnetznummer seines Bruders. Es tutete in der Leitung, ohne dass jemand abnahm.
»Idioten«, murmelte er.
Draußen auf dem Flur erklangen Stimmen und Lachen.
Er wollte Klara nicht am Wochenende gegenübertreten, ohne ihr zu sagen, dass er das Geldproblem gelöst hatte. Sie verdiente es nicht, noch einmal enttäuscht zu werden. Wütend griff er wieder zum Hörer und wählte Kristians Nummer aufs Neue. Zu seiner Verwunderung meldete sich nach dem zweiten Klingeln eine männliche Stimme. Aber es war nicht Kristians.
»Mit wem spreche ich?«, fragte Tomas.
»Mit Kriminalkommissar Fredrik Jansson von der Polizei Märsta.«
Tomas hielt den Atem an, erwog aufzulegen, doch Neugier und Sorge gewannen die Oberhand. Kristian war trotz allem sein Bruder.
»Was ist passiert? Warum sind Sie in Kristians Haus?«, fragte er.
»Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Tomas Wolf. Ich bin Kristians Bruder.«
Der Kriminalkommissar zögerte, als überlege er, was er sagen durfte und was nicht.
»Wir führen eine Hausdurchsuchung bei ihm durch.«
Tomas stöhnte auf.
»Was hat er angestellt?«
»Ihr Bruder wurde in Gewahrsam genommen. Er steht unter Mordverdacht.«
»Sigge, komm jetzt!«, rief Vera und schloss die Wohnungstür auf.
Sigge wollte sich partout nicht vom Fernseher losreißen. Er war mit Schuhen zurück ins Wohnzimmer geschlichen und hatte die Turtles-Videokassette in den Rekorder geschoben, die Vera ihm auf einem Flohmarkt in Malmö gekauft hatte.
»Manno«, maulte er, als Vera ihn holen kam.
Mit seiner Jurassic-Park-Baseballkappe auf dem Kopf saß er da und machte den Eindruck, als sei soeben alles Leben aus seinem sechsjährigen Körper gewichen.
»Los jetzt, hoch mit dir.«
Draußen im Treppenhaus stießen sie auf eine ältere Dame mit rosa Papilloten in ihren knallroten Haaren, die versuchte, eine prall gefüllte Mülltüte in den Einwurf des Müllschachts zu zwängen. In der Tüte klirrte es. Der Hals einer leeren Rotweinflasche ragte daraus hervor.
»Ach, hallo.« Die Frau ließ die Tüte in der runden Schachtöffnung stecken und wandte sich Vera zu. »Sind Sie das, die zu nachtschlafender Zeit im Haus ein und aus geht?«
»Gut möglich.« Vera stieg die Treppe hinunter.
»Und der Junge? Was machen Sie mit dem Jungen?«
Vera seufzte innerlich, blieb jedoch stehen. Instinktiv wollte sie sich verteidigen, auch wenn sie nicht die geringste Lust hatte, ihr Leben vor einer neugierigen Nachbarin zu rechtfertigen. Aber sie durfte kein Misstrauen wecken. Immerhin hatte sie Sigge gewissermaßen entführt.
»Fürs Erste nehme ich ihn mit zur Arbeit. Ich habe keine andere Möglichkeit. Sein Vater …«
Verstohlen blickte Vera auf Sigge, der hinter ihr stand und die Nachbarin schüchtern musterte.
»… sein Vater kann sich momentan nicht um ihn kümmern.«
»Aha. Das habe ich mir gedacht.«
Die Frau lächelte breit.
»Ich heiße Birgitta«, fuhr sie fort, als Vera das Lächeln nicht erwiderte. »Ich bin den ganzen Tag zu Hause. Ich gehe nicht mal raus auf den Balkon, um zu rauchen. Ich meine, die Dunstabzugshaube reicht völlig aus.«
»Okay.« Vera nahm Sigge bei der Hand und ging diskret ein paar Stufen weiter nach unten zur Eingangstür.
»Ich weiß, wie das Leben als alleinerziehende Mutter ist«, fuhr Birgitta jetzt im ernsten Ton fort. »Das wollte ich damit sagen. Geben Sie Bescheid, wenn ich behilflich sein kann. Jederzeit.«
Vera hielt mitten in der Bewegung inne.
»Behilflich? Wie meinen Sie das?«
»Ich bin keine üble Babysitterin, wenn ich das von mir selbst behaupten darf.«
Wie um eine rechtschaffene Figur zu machen, knotete sie den Gürtel ihres rosa Morgenrocks fester. Dann richtete sie ihren Blick auf Sigge.
»Hast du schon mal ›Mensch ärgere Dich nicht‹ gespielt?«
Sigge schüttelte den Kopf.
»Na, wenn das so ist … Wie wär’s, wenn du heute bei mir bleibst, solange deine Mama arbeitet? Wir spielen ein paar Runden und essen zusammen Abendbrot. Hast du schon mal was aus dem Wok gegessen?«
»Nein.«
»Dann ist es an der Zeit.«
Vera überlegte. Konnte sie Sigge wirklich bei einer Frau lassen, der sie nur einmal im Treppenhaus begegnet war?
»Und Sie«, fuhr Birgitta mit einem Blick auf Vera fort, »Sie bleiben auf einen Grog, wenn Sie den Jungen abholen.«
Die Nachbarin gab in dem gräulich-tristen Treppenhaus eine kuriose Erscheinung ab, aber sie würde Sigge vermutlich ein besseres Umfeld bieten, als wenn er mit ihr zu irgendwelchen Tatorten fuhr.
»Willst du heute bei Birgitta bleiben, solange ich arbeite, Sigge?« Vera sah ihn prüfend an, um herauszufinden, was er von dem Vorschlag hielt.
»Darf ich das Turtles-Video mitnehmen?«
Vera nickte.
»Wunderbar, dann ist das geregelt«, sagte Birgitta. »Wenn du nicht auf den Kopf gefallen bist, bringe ich dir vielleicht auch das Pokerspielen bei.«
In der Einfahrt von Kristians Haus parkten zwei Streifenwagen und ein ziviler silberfarbener Saab. Die Haustür stand sperrangelweit offen. Hinter den Fenstern bewegten sich Polizeibeamte. Wenn Kristian das Geld, das er ihm schuldete, zu Hause aufbewahrt hatte, war es verloren, wahrscheinlich für immer, dachte Tomas resigniert.
Er klingelte, bevor er den Flur entlangging und in der Wohnzimmertür stehen blieb. Es roch nach Bier und Zigarettenrauch. Das Chaos deutete darauf hin, dass Kristian seit Montag durchgefeiert hatte.
Ein uniformierter Beamter warf ihm einen feindseligen Blick zu, und Tomas zückte seinen Dienstausweis.
»Ich suche Kriminalkommissar Fredrik Jansson.«
»Entschuldigung, ich dachte, Sie wären ein neugieriger Nachbar.«
Der Beamte zeigte in Richtung Garage.
Als Tomas die Garage betrat, zum zweiten Mal in dieser Woche, fiel sein Blick auf einen Mann, der die Sofaritzen und die Fläche unter den Polstern untersuchte.
»Sind Sie Fredrik Jansson?«, fragte er.
Der Mann richtete sich auf und kam auf ihn zu. Am Telefon hatte Tomas aus irgendeinem Grund einen älteren Mann vor sich gesehen, doch Jansson und er schienen etwa im gleichen Alter zu sein.
»Ja?«
»Wir haben telefoniert. Vor ungefähr einer Stunde. Ich bin Kristians Bruder und arbeite als Kriminalkommissar bei der Stockholmer Mordkommission. Ich bin sehr überrascht, dass die Polizei Märsta bei Hausdurchsuchungen ans Telefon geht.«
Auf Fredrik Janssons Stirn erschien eine steile Falte. Er blickte zu der großen Schwedenfahne an der Wand, dann wieder zu Tomas.
»Ich möchte nur wissen, was Kristian zur Last gelegt wird«, fuhr Tomas fort.
»Am Montag wurde nicht weit von hier die Asylbewerberin Nadija Alihodzic ermordet aufgefunden.«
Tomas schwieg. Die Frau, die hinter der Absperrung gelegen hatte, als er zu Kristian gefahren war.
»Zuerst hatten wir den Ehemann in Verdacht«, führte Jansson weiter aus, »aber wir konnten ihn ausschließen. Armer Kerl, er ist am Boden zerstört. Ihr Bruder ist gestern sturzbesoffen vor dem Polizeirevier aufgekreuzt und hat gegrölt, er hätte die Kanakenhure abgemurkst, seine Worte, nicht meine. Und wie Sie sicher wissen, ist Ihr Bruder bei uns kein Unbekannter. Er kann auch kein Alibi vorweisen.«
Tomas rief sich die Frau in Erinnerung, die am Montag auf der Straße gelegen hatte. Ihr Name war Nadija, und der Mann, der verdächtigt wurde, sie ermordet zu haben, war sein eigener Bruder.
Ihm wurde speiübel, und eine bodenlose Traurigkeit ergriff von ihm Besitz. Er bezweifelte nicht, dass Kristian fähig war, einen Mord zu begehen.
»Wo ist mein Bruder jetzt?«
»In einer Arrestzelle des Polizeireviers.«
»Hat er gestanden?«
Fredrik Jansson schüttelte den Kopf.
»Er sagt kein Wort.«
Jansson heftete den Blick auf einen Punkt hinter Tomas. Tomas wandte sich um. Der uniformierte Beamte, den er eben im Haus getroffen hatte, kam auf sie zu.
»Wir haben fast fünfundzwanzigtausend Kronen gefunden«, meldete er. »In einer Tüte hinter der Badewanne.«
Tomas’ Resignation verstärkte sich.
»Keinen Slip?«, fragte Jansson.
Der Polizeibeamte schüttelte den Kopf.
»Keinen, auf den die Beschreibung passt.«
»Sucht weiter«, wies Jansson ihn an.
Der Polizeibeamte wandte sich um und kehrte ins Haus zurück.
Tomas musterte Janssons finstere Miene.
»Ein Slip?«, fragte er. »Wurde die Frau vergewaltigt?«
Jansson nickte.
»Ja, und sie hatte keine Unterwäsche an. Wir haben jeden Mülleimer in der Umgebung überprüft, konnten aber nichts finden. Wir gehen zunehmend davon aus, dass der Täter den Slip mitgenommen haben könnte.«
In der Zinken Bar flogen die Fetzen. Ein Vater-Tochter-Gespann lag sich lautstark in den Haaren. Vera verfolgte das Drama, das sich am Tresen abspielte, aus der ersten Reihe.
»Ich weiß, was du vorhast!«, schrie der Vater. »Du willst nach Lidingö und Sachen klamüsern. Du bist genau wie deine verdammte Mutter!«
An der Decke schwebte eine dicke Wolke aus Tabakqualm. Trotz des frühen Nachmittags war die Kneipe rappelvoll. Hier ging man hin, wenn man nirgendwo anders hinkonnte. Ein Zuhause für den Teil der Arbeiterklasse, der nicht arbeitete.
»Ich klamüsere keine scheiß Sachen«, keifte die Tochter.
»Klamüsern« war wohl eine kreative Umschreibung für Klauen, vermutete Vera.
Die Zinken Bar lag auf Södermalm, an der Kreuzung Ringvägen Ecke Hornsgatan, und war bekannt für ihre kriminelle Klientel. Jonny hatte ihr die Kneipe vor gut einem Jahr während eines Stockholm-Wochenendes gezeigt.
Für Kriminalreporter gab es zweierlei Wege, an Exklusivinformationen zu kommen. Durch Polizeiquellen und durch Tipps von Kriminellen. Deshalb saß Vera eine Stunde vor Schichtbeginn hier und hatte ein Bier vor sich stehen. In Stockholm fing sie wieder bei null an und musste Kontakte zu Menschen knüpfen, die sich an den Rändern der Gesellschaft bewegten. Ihr Handy unterbrach ihre Grübelei. Im ersten Moment dachte sie, es sei Jonny, doch die Nummer auf dem Display sah aus wie eine offizielle Behördendurchwahl.
»Hallo?«, meldete sie sich.
»Wretström«, sagte ein Mann am anderen Ende.
Vera brauchte einen Moment, den Namen einzuordnen. Der schmierige Kommissar von Montag.
»Ich hab was für dich«, sagte er. »Aber das kostet.«
Ihr Puls stieg, und ein mulmiges Gefühl stellte sich ein. Tippgeberhonorare hätten sie in Malmö fast ihren Job gekostet. Das Thema Anita gegenüber anzuschneiden, wäre nicht leicht. Aber ihr blieb keine andere Wahl. Ein Journalist ohne Quellen war bei einer Abendzeitung ein Niemand.
»Okay«, stimmte sie zu. »Du kannst fünftausend kriegen.«
»Ich will zehn.«
»Ich werde sehen, was sich machen lässt.«
»Wir haben in Zusammenhang mit dem Mord eine Person festgenommen«, sagte Wretström. »Einen ortsansässigen Neonazi. Kristian Wolf. Ein bekannter Gewaltverbrecher. Wir haben heute Morgen sein Haus durchsucht. Du kannst die Adresse kriegen. Es ist bestimmt noch ein bisschen Polizeiabsperrband da, das ihr knipsen könnt.«
»Habt ihr noch mehr?«
»Nein, derzeit nicht. Aber unter uns: Ich denke, die Sache ist im Sack. Der Mord wurde an einem Asylantenheim verübt. Der Typ ist Neonazi und hat vor dem Revier stinkbesoffen damit geprahlt, die Kanakenhure abgemurkst zu haben. Den Fall haben wir gelöst, ehe die Woche rum ist.«
»Und er hat kein Alibi?«
»Nein. Ich sollte losgehen und Lotto spielen.«
Vera kritzelte Kristian Wolfs Adresse auf einen Kassenzettel und beendete das Gespräch. Dann wählte sie die Nummer der Stockholmer Kvällsposten -Redaktion.
»Enbacka.«
Vera atmete auf. Das musste bedeuten, dass Anita heute freihatte. Was hieß, dass sie vielleicht darum herumkam, ausgerechnet sie um ein Tippgeberhonorar bitten zu müssen.
»Ich habe eine Story. Du hast von dem Mord in Märsta gehört?«
»Ja.«
»Die Polizei hat einen bekannten Neonazi festgenommen und sein Haus durchsucht. Er hat den Mord im Suff gestanden. Du kannst einen Fotografen losschicken, um das Haus zu fotografieren.«
»Neonazi ist gut. Glatzen machen den Leuten eine Heidenangst. Das treibt die Auflage in die Höhe. Bleib an der Sache dran, ich schicke einen Fotoheini los.«
»Eine Sache noch«, sagte Vera.
Jetzt oder nie.
»Mein Informant will Geld. Fünftausend.«
»Das musst du mit Anita besprechen. So was geht über sie. Sie traut niemandem.«
Vera legte auf, trank einen großen Schluck Bier und winkte dem Mann hinter der Bar zu, dass sie bezahlen wollte. Im gleichen Moment meldete sich ihr Unterbewusstsein. Irgendetwas, das Wretström gesagt hatte, war dort hängen geblieben.
Die Flüchtlingsunterkunft. Eine weitere Übereinstimmung mit dem Fall in Malmö, neben dem fehlenden Slip und dem Fakt, dass die Frau erdrosselt worden war. Mersiha Selimovic hatte auch in einer Flüchtlingsunterkunft gewohnt, und auch sie war vor dem Krieg in Bosnien geflohen. Hatten sie es mit einem Serienvergewaltiger und Mörder zu tun, der es auf Asylbewerberinnen abgesehen hatte und als Trophäen ihre Slips sammelte?
Aber das Gehirn sieht, was es sehen will, dachte Vera. Jagt man einer Titelstory mit Scheuklappen vor den Augen nach, macht man sich schnell zum Narren, übersieht Schwachstellen und zieht haltlose Schlussfolgerungen.
Außerdem gab es etliche Faktoren, in denen sich die Überfälle unterschieden. Sie waren in verschiedenen Ecken des Landes verübt worden. Und Mersiha Selimovic hatte überlebt. Asylbewerberinnen waren zudem sozial ausgegrenzt und lebten in Risikogebieten, sodass ihre Gefährdung, einem Gewaltverbrechen zum Opfer zu fallen, höher war. Die Übereinstimmungen konnten ebenso gut reiner Zufall sein.
Der Mann hinter der Bar brachte die Rechnung, und Vera legte vier Zehn-Kronen-Münzen auf den Tisch. Lohnte es sich, den Informationen, die ihr in den Schoß gefallen waren, weiter nachzugehen? Gut möglich, dass sie in einer Sackgasse endeten. Aber meistens waren es die Journalisten, die jedem Tipp nachgingen, egal, wie absurd er klang, denen die größten Scoops gelangen.
Und was kostete es sie schon, die Parallelen weiterzuverfolgen? Nichts, außer Zeit. In der Pilgatan hatte sie einige Kopien aus der Voruntersuchung im Fall Mersiha Selimovic. Das Material hätte sie in einer Stunde durchgesehen.
Vera stand auf. Über die Parallelen konnte sie morgen weiter nachdenken. Jetzt musste sie mit den konkreten Fakten weitermachen, die sie hatte. Und das war Kristian Wolf.
In der Tür stieß sie mit einem dicken Kerl in Lederweste zusammen, und einen Moment später war sie von drei Bikertypen umringt. Als sie zwischen ihnen hindurchschlüpfen wollte, fasste einer der Männer sie am Arm und lotste sie diskret in Richtung Toiletten. Sie wollte schreien, bekam aber keinen Ton heraus.
Jonny, dachte sie. Verfluchter Jonny.
Im Toilettenraum presste der Fette sie gegen eine Kabinenwand. Hundert Gedanken rasten ihr durch den Kopf, doch sie bekam keinen einzigen zu fassen, starrte blindlings auf die Gesichtstätowierungen des Mannes. Hinter ihm tauchte ein zweiter groß gewachsener und durchtrainierter Lederwesten-Typ auf. Er nahm seine Sonnenbrille ab und lächelte Vera breit an.
Alle drei hatten das gleiche Emblem auf der Weste. Odin MC, darunter das Bild des einäugigen Asengottes, auf dessen Schultern zwei Raben hockten. Vera hatte noch nie von diesem Club gehört.
»Hey, Süße«, sagte der lächelnde Typ, strich ihr über die Wange und verharrte mit dem Finger auf ihrem Mund.
Vera wollte ihm ins Gesicht spucken, doch der Fette drückte ihren Hals wie eine Schraubzwinge zusammen. Der dritte Typ bewachte die Tür. Sie saß in der Falle.
»Jonny sagt, du schuldest uns dreißig Mille«, fuhr der Typ mit einem Lächeln fort. »Plus zwei Mille Zinsen pro Woche.«
Veras Zunge fühlte sich trocken und pelzig an. Sie bekam kaum genug Luft, um sprechen zu können.
»So eine große Summe kann ich nicht auftreiben«, stieß sie mühsam hervor.
»Und ob du das kannst«, erwiderte der lächelnde Typ. »Du kannst in Raten zahlen. Wir wissen, dass du deine Methoden hast. Du musst nur zur Bank gehen.«
Nein. Nicht das wieder .
Jonny hatte die Zeitung immer »die Bank« genannt. Wenn sie knapp bei Kasse gewesen waren, hatte er sie dazu gebracht, bei der Zeitung um Tippgeberhonorare für Informationen zu bitten, die frei erfunden gewesen waren. Sie hatte sich widerwillig darauf eingelassen, weil sie keinen anderen Ausweg gesehen hatte. Aber sie hatte die ganze Zeit gewusst, dass dieses Spiel nicht ewig gut gehen würde. Und das war es auch nicht. In ihrem Inneren hörte sie Anitas Stimme: Die meisten kriegen nur eine Chance in dieser Zeitung. Du hast schon zwei bekommen.
»Freitag kommen wir wieder. Dann ist die erste Rate fällig.«
Der Fette ließ ihren Hals los, packte sie stattdessen bei den Haaren, griff mit der anderen Hand unter ihr T-Shirt und umfasste grob ihre Brust.
»Kein BH«, sagte er zu den anderen und schob zum Beweis Veras T-Shirt hoch.
Dann riss er so fest an ihren Haaren, dass ihr Nacken sich nach hinten bog.
»Schaut euch das an, Jungs. Was für Prachttitten.«
Der lächelnde Typ legte sanft eine Hand auf ihre Brust, streichelte die Brustwarze mit dem Daumen. Die zärtliche Berührung machte den Übergriff noch erniedrigender.
»Dir ist doch klar, dass es nicht lustig für dich wird, wenn du uns enttäuschst?«, fragte er, bevor er seine Hand wegnahm.
Vera, deren Nacken vom Griff des Fetten unverändert nach hinten gebogen wurde, nickte, so gut es ging. Der Fette ließ sie unvermittelt los, ihre Beine gaben nach, und sie sackte zu Boden.
Erst als die Männer den Toilettenraum verlassen hatten, stand sie auf. Sie blickte in den Spiegel. Betrachtete die roten Male an ihrem Hals. Sie konnte noch immer die Hände der Männer auf ihrem Körper spüren.
Jonny würde Sigge nie wiedersehen. Niemals.
Drei Männer in ledernen Motorradklub-Westen kamen aus der Zinken Bar. Tomas wartete, bis sie verschwunden waren, dann ging er hinein. Dicker Zigarettendunst hing über den Tischen. Das Stimmengewirr vermischte sich mit dröhnenden Rockklängen, die aus den Lautsprechern wummerten. Zingo saß an einem Tisch direkt vor dem Tresen, einen halb leeren Bierkrug vor sich. Ein voller zweiter stand daneben. Tomas zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich. Wie üblich trug sein Gegenüber eines seiner kurzärmeligen, geblümten Hawaiihemden. Tomas griff nach seinen Zigaretten, hielt sie Zingo hin, der eine herausnahm, dann schob er sich selbst eine zwischen die Lippen.
»Unsere Jungs sind heute geflogen«, sagte Zingo und zündete die Zigarette an.
»Welche Jungs?«
Tomas griff nach dem Feuerzeug und steckte seine Zigarette ebenfalls an.
»Unsere Nationalmannschaft. Sie fliegen heute in die USA. Aber wahrscheinlich sind sie bald wieder zu Hause. Mit Ravelli im Tor haben sie keine Chance, bis ins Finale zu kommen. Der Kerl ist ein größeres Fiasko als … ja, was auch immer.«
Tomas hatte keine Ahnung von Fußball, und die Erfolgschancen der schwedischen Nationalmannschaft in der bevorstehenden WM interessierten ihn auch nicht sonderlich.
Zingo nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette, während Tomas sich auf dem Stuhl zurücklehnte.
»Wie geht es dir?«, fragte er.
»Bestens.«
Tomas beugte sich vor und aschte in einen übervollen Aschenbecher. Zingo reckte einen Zeigefinger in die Luft.
»Der Lasermann-Fall«, sagte er. »Das war ein Fiasko, und was für eins. Vielleicht sogar ein größeres Fiasko als Ravelli. Na ja, wir werden ja sehen, wie es läuft.«
»Die Kollegen fragen nach dir. Borssén wird allmählich misstrauisch. Ich sage natürlich, dass du ermittelst. Wir haben ja die Schlägerei im Bruder Tuck, aber …«
Zingo stützte die Ellenbogen auf den Tisch und lehnte sich ein Stück vor.
»Mach dir keine Sorgen um mich. Ich komme bald wieder zur Arbeit. Ich muss ein paar Dinge regeln.«
»Was für Dinge?«
»Kümmer dich lieber um deine Familie als um mich. Klara und die Kinder brauchen dich.«
Zingo stand auf, der Stuhl schabte über den Boden. Er griff nach seinem Bierkrug und kippte den Rest hinunter. Dann zeigte er auf den vollen Krug vor Tomas.
»Der geht auf mich. Du siehst aus, als würdest du ihn dringender brauchen als ich.«
»Wo willst du hin?«
»Ich sagte doch, ein paar Dinge regeln. Besser, ich mache es sofort.«
Zingo hob die Hand zu einem schlaffen Gruß an die Stirn und verließ die Bar.
Eine Stunde später hatte Tomas vier weitere Biere getrunken. Er fühlte sich missmutig und betrunken. So wird mein Leben aussehen, wenn Klara mich verlässt, dachte er düster. Er bewunderte Zingo, er würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass er ihn liebte, aber er wollte nicht wie Zingo werden. Er wollte sich um seine Familie kümmern, den Kindern ein guter Vater und Klara ein guter Ehemann sein, ihnen die Geborgenheit geben, die seine Brüder und er vermisst hatten. Aber er schaffte es nicht, sosehr er es auch versuchte. In Bosnien hatte er sie betrogen. Mit Azra, der Frau, die Stupni Do überlebt hatte. Er hatte noch nie eine derart heftige Leidenschaft für einen anderen Menschen empfunden. Vielleicht hatte der Krieg, der um sie herum tobte, bewirkt, dass sich keiner von ihnen hatte wehren können. Die letzte Information, die er von Azra hatte, war, dass sie nach Deutschland geflüchtet war.
Die Scham machte ihm schwer zu schaffen. Er wusste, dass er Azra vergessen, bei seiner Familie sein sollte. Aber es war, als seien die Gedanken an Azra das Einzige, was ihn davor bewahrte, in einen Abgrund zu stürzen und komplett wahnsinnig zu werden. Deswegen versuchte er noch immer, in Erfahrung zu bringen, wo Azra sich befand. Das, was er durchgemacht hatte, konnte er mit niemand anderem teilen.
Er liebte Klara auch. Nicht auf die gleiche Weise, aber er wollte, dass sie glücklich war. Sie verdiente es, nach allem, was sie für ihn getan hatte.
Er winkte dem Mann hinter dem Tresen zu, deutete auf seinen leeren Bierkrug und erhielt ein bestätigendes Nicken. Ein Typ mit einer umgedrehten Baseballkappe auf dem Kopf und einem Goldohrring verhökerte offenbar Drogen. Mindestens zwei Kunden waren ihm zur Toilette gefolgt, um die Zahlungsmodalitäten zu regeln. Tomas hatte keinen Nerv, sich darum zu kümmern. Draußen auf der Straße fuhr unter Sirenengeheul ein Streifenwagen vorbei.
Als das Geräusch verklungen war, brach an einem der Fenstertische ein Tumult aus. Zwei Männer beschimpften sich wüst und gingen aufeinander los. Der eine zog dem anderen eine Flasche über den Kopf. Kneipengäste eilten herbei, um die beiden Streithähne auseinanderzubringen.
Tomas saß wie angewurzelt auf seinem Stuhl. Sein Körper bebte. Er legte seine rechte Hand auf die Brust, sein Herz pochte wie wild, trommelnde Panikschläge gegen das Brustbein. Er stand auf, stolperte in Richtung Toiletten, riss wahllos eine Kabinentür auf, woraufhin ein Fluch erklang, riss die nächste Tür auf, schloss ab und sank auf dem Toilettendeckel zusammen. Wie ein Schiffbrüchiger, der soeben auf einer verlassenen Insel an Land gespült worden war, schlang er die Arme um sich und versuchte, sich auf die Atemtechnik zu besinnen, die er immer anwandte, um sich zu beruhigen.
Nach ein paar Minuten zeigte sie Wirkung.
Tomas blieb sitzen, hörte, wie die Tür des Toilettenraums einige Male auf- und zuging, hörte die Geräuschkulisse des Schankraums, Stimmen, entferntes Gelächter. Es stank nach Pisse und Erbrochenem.
Schließlich rappelte er sich hoch und stieß die Tür auf. An dem versifften Waschbecken stand der Dealer. Er hatte seine Baseballkappe abgenommen, fuhr sich mit der Hand durch die Haare und musterte sein Spiegelbild.
»Hast du ein paar Pillen?«, fragte Tomas.
Der Typ betrachtete ihn im Spiegel.
»Was willst du haben?«
»Keine Ahnung. Irgendwas, was mir hilft zu schlafen.«
Der Typ begann, in seinem Rucksack auf dem Boden herumzukramen, richtete sich schließlich wieder auf und gab ihm einen Blister.
»Was ist das?«
»Ist das wichtig?«
Tomas musterte den Typen schweigend.
»Was willst du dafür haben?«
»Einen Hunderter für den ganzen Streifen.«
Tomas nahm sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche und gab ihm einen Hundertkronenschein.
Dann verließ er die Toilette und ging zurück zu seinem Tisch, wo ein frisches Bier auf ihn wartete. Die beiden Streithähne waren verschwunden. Tomas ging an den Tresen und bat darum zu bezahlen. Er wollte Klara anrufen, ihre Stimme hören. Er würde Azra vergessen, er musste Azra vergessen. Er trug Verantwortung, für seine Kinder, für Klara. Er war nicht wie sein Vater oder die Väter seiner Brüder. Er ließ niemanden im Stich. Er wusste, was mit Kindern passierte, vor allem mit Jungs, deren Väter sich aus dem Staub machten. Er schielte zu dem Münzapparat an der Wand des Schankraums, beschloss jedoch, von einer Telefonzelle aus anzurufen, damit Klara nicht merkte, dass er in der Kneipe saß. Er wollte nicht noch mehr Risse, noch mehr Streit provozieren.
Rasch rechnete er im Kopf nach. Wenn er seinen Urlaub sausen ließ, Überstunden machte, auch am Wochenende, könnte er die fehlende Summe für die Anzahlung des Hauskaufs zusammenbekommen. Das würde er tun. Für Klara. Für Alexander und Ebba. Vielleicht auch für sich selbst – um zu beweisen, dass er nicht war wie sein Erzeuger. Er kümmerte sich um seine Familie, tat alles für sie.
Tomas trat auf die Straße hinaus, auf der anderen Seite des Ringvägen gab es eine Telefonzelle. Er schob ein paar Münzen in den Schlitz und wählte die Nummer des Landhauses.
»Ich bin’s«, sagte er, als Klara sich meldete.
»Hallo.«
Auf die Begrüßung folgte ein langes Schweigen.
»Wie geht es euch?«, erkundigte er sich.
»Gut.«
Tomas hörte Alexander und Ebba im Hintergrund toben. Der vertraute Lärm beruhigte ihn.
»Sind die Kinder noch wach?«, fragte er.
»Ja, wir sitzen auf dem Sofa und gucken einen Film. Warte, Alexander will mit dir sprechen.«
Vor dem Haus knatterte ein Mofa vorbei, das Motorengeräusch ertränkte Alexanders Stimme.
»Papa? Hallo?«
»Hey, mein Großer. Wie geht’s dir?«
»Gut. Ich hab heute geangelt.«
Tomas sah seinen Sohn vor sich, auf dem Steg des Sees. Wie seine Arme mit der zu langen Angelrute kämpften. Die Augen fest auf den Schwimmer gerichtet. Es war ein schöner Anblick.
»Haben die Fische angebissen?«
»Nein, kein einziger.«
»Vielleicht beißen sie morgen. Ich komme Freitag. Dann fangen wir bestimmt was. Wir können das Netz auslegen, und wenn wir Glück haben, fangen wir so viele Fische, dass wir das ganze Wochenende davon satt werden.«
Drei Jugendliche schlenderten auf dem Gehweg in Richtung Hornstull vorbei. Einer der drei fuhr mit der Hand an der Scheibe der Telefonzelle entlang.
»Papa?«
»Ja?«
»Du fehlst mir.«
»Und du fehlst mir, mein Großer. Pass auf Mama und Ebba auf. Wir sehen uns am Freitag.«
»Okay. Tschüss, Papa.«
Klara kam zurück an den Hörer. Tomas hörte ihre Atemzüge. Die Distanz zwischen ihnen schien mit Händen greifbar zu sein. Mit einem Mal verspürte er den Wunsch, es ihr zu erzählen. Sich die ganze Geschichte von der Seele zu reden. Sie um Verzeihung, um eine zweite Chance zu bitten, Besserung zu geloben. Dazu bin ich zu feige, dachte er. Das schaffe ich nicht.
»Die Einwanderungsbehörde hat angerufen und nach dir gefragt«, sagte sie.
»Bei euch in Dalarna?«
»Nein, zu Hause. Bevor wir gefahren sind.«
Tomas schwieg.
»Hast du gehört?«, fragte Klara.
»Ja, die Einwanderungsbehörde hat angerufen. Was wollten sie?«
Er bemühte sich, seine Stimme fest klingen zu lassen.
»Sie haben gesagt, dass Azra Osmanovic in Schweden ist.«
»Okay«, antwortete er so gelassen, wie er konnte. »Dann weiß ich Bescheid. Danke.«
Klara räusperte sich.
»Wer ist das?«
Sie gab sich Mühe, ihre Frage desinteressiert, beiläufig klingen zu lassen, aber Tomas hörte den Argwohn in ihrer Stimme. Er schluckte, versuchte seine Gedanken zu sortieren, seine Sinne zu schärfen.
»Sie hängt mit einer Ermittlung zusammen«, sagte er.
»Mit was für einer Ermittlung?«
Tomas spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss, und war froh, dass Klara ihn nicht sehen konnte.
»Das darf ich dir nicht sagen. Geheimhaltungspflicht.«
Klara schwieg. Tomas war klar, dass sie sich damit nicht zufriedengab.
»Aber der Name klingt bosnisch.«
»Schweden ist voll von Bosniern. Sie verüben auch Straftaten. Das weißt du. Du arbeitest beim Sozialdienst. Du solltest am besten wissen, wie schlimm ihre Lage ist.«
»Ja, das stimmt.«
Im Hintergrund rief Ebba, dass sie den Film weitergucken wollte.
»Sehen wir uns am Freitag?«, fragte Klara.
»Ich weiß nicht, ob ich mich loseisen kann. Ich melde mich.«
Klara murmelte ein rasches Tschüss und legte auf. Tomas blieb eine geraume Weile mit dem Hörer in der Hand stehen, bevor er ihn langsam einhängte.