Freitag, 10. Juni 1994

17

Am frühen Freitagmorgen stiegen Vera und Sigge im Malmöer Hauptbahnhof aus dem Zug. Das hohe Gewölbedach konservierte die kalten Nachttemperaturen. Erst ganz allmählich wärmte eine blasse Morgensonne die Stahlkonstruktionen auf.

»Ich bin müde«, quengelte Sigge.

Er trug blaue Jeans, dazu einen gelben Pullover und seine schwarze Jurassic-Park-Kappe. Der Sechsjährige hatte versucht, die ganze Nacht wach zu bleiben. Er hatte auf Veras Schoß gelegen und die vor dem Fenster vorbeiziehende Landschaft im Auge behalten, weil er, wie er verkündete, die Sonne zuerst unter- und dann wieder aufgehen sehen wollte, aber schon um ein Uhr waren leise Schnarchlaute aus seinem Mund gekommen.

»Du wirst ganz schnell wach. Komm, wir suchen uns ein Taxi.«

Als sie auf den Bahnhofsvorplatz hinauskamen, fröstelte Vera, obwohl es in der Sonne bereits warm war. Die offene Fläche missfiel ihr. Misstrauisch musterte sie jede Person, die sich ihnen näherte. Die ganze Nacht über hatte sie ein diffuses Gefühl von Angst verspürt. Sie waren zurück in der Stadt, in der Jonny lebte. Er konnte jederzeit überall auftauchen. Ihr zerebrales Alarmsystem war jeden Moment bereit anzuspringen.

»Was willst du frühstücken?«

»Falafel«, sagte Sigge.

»Ich glaube, das Orient House hat schon geöffnet.«


Zwei Stunden später zerrte Vera einen gereizten Sechsjährigen durch das Malmöer Wohnviertel Rosengård.

»Das ist kein bisschen spannend«, murrte Sigge.

»Bald kannst du spielen.«

Inmitten einer Asphaltwüste wuchsen lange Hochhausreihen aus dem Boden. Triste Betonfassaden strebten im Schatten des segelähnlichen Gebäudes, das vor ihnen aufragte, der Sonne entgegen. Im Volksmund »Chinesische Mauer« genannt, erstreckte sich die Betonburg einen halben Kilometer in die Breite und neun Stockwerke in die Höhe. Es war ein grotesker Bauklotz. Wie quadratische Käfige reihten sich die Wohnungen, deren Bewohner von der Kommune dort hineingepfercht worden waren, um sie irgendwo unterzubringen, aneinander.

Nach dem Falafelfrühstück hatte Vera die Flüchtlingsunterkunft aufgesucht, in der Mersiha Selimovic im Frühjahr gewohnt hatte, dort aber die Auskunft erhalten, dass Mersiha inzwischen in eine eigene Wohnung in Rosengård, genauer in eine Wohnung in der Chinesischen Mauer, gezogen war.

Als Vera und Sigge auf Mersiha Selimovic’ Hauseingang zugingen, stürmten ein paar Kinder aus der Tür und schwärmten über den asphaltierten Vorplatz. Sigges Miene hellte sich schlagartig auf.

»Willst du mit den Kindern spielen?«, fragte Vera.

»Ja, darf ich?«

»Aber bleib hier vorne auf dem Platz, damit ich dich vom Balkon aus sehen kann.«

Als das nächste Kind aus dem Haus kam, nutzte Vera die Gelegenheit, hineinzuschlüpfen. Im Treppenhaus roch es nach altem Bratfett. Auf der Tafel mit den Mietparteien suchte sie Mersiha Selimovic’ Namen. Quer durch das Glas verlief ein Sprung. An die Wand daneben hatte jemand einen Penis gemalt.

Vera fand Mersihas Wohnung und begann den Treppenaufstieg. Außer Atem kam sie schließlich im siebten Stock an. Das schwarze T-Shirt klebte ihr am Rücken, als sie an der Wohnungstür klingelte. Die Fahrt hierher war ein Schuss ins Blaue gewesen. Wenn Mersiha Selimovic Kristian Wolf nicht als Täter identifizierte, würde Anita an die Decke gehen und ihr vorwerfen, Ressourcen der Zeitung für Kriminalfälle aus dem Fenster zu werfen, die für die Leser Schnee von gestern waren.

Mersiha kam augenblicklich zur Tür. Sie sah fast genauso aus, wie Vera sie in Erinnerung hatte – halblange, dunkle Haare und ein locker sitzendes Kleid –, aber sie war nicht mehr so blass und ausgezehrt wie bei ihrer letzten Begegnung.

»Hallo … Vera. Das war doch Ihr Name?«

»Hallo, Mersiha. Darf ich kurz reinkommen?«

»Natürlich, gewiss doch. Kommen Sie rein.«

»Wie gut Sie Schwedisch sprechen.«

Mersiha lächelte verlegen, trat zur Seite und ließ Vera herein. Die Wohnung war eng und spärlich möbliert. Die Raufasertapeten waren verblichen und rissig. Ein Überbleibsel aus den Siebzigern, als der Gebäudekomplex gebaut worden war. An den Wänden hingen Bilder in zusammengewürfelten Rahmen, die vermutlich vom Flohmarkt stammten. Vera ging zu einer Zeichnung, auf der eine zerstörte Steinbrücke zu sehen war.

»Stari most«, sagte Mersiha.

»Was ist das?«

»Eine Brücke in meiner Heimatstadt Mostar. Über vierhundert Jahre hat sie den bosnischen und den kroatischen Teil der Stadt miteinander verbunden. Muslime und Christen. Bis vor einem Jahr. Da wurde sie gesprengt.«

Mersiha schien nach Worten zu suchen. Vera kam die Geschichte vage bekannt vor. Hatte sie davon in den Fernsehnachrichten gehört?

»Wir waren die Stadt in Jugoslawien, in der die meisten interreligiösen Ehen zwischen Christen und Muslimen geschlossen wurden. Das war sehr gut. Jetzt haben wir nicht einmal mehr eine Brücke, die unsere beiden Völker vereint.«

Mersiha schüttelte den Kopf und fuhr mit härterer Stimme fort.

»Ich weiß nicht, ob sie wirklich so aussieht. Ich bin geflohen, bevor die Brücke gesprengt wurde. Ich habe sie gemalt, wie ich sie mir vorstelle.«

Mersiha kochte Wasser und machte ihnen in der engen Küche zwei Tassen Pulverkaffee, die sie mit Zucker und einer Dose Kaffeeweißer auf den Balkontisch stellte.

Vera blickte auf die Betonsiedlung herab. Tief unter ihr spielte Sigge mit ein paar Kindern Fangen. Ihr fröhliches Lachen klang nicht bis in den siebten Stock hinauf, trotzdem konnte Vera fast spüren, wie Sigges Herz in seiner Brust vibrierte, wie er von dem Gerenne außer Atem kam und wie aufgekratzt er war, neue Freunde gefunden zu haben.

»Haben die Ermittlungen seit unserem Interview etwas Neues ergeben?«, fragte sie.

Mersiha rührte einen gehäuften Löffel des Milchpulvers in ihre Tasse. Der Kaffee veränderte seine Farbe von Schwarz zu Hellbraun.

»Nein. Die Polizei hat nichts gesagt.«

Vera nahm einen Umschlag aus ihrer Handtasche.

»Ich würde Ihnen gerne ein Foto zeigen.«

Sie reichte Mersiha Kristian Wolfs Passbild.

»Ich habe keine Beweise. Aber es könnte sein, dass der Täter mehrere Frauen vergewaltigt hat. Erkennen Sie diesen Mann?«

Gespannt beobachtete Vera Mersihas grüne Augen in der Hoffnung, ein Zeichen des Wiedererkennens in ihnen zu entdecken. Doch Mersiha warf nur einen flüchtigen Blick auf das Foto und gab es ihr zurück.

»Nein.«

»Weil Sie sich nicht an das Aussehen des Mannes erinnern?«

»Nein. Er ist es nicht.«

Sämtliche Energie wich aus Veras Körper.

Die Zugfahrt nach Malmö war ein Wagnis gewesen, aber als sie den Entschluss gestern Abend gefasst hatte, hatte sie noch auf ganzer Linie gewinnen können. Jetzt war sie geschlagen. Sie wünschte sich inständig, sie könnte sich von hier wegbeamen.

Es war, als würde der ganze Stress der vergangenen Woche urplötzlich geballt über sie hereinbrechen. Der Umzug, Jonny, die Motorradrocker. Sie konnte sich nicht dagegen wehren, musste sich beherrschen, nicht aufzuspringen und davonzulaufen.

»Warten Sie kurz.« Mersiha stand auf und ging in die Wohnung.

Vera hörte, wie sie in einer Schublade kramte. Als sie wieder auf den Balkon hinauskam, hielt sie einen Papierbogen in der Hand.

»Hier«, sagte sie.

Vera nahm ihr das Blatt ab und betrachtete es. Eine Bleistiftzeichnung eines Männergesichts.

»Das ist er«, sagte Mersiha.

Veras Puls schlug schneller, während sie den Mann betrachtete.

»Ich habe ihn ein paar Tage danach gezeichnet, um nicht zu vergessen, wie er aussah. Aber das war nach unserem Gespräch. Sonst hätte ich Ihnen das Bild schon damals gezeigt.«

»Hat die Polizei die Zeichnung gesehen?«

»Ja, aber es hat sie nicht interessiert. Ich habe gesagt, dass ich in Sarajevo auf die Kunsthochschule gegangen bin. Aber mein Schwedisch war damals so schlecht, dass ich nicht weiß, ob sie mich verstanden haben. Jedenfalls haben sie sich nicht weiter damit befasst und die Zeichnung hiergelassen.«

»Das ist ein Scherz, oder?«

Vera studierte das Bild erneut.

»War er dick?«, fragte sie.

»Nein.«

»Dem Gesicht nach zu urteilen, könnte man das denken.«

»Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Sein Gesicht war irgendwie aufgedunsen, und sehr bleich. Er sah aus, als hätte er eine Maske auf, aber das hatte er nicht. Vielleicht war er krank.«

Vera begegnete Mersihas Blick. Sie spürten beide, dass etwas Entscheidendes geschehen war.

»Das hier ist sehr gut, Mersiha«, sagte sie.

Vielleicht war die Fahrt nach Malmö doch nicht völlig umsonst gewesen. Kristian Wolf hatte sein Geständnis im Märsta-Mord widerrufen, und es gab keinerlei technische Beweise. Die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Fällen bestanden nach wie vor. Konnte der Mann, den Mersiha gezeichnet hatte, beide Taten begangen haben?

»Sie können die Zeichnung mitnehmen«, sagte Mersiha.

18

Tomas fuhr von der Autobahn ab und passierte die Ortseinfahrt von Hallstahammar. Eine schwere graue Wolkendecke hing am Himmel. Die düstere Binnenlandschaft von Västmanland war genauso trostlos, wie er sie aus seiner Jugend in Erinnerung hatte.

Von einer Sachbearbeiterin der Einwanderungsbehörde hatte er die völlig unwahrscheinliche Auskunft erhalten, dass Azra in der Flüchtlingsunterkunft in seinem Heimatort wohnte, nur eine gute Autostunde von Stockholm entfernt.

Gestern hatte er den ganzen Tag lang mit sich selbst gerungen und am Ende beschlossen, nach Hallstahammar zu fahren, aber nicht mit Azra zu sprechen. Sie zu sehen, musste genügen. Danach würde er zurückfahren und nie wieder an sie denken.

Von Zeit zu Zeit tauchten auf den öden, vertrauten Straßen bekannte Gesichter aus seiner Kindheit und Jugend auf, wie lebendige Geister. Seit damals war die Einwohnerzahl von Hallstahammar geschrumpft. In der Blütezeit der Stadt, Anfang der Siebzigerjahre, hatte der Industriestandort knapp vierzehntausend Einwohner gehabt. Heute waren es fast dreitausend weniger.

Tomas bremste, hielt Ausschau nach einem Parkplatz. Er manövrierte den Volvo schließlich auf den Gehweg, von wo aus er den Eingang der Flüchtlingsunterkunft im Blick hatte, und schaltete den Motor aus. Das Radio ließ er an, drehte es aber leiser.

In Eslöv ist gestern Nacht eine Flüchtlingsunterkunft abgebrannt. Die Bewohner wurden in ein Schulgebäude evakuiert. Die Polizei geht davon aus, dass der Brand vorsätzlich gelegt wurde.

Tomas kurbelte das Fenster herunter. Die Luft war warm und schwül.

Zum Sport. Noch zehn Tage bis zum WM-Auftaktmatch der schwedischen Nationalmannschaft. Gegner ist Kamerun, eine Fußballnation, die sich vor vier Jahren bei der WM in Italien in die Herzen der Welt gespielt hat. Damals wurde die Mannschaft von Kapitän Roger Milla angeführt. Milla, der inzwischen zweiundvierzig Jahre alt ist, wird auch …

Tomas schaltete das Radio aus.

Wäre er in Hallstahammar geblieben, wäre es nicht ausgeschlossen, dass seine Brüder und er das Gebäude vor ihm in Brand gesteckt hätten, das wusste er. Sie hätten es ganz bestimmt in Erwägung gezogen. Stattdessen war er inzwischen seit fast zehn Jahren Polizist. Das hatte er Zingo zu verdanken, weil er in Zingo am Ende so etwas wie einen Vater gefunden hatte. Als Tomas nach sechs Monaten in Bosnien nach Hause gekommen war, hatten die Kinder ihn kaum wiedererkannt. Sein schlimmster Albtraum war, dass Alexander und Ebba wie er und seine Brüder werden könnten.

Klara ist die Einzige, die das verhindern kann, dachte er. Ich bin verloren. Ich mache denselben Fehler, den Männer seit jeher begehen.

Er zündete sich eine Zigarette an, rauchte mit dem Arm auf die Kante des heruntergelassenen Fensters gestützt und blies den Rauch nach draußen, damit er sich nicht in den Plüschbezügen festsetzte. Dunkelhaarige Menschen, Kinder und Erwachsene, kamen aus der Flüchtlingsunterkunft oder gingen hinein, doch Azra war nirgends zu sehen.

Eine Stunde verstrich.

Tomas rief die wenigen, aber deutlichen Erinnerungen wach, die Azra und er gemeinsam hatten. So wie die meisten seiner Erinnerungen von Reisen stammten, weil fernab der altbekannten Kulissen der Heimat die Sinne geschärft sind, leuchteten die Stunden mit Azra in funkelnden Farben vor einem dunkelgrauen Hintergrund. Weil um sie herum Krieg und Hoffnungslosigkeit geherrscht hatten? Hatte der sie umgebende Tod sie lebendiger gemacht? Sie waren gezwungen gewesen, ihre gemeinsamen Stunden auszumalen. Laut zu schreien, um nicht die Stille der Toten zu hören. Würden sie in Frieden und Sicherheit dasselbe empfinden – Leid und Gewalt Hunderte Meilen entfernt?

Ich sollte sofort von hier verschwinden, dachte Tomas. Bevor ich die kostbarsten Erinnerungen beflecke, die ich habe.

In dem Moment, als er die Hand auf den Schaltknüppel legte, bog Azra in Begleitung eines Mannes um die Ecke des Gebäudes. Tomas beugte sich vor. Starrte. Azra war genauso schön und voller Leben, wie er sie in Erinnerung hatte. Die dunkelbraunen Haare fielen ihr über die Schultern, dick und ungezähmt. Sie ging kerzengerade, wodurch sie größer wirkte, als sie war. Sie hielt eine Einkaufstüte in der Hand. Es war surreal, sie hier, auf den Straßen seiner Kindheit, zu sehen. Er wollte die Tür aufreißen, auf sie zulaufen und ihren Namen rufen. Stattdessen klammerte er sich krampfhaft am Lenkrad fest. Azra und ihr Begleiter verschwanden in der Flüchtlingsunterkunft, und Tomas lehnte den Kopf an die Nackenstütze und starrte an die Wagendecke.

Erst da begann er, über den Mann nachzudenken. Von ihrem angestammten Platz hinter dem Brustbein breitete sich die Eifersucht in ihm aus, verkrampfte seine Glieder.

Nach einer Weile ließ er den Motor an, schaltete in den ersten Gang, fand den Schleifpunkt der Kupplung und fuhr langsam davon. Vielleicht ist es so am besten, dachte er. So werde ich nicht an den Rand des Abgrunds gelockt.

So konnte er versuchen, seine Familie zu kitten und sie von ganzem Herzen zu lieben, erneut. Und anfangen würde er bei Peter, der noch zu Hause bei ihrer Mutter wohnte, nur ein paar Minuten entfernt.

19

Micael Bratt drängte sich mit Ellbogeneinsatz an die Spitze der Schlange, die vor dem Empfangstresen des Hotels wartete.

»Ist Post für mich da?«, fragte er.

Der junge Rezeptionist in einem zu großen Jackett wandte sich zu ihm um. Micael trommelte mit den Fingern ungeduldig auf den Tresen, drehte den Kopf nach rechts und blickte sehnsüchtig zu der lauten Hotelbar. Der erste Drehtag, und er hatte die Schnauze schon voll, von seiner Rolle, seinen Mit-Schauspielern, von Falun. Heute Abend würde er sich ordentlich die Kante geben. Der Rezeptionist übergab ihm mit zitternder Hand einen Stapel Briefe, Micael nahm sie und ging in Richtung Fahrstuhl davon.

Doch dann machte er noch einmal kehrt.

»Wo geht man hin, wenn man sich in diesem Kuhdorf ein bisschen amüsieren möchte? Welches ist der beste Nachtclub in diesem Kaff?«, fragte er.

»Das Garbo.«

»Wo liegt das?«

»Am Hälsingtorget.«

Auf seinem Zimmer machte Micael es sich auf dem Bett bequem und ging zerstreut die Post durch, die ihm von Stockholm nachgesandt worden war. Ein paar Rechnungen, seine Tochter Viktoria hatte geschrieben. Er las die ersten Zeilen, dann legte er den Brief aus der Hand. Fanpost. Autogrammjäger aus ganz Schweden. Willkürlich öffnete er einen der Umschläge. Der Fanbrief kam von einer Frau, der er offenbar im März in Malmö begegnet war, einer Jeanette Erixon. Sie bedankte sich für den gemeinsamen Abend, fragte, ob er an einem neuerlichen Treffen interessiert sei, und bot an, später im Sommer nach Stockholm zu kommen. In dem Umschlag steckte, neben einem adressierten und frankierten Rückumschlag, ein Foto von ihr. Micael betrachtete das Gesicht, ohne die Frau auch nur ansatzweise wiederzuerkennen. Er grinste. Sie war hübsch, verdammt hübsch.

Klar werde ich noch mal ein bisschen Spaß mit dir haben, dachte er. Es ist doch ein Jammer, gar eine Schande, dass ich mich nicht an das erste Mal erinnern kann.

Er streckte sich nach Stift und Papier auf dem Nachttisch.

Jeanette, ich lade dich zu meinem nächsten Dreh ein.

Darunter schrieb er seine Telefonnummer.

Dann faltete er das Blatt zusammen, schob die kurze Nachricht in den mitgeschickten Rückumschlag und wollte die Lasche gerade mit der Zunge anfeuchten, als er mitten in der Bewegung erstarrte. Erinnerungen blitzten auf. Er verzog das Gesicht, schüttelte den Kopf.

»Scheiße, nein.«

Mühsam rappelte er sich vom Bett auf, ging ins Bad, drehte den Wasserhahn auf, befeuchtete den Zeigefinger, fuhr damit über den Klebestreifen und verschloss das Kuvert. Dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr, eine Rolex, die er von seinem Agenten bekommen hatte. Erst halb sechs. Er beschloss, noch ein Stündchen zu schlafen, bevor er runter in die Bar und später in diesen Nachtclub gehen würde.


Als er das Rückensteak aufgegessen hatte, das er an der Hotelbar bestellt hatte, legte Micael das Besteck beiseite. An der Bar herrschte großes Gedränge. Man hatte ihm einen Tisch ein Stück vom Tresen entfernt zugewiesen, wo er jetzt mit einem Bier vor sich saß. Er genoss das Alleinsein. Mit den Jahren waren seine Saufkumpane immer weniger geworden. Allein fühlte er sich am wohlsten, auf jedweder Ebene des Lebens. Hin und wieder gab es Frauen, mit denen er es ein paar Tage, seltene Male Wochen, aushielt, bevor er ihnen den Laufpass gab.

Immer wieder wanderten neugierige Blicke zu ihm herüber. Micael ignorierte sie. Als er einen der Komparsen vom heutigen Dreh entdeckte, stieg Wut in ihm auf. Er hatte ausdrücklich angeordnet, dass die Komparsen nicht im selben Hotel untergebracht werden sollten wie er. Sonst würde er keine Ruhe haben. Morgen würde er seinen Agenten Bengt J. Lindwall anrufen. Bengt musste diesen Schlamassel beheben. Der Komparse glotzte ihn von der Bar aus ungeniert an. Micael erinnerte sich vage daran, ihn auf der Schauspielschule gesehen zu haben. Einer dieser gescheiterten Kleindarsteller, die für ein paar Sekunden TV-Präsenz durchs ganze Land tingelten. Bedauernswerter Teufel, dachte Micael und wandte den Blick ab, damit der pathetische Loser nicht auf die Idee kam, an seinen Tisch zu kommen und mit ihm zu plaudern.

Er dachte an die Frau, die er im Zug getroffen hatte, Veronica. Wie erwartet hatte sie Mittwochabend um acht Uhr an seine Zimmertür geklopft. Sie hatten einen Drink in der Hotelbar genommen, doch anstatt hinterher hoch auf Micaels Zimmer zu gehen, hatte sie vorgeschlagen, dass sie zu ihr nach Hause gingen. Ihre Unverblümtheit hatte ihm wider Willen imponiert. Dass sie nicht wie die anderen Gänse war, sondern selbstsicher und intelligent und unterhaltsam. Eine alleinstehende, aber starke Frau, die es unter anderen Umständen weit hätte bringen können. Er hatte einen sehr netten Abend gehabt, viel gelacht. Aus irgendeinem Grund hatte es ihn enttäuscht, dass sie nicht verheiratet war. Es reizte ihn, diesen Hausfrauen eine bleibende Erinnerung zu verschaffen, zu wissen, dass diese Stunden, die für ihn bedeutungslos waren, auf ewig wie ein brennendes Geheimnis in ihren eingefahrenen Leben aufglimmen würden.

Veronica arbeitete als Kindergärtnerin und war alleinerziehende Mutter eines neunjährigen Sohnes, den er im Zug gesehen hatte. Die schäbige kleine Wohnung, in einem der Außenbezirke der Stadt, hatte ihn an seine eigene Kindheit mit einer alleinerziehenden Mutter in Gustavsberg erinnert. Der Sohn hatte geschlafen, als sie nach Hause gekommen waren, im Schein eines großen Aquariums mit großen schimmernden Fischschatten. Die Dreizimmerwohnung war unordentlich gewesen, aber nicht unsauber. Veronica hatte ihn in ihr Schlafzimmer gezogen, ihm einen letzten Whisky serviert, und dann hatten sie miteinander geschlafen. Bei Tagesanbruch war er zu Fuß zurück ins Hotel gegangen, begleitet vom Gezwitscher der Vögel und mit einem Lächeln auf den Lippen.

Micael beschloss, einen Ortswechsel vorzunehmen, bevor es Zeit für den Nachtclub wurde. Er wollte seine Ruhe haben.

»Schreiben Sie das auf mein Zimmer«, wies er eine vorbeieilende Kellnerin an.

Dann wischte er sich den Mund mit der Stoffserviette ab, warf sie auf seinen Teller, stand auf und ging durch die Lobby hinaus auf die Straße. Der Abend war hell und warm. Er wandte sich in Richtung Fluss und schlenderte die mit Kopfsteinen gepflasterte Gasse zum Faluån hinunter.

20

Das Schloss der Eingangstür zum Haus seiner Mutter war kaputt, also zog Tomas die Tür auf, betrat das Treppenhaus und stieg die Stufen hinauf in den ersten Stock. Aus der Wohnung drang laute Rockmusik, übertönt von einer brüllenden Männerstimme. Wahrscheinlich ein Freund seiner Mutter. Tomas klingelte, hörte aber keinen Ton. Er hämmerte einige Male gegen die Tür, dann drückte er die Klinke nach unten und ging hinein. Die Musik wurde lauter, und ein vertrauter, abgestandener Geruch schlug ihm entgegen. Vor der Garderobe lag ein heruntergefallener Kleiderbügel auf dem Fußboden.

»Hallo?«, rief er, aber seine Stimme ging in der Musik unter.

Tomas ging den engen Flur entlang. Im Wohnzimmer hockte ein Mann mit nacktem Oberkörper auf dem Sofa, die langen braunen Haare zum Pferdeschwanz zurückgebunden. Tomas trat zur Stereoanlage und schaltete sie aus. Der Mann sprang auf die Füße.

»Wer zum Teufel bist du?«, fragte er und glotzte Tomas an.

Sein Gesicht war rötlich aufgedunsen, sein Blick gläsern vom Alkohol. Der schwabbelige gebräunte Oberkörper glänzte vor Schweiß. Stumm ging Tomas zum Schlafzimmer seiner Mutter und sah hinein. Es war leer. Das Bett war ungemacht, das Laken schmuddelig und verdreht, sodass die gelbe Matratze zu sehen war.

»Wo ist sie?«

»Wer zum Teufel bist du?«, brüllte der Mann. »Was willst du hier?«

Es war, als ob die Zeit stillgestanden hätte. Tomas war wieder vierzehn Jahre alt. Alles, was er hinter sich gelassen hatte, war hier, in dieser versifften, trostlosen Wohnung. Er musste hier raus.

»Was ist hier los? Warum …?«

Die Stimme seiner Mutter.

Durch die geöffnete Küchentür sah er ihre gebeugte Silhouette im schwachen Gegenlicht des Fensters. In seiner Kindheit hatte sie immer gesagt, er sei von ihren Söhnen derjenige, der ihr am meisten ähnelte. Er hatte nie gewusst, ob sie es liebevoll oder abschätzig meinte.

»Tomas?«

Sie kam einen Schritt auf ihn zu, hielt dann aber inne. Ihr rechtes Auge wurde von einem frischen Veilchen eingerahmt. Ältere, verblasste Blutergüsse in variierenden Farben und Formen zeichneten sich auf ihren Armen und Oberschenkeln ab.

Tomas blickte den Mann an und ging auf ihn zu. Dessen große, teigige Hände waren mit Schürfwunden übersät. In seinem Kopf hörte Tomas das Geräusch, mit dem sie den Körper seiner Mutter trafen, ihre erstickten Schmerzensschreie. Er wusste, dass sie unterschiedliche Schmerzenslaute von sich gab, je nachdem, ob die Männer mit flacher Hand oder geballter Faust zuschlugen. Und ob sie nüchtern oder vom Alkohol betäubt war. Die dumpfen Schläge, mit denen Fäuste die Weichteile seiner Mutter malträtierten, hallten in seinem Kopf wider.

Alles kam zurück. Peters verängstigte Augen, die unter dem Bett hervorschauten, wo er sich immer versteckt hatte. Tomas, der ihn ins Bett gehoben und sich neben ihn gelegt hatte, in die kalte Pisse, und ihn in den Arm genommen hatte. Kristian auf dem Rücken in seiner Koje, mit angeknipster Leselampe, die Kiefer aufeinandergepresst, die Musik, die aus den Kopfhörern seines geklauten Walkmans wummerte, während er ein Comicheft gelesen hatte.

»Du verdammtes Schwein!«

»Nein, Tomas. Nein.«

Die Stimme seiner Mutter hinter ihm klang flehentlich. Aber es war zu spät. Tomas befand sich längst in einer Vorwärtsbewegung.

Er schwang seine rechte Hand in einem geraden Haken und traf den Mann über der Augenbraue. Der Mann fiel rücklings zu Boden. Seine Augenbraue war aufgeplatzt, und Blut strömte über seine Wange. Tomas schlug erneut zu, auf die Nase. Sie brach unter seiner Faust. Seine Mutter schrie gellend. Tomas bückte sich, packte den Mann am Pferdeschwanz und zerrte ihn über den Wohnzimmerfußboden. Der Typ wimmerte hilflos.

Seine Mutter lief ihm nach.

»Nein, das darfst du nicht, Tomas. Lass ihn los. Tu ihm nicht weh.«

Tomas trat den Kleiderbügel beiseite und riss die Wohnungstür auf. Er packte den Mann abermals bei den Haaren und zerrte ihn über die Schwelle hinaus ins Treppenhaus. Die Schreie seiner Mutter hallten von den Betonwänden wider. Tomas ließ den Mann los, der mit offenem Mund liegen blieb und mit leerem Blick zur Decke starrte, und zog die Wohnungstür mit einem Knall zu und schloss sie ab. Seine Mutter versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen, aber er umarmte sie und hielt sie fest. Sie widersetzte sich und wollte an ihm vorbei. Tomas schloss die Augen und hielt sanft dagegen.

Am Ende gab sie auf.

Sie sank auf einen Jackenhaufen, den Rücken an die Flurwand gelehnt, vergrub das Gesicht in den Händen und schluchzte. Tomas ging vor ihr in die Hocke. Seine rechte Hand pochte schmerzhaft. Seine Mutter kramte in einer der Jacken, fummelte fahrig eine Schachtel Zigaretten hervor und steckte sich eine an. Tomas streckte die Hand aus, seine Mutter reichte die Zigarette an ihn weiter und zündete sich eine neue an.

»Wo ist Peter?«, fragte Tomas.

»Ich habe ihn seit Tagen nicht gesehen. Du weißt, wie er ist. Wie ihr drei seid. Ihr kommt und geht, und ich erfahre nie etwas.«

Die Klinke der Wohnungstür wurde vergeblich nach unten gedrückt. Tomas war klar, dass der Mann auf die Beine gekommen war. Mit angespanntem Körper wartete er, bis sich Schritte entfernten und unten im Erdgeschoss die Eingangstür geöffnet wurde und mit einem vernehmlichen Knall zuschlug. Er sah seine Mutter an.

»Ich liebe dich, Mama. Deshalb habe ich getan, was ich getan habe. Ich halte den Gedanken nicht aus, dass die Typen dich schlagen. Dass es geschieht. Deine Hilflosigkeit.«

Sie nickte langsam. Blies den Rauch aus. Seine Mutter hatte nie gesagt, dass sie einen ihrer Söhne liebte. Aber Tomas war überzeugt, dass sie es tat, auf ihre Art. Ihm wurde bewusst, dass sie älter aussah als fünfzig. Bei Kristians Geburt war sie erst sechzehn gewesen.

Ihm kam der Gedanke, dass die Frauen der Arbeiterklasse alterten, ohne jemals jung gewesen zu sein.

»Ich bin einsam«, sagte sie.

Tomas nickte.

»So wie ich dich kenne, wirst du es nicht lange bleiben. Ich würde mich freuen, wenn du die Kinder und mich mal für ein Wochenende in Stockholm besuchen kommen würdest. Die Kinder würden sich auch freuen. Sie mögen ihre Oma.«

Seine Mutter lächelte dünn.

»Aber Klara mag mich nicht. Sie verachtet mich.«

Tomas antwortete nicht.

Sie rauchten ihre Zigaretten auf, dann stützte sich Tomas auf dem Fußboden ab und stand auf. Er gab seiner Mutter die Hand und half ihr hoch. Bevor er die Wohnungstür aufschloss und hinaus ins Treppenhaus ging, umarmte er sie. Durch die Kleidung spürte er ihre Rippen an seinem Bauch.

»Wir sehen uns, Mama. Ruf an, wenn etwas ist.«

Sie winkte abwesend mit ihrer Zigarettenhand.

21

Es ging auf die Mittagszeit zu, als Vera an die Tür von Casper Segers Reihenhaus in Oxie klopfte. Er öffnete in Jeans, weißem T-Shirt und mit einem Geschirrhandtuch in der Hand.

»Schön, euch zu sehen«, sagte er, hob Sigge hoch, strubbelte ihm durch die Haare und setzte ihn mit seinen kräftigen, braun gebrannten Armen wieder ab.

»Sofia ist oben in ihrem Zimmer. Du kannst zu ihr hochgehen.«

Casper und Vera kannten sich durch Jonny. Casper hatte im Tod von Sigges Mutter ermittelt und der schwedischen Bahn gründlich auf den Zahn gefühlt, die es versäumt hatte, die defekte Bahnschranke zu überprüfen, die Sigges Mutter das Leben gekostet hatte. Doch am Ende war es zu keiner Anklageerhebung gekommen.

Casper war in Malmö Veras bester Polizeiinformant gewesen, und mit der Zeit hatte sich zwischen ihnen eine Art Freundschaft entwickelt.

Sigge polterte die Treppe hoch ins Obergeschoss.

»Ich weiß nicht, was ich mit ihm machen soll«, sagte Vera.

»Komm rein, dann reden wir.«

Casper ging Vera voraus in den Garten des Hauses, und sie setzten sich im Schatten einer verblühten Fliederhecke auf die Terrasse. Er nahm zwei Bierflaschen aus einer Kühltasche und stellte sie auf den Terrassentisch, auf dem eine gelb gemusterte Wachstuchtischdecke lag.

»Schön hast du’s hier«, sagte Vera.

Casper machte eine ausholende Bewegung Richtung Garten.

»Ich weiß nicht. Ich habe diesen schwedischen Ausdruck ›zwischen Kirsche und Flieder‹ nie verstanden. Sie blühen für fünfzehn Minuten, wenn man bei der Arbeit ist. Hat man endlich Urlaub, sind sie welk. Und dann sitzt man hier und wird daran erinnert, dass der Sommer bald vorbei ist. Das ist traurig.«

Vera lächelte mitfühlend.

»Aber die Wachstuchtischdecke ist hübsch«, scherzte sie.

»Sie ist scheußlich. Was ist nur aus uns geworden?« Casper lachte und schob ihr die Akte zu, die auf dem Tisch lag.

»Hier ist das, worum du gebeten hast.«

Vera nahm die braune Mappe in die Hand. Es war die Fallakte zu Mersihas Vergewaltigung.

»Sie ist dünn«, sagte Casper.

Er schüttelte den Kopf und fuhr fort.

»Die Ermittlung, meine ich. Verdammt dünn. Es treibt einem die Schamesröte ins Gesicht, wenn man die Akte durchblättert. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, die Kollegen wollten den Dreckskerl davonkommen lassen. Aber es ist, wie es ist. Die Chefs setzen Prioritäten, und wir ordnen uns der Obrigkeit unter.«

»Kann ich die Akte mitnehmen?«

»Klar.«

Vera trank einen Schluck Bier.

»Ich habe momentan kein Geld, um dich zu bezahlen«, sagte sie.

»Darüber wollte ich mit dir reden«, erwiderte Casper.

Seine Miene nahm einen gequälten Zug an.

»Die Zeitung hat mich angerufen, um die Auszahlungen zu überprüfen, die du an mich veranlasst hast. Irgendjemand aus der Buchhaltung. Ich weiß nicht mehr, wie die Frau hieß. Angeblich wollte sie ausrechnen, welchen Betrag sie ans Finanzamt abführen muss. Sie meinte, es sei eine ganz normale Revision, ich hatte aber eher den Eindruck, dass es eine interne Ermittlung war.«

Vera schluckte krampfhaft. Die Kohlensäure wollte nicht ihre Kehle hinunter.

»Wann war das?«

»Vor ein paar Wochen.«

Gerüchte über Reporter, die ihre Zeitungen als private Geldautomaten benutzten, kursierten seit Jahren. Casper hatte sicher davon gehört. Aber es war etwas ganz anderes, wenn er erfuhr, dass Vera zu den Journalisten gehörte, die ihre Informanten um Honorare prellten. Dann würde er den Respekt vor ihr verlieren.

»Was hast du gesagt?«

»Dass alles korrekt wäre, natürlich«, sagte Casper.

Er lächelte.

»Dann habe ich zum Taschenrechner gegriffen und ausgerechnet, um wie viel du mich übervorteilt hast. Und da wurde mir klar, dass ich nur ungefähr die Hälfte von dem Betrag bekommen habe, den du bei der Zeitung angegeben hast. Ihr blättert für Tipps wirklich eine ordentliche Stange Geld hin. Hätte ich das gewusst, müsste ich meinen Terrassentisch nicht mit diesem scheußlichen Fetzen schützen.« Casper klopfte auf die Wachstuchtischdecke.

»Oder in Oxie wohnen«, fuhr er fort.

Vera senkte den Blick, spürte, wie die Röte ihren Hals und ihre Wangen hinaufstieg. Obwohl sie ihn hintergangen hatte, hatte Casper gelogen, um ihre Haut zu retten.

»Danke«, murmelte sie.

Casper trank sein Bier aus und griff sich eine neue Flasche aus der Kühltasche.

»Und dann hat Jonny angerufen«, fuhr er fort.

Er öffnete die Flasche mit der Kante seiner Kautabakdose.

»Ich hab ihm gesagt, ich hätte nichts von dir gehört. Aber Jonny ist nicht der Typ, dem man grundlos Lügenmärchen auftischt. Was sage ich, wenn er wieder fragt?«

»Sag ihm, du wüsstest nicht, wo ich bin. Dass ich dir nicht erzählt habe, wo ich wohne. Und das habe ich auch nicht.«

»Es war richtig von dir, den Jungen mitzunehmen«, sagte Casper.

Vera sah ihn verblüfft an. Casper gehörte zu den Polizisten, die Vertrauen in den Staat und seine Institutionen hatten.

»Als du angerufen hast, habe ich das Gegenteil gesagt, ich weiß. Aber ich habe darüber nachgedacht. Ich habe gesehen, was mit Kindern passiert, die in die Mühlen des Systems geraten. Jedes zweite scheint entweder im Gefängnis oder auf der Straße zu landen. Sofern sie sich nicht vorher das Leben nehmen.«

»Was soll ich deiner Meinung nach tun?«

»Jonny wird in den Knast wandern. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir ihn wegen irgendwas drankriegen. Dann hast du deine Chance. Wenn du das Jugendamt informierst, wird keiner seine Story glauben. Wenn er behauptet, du hättest den Jungen entführt, sagst du, du hättest Sigge beschützen wollen, als Jonny auf Drogen war. Du bist die einzige feste Bezugsperson des Jungen. Die Sache wird sich regeln lassen.«

Vera fiel Cornelia Bergman ein, die beim Jugendamt in Rosengård arbeitete. Sie hatte die Sozialarbeiterin einmal wegen eines Artikels interviewt, und sie hatten einen guten Draht zueinander aufgebaut. Vielleicht konnte Cornelia Bergman ihr helfen, wenn es so weit war.

»Aber sollte Sigge nicht bei seinem Vater sein? Ich habe das Gefühl, ihm diese Chance zu nehmen.«

»Manche Menschen sollten nicht Eltern werden. Jonny gehörte vielleicht nicht immer dazu. Aber so, wie es jetzt um ihn steht, ist er nicht geeignet. Das weißt du.«

»Aber wie geeignet bin ich?«

»Vera, glaub mir, du müsstest es schon auf ganzer Linie verbocken, um auch nur in die Nähe des Chaos zu kommen, in dem Sigge aufwachsen würde, wenn er bei Jonny bliebe.«

Vera schwieg.

»Hast du Sigge gefragt, was er möchte?«

Vera sah Casper zögernd an.

»Es ist doch klar, dass er bei seinem Vater sein will.«

»Ich denke, du solltest ihn selbst fragen.«


Eine Stunde später verließen Vera und Sigge die Reihenhaussiedlung in einem Taxi, fuhren an Rosengård und Jägersro vorbei und durch Värnhem hindurch.

Am Nobelvägen hielt das Taxi an einer Kreuzung. Hier waren sie am Montag zweimal vorbeigekommen, zuerst auf dem Weg zum Jugendamt und dann mit Kurs auf ihr neues Leben.

Das Taxameter tickte. Im Radio lief ein Song von E-Type. Vera blickte in Richtung Möllevången. Das Backsteinhaus in der Ystadsgatan, das bis Sonntag ihr Zuhause gewesen war, lag nur ein paar Minuten entfernt. Es kam ihr vor wie ein anderes Leben.

Als der Taxifahrer wieder anfuhr, drehte sie sich zu Sigge.

»Vermisst du Papa?«, fragte sie.

»Ja.«

»Möchtest du gerne bei ihm wohnen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Ich vermisse ihn nur, wenn er weg ist. Wenn er zu Hause ist, ist er immer böse auf mich. Dann wünsche ich mir, dass er wieder weggeht, damit du und ich alleine sind.«

Vera legte den Arm um ihn.

»Papa liebt dich, das weiß ich. Es geht ihm gerade nicht so gut.«

In diesem Moment hielt das Taxi vor dem Hauptbahnhof. Ein steter Strom von Pendlern und Junkies bewegte sich über den Vorplatz.

Vera blickte sich gründlich um, ehe sie ausstiegen, und hastete dann mit schnellen Schritten in die Bahnhofshalle, den Arm die ganze Zeit fest um Sigges Schultern gelegt.

22

Nach acht Gin Tonic in einer kleinen Kaschemme mit Blick auf den Faluån schwankte Micael mit ordentlicher Schlagseite in Richtung Garbo. Er fühlte sich rastlos, wollte so schnell wie möglich eine Frau aufreißen und sie mit auf sein Hotelzimmer nehmen. Ihr Aussehen war nebensächlich. Morgen früh würde er sich sowieso an keine Sekunde des Abends erinnern. Die Schlange vor dem Eingang des Nachtclubs ignorierend, ging er direkt hinein, und als er sah, dass es im Garbo von jungen Frauen wimmelte, von denen ihm etliche wiedererkennende Blicke zuwarfen, hellte sich seine Laune augenblicklich auf.

Er bestellte den nächsten Gin Tonic an der Bar und lehnte sich dann mit Blick auf die Tanzfläche an den Tresen. Ein besoffener Typ torkelte auf ihn zu, zog den Ärmel seines Sweatshirts hoch und bat ihn um ein Autogramm. Micael kritzelte seinen Namen, und der Typ kehrte schwankend zu seinen Kumpels zurück.

In einer der Sitznischen am Rand der Tanzfläche entdeckte Micael eine dunkelhaarige Schönheit. Sie war um die zwanzig, trug einen weißen Minirock und ein schwarzes Top. Er beschloss, dass sie seine heutige Eroberung sein würde. Sie saß mit einer Blondine zusammen, die ebenfalls nicht übel aussah. Auf dem Tisch zwischen ihnen stand eine Flasche Wein. Micael kippte seinen Gin Tonic hinunter und orderte einen neuen. Dann fuhr er sich mit der Hand durch die Haare und entschied, dass die Zeit gekommen war. Doch während er sich mit alkoholvernebeltem Schädel einen Weg zum Tisch bahnte, ließ ihn eine laute Stimme den Kopf drehen. Ein Typ stieß seine Freundin grob auf eine Ledercouch.

»Was soll das, Mattias?«, schrie sie.

Der Typ schien vollkommen weggetreten zu sein.

Ein Türsteher kam angerannt, packte den Typen und zerrte ihn in Richtung Ausgang.

Als die Situation sich beruhigt hatte, war die dunkelhaarige Schönheit verschwunden, die Blondine saß noch am Tisch und nippte an ihrem Weinglas. Micael sah sich um und entdeckte weiter hinten die Rückenansicht der Dunkelhaarigen, die im Gewühl verschwand. Er ging ihr schwankend nach und holte sie an den Toiletten ein.

»Hey«, sagte er.

Sie fuhr herum, musterte ihn.

»Hallo«, erwiderte sie.

Micael grinste, konzentrierte sich auf ihr Gesicht.

»Heilige Scheiße, wie schön du bist. Wie heißt du?«

»Carmen.«

Er ergriff linkisch ihre Hand, führte sie an seine Lippen und küsste ihren Handrücken.

»Gestatten, Micael Bratt. Du hast mich vielleicht schon mal im Fernsehen gesehen?«

»Mm.«

Sie zog ihre Hand weg und trat einen Schritt zurück. Eine Kabinentür ging auf, zwei Mädchen kamen heraus.

»Eine Toilette ist frei geworden. Nett, Sie getroffen zu haben«, sagte sie und drehte sich um.

In Micael keimte Wut auf. Er hatte keinen Nerv für eine unverschämte Kleinstadttussi, die Schwer-zu-haben mit ihm spielte. Klar wollte sie ihn. Jede wollte ihn. Als sie die Tür der Toilettenkabine zuzog, schob er rasch seinen Fuß dazwischen.

»Was soll das?«, rief sie.

Er drängte sie in die Kabine, legte eine Hand auf seinen Schritt, öffnete den Reißverschluss und holte seinen Schwanz heraus.

»Blas mir einen, Herzchen, dann hast du was, womit du vor deinen Freundinnen angeben kannst«, sagte er.

Die Ohrfeige war so gepfeffert, dass er zur Seite taumelte. Um ein Haar hätte er das Gleichgewicht verloren, konnte sich aber gerade noch am Waschbecken festhalten. Micael fuhr sich über die Wange, während er ihr verblüfft nachblickte, als sie sich an ihm vorbeidrängte und den Raum verließ. Ohne sich darum zu scheren, die Kabinentür zu schließen, stellte er sich über die Kloschüssel und pinkelte.

»Du verschwindest jetzt von hier«, sagte eine Männerstimme hinter ihm.

Micael sah über die Schulter. Ein Rausschmeißer war in der Tür zur Toilette aufgetaucht. Hinter ihm stand diese Carmen. Betont langsam zog Micael seine Hose hoch, drehte sich um und musterte sein Spiegelbild. An der Stelle, wo Carmens Handfläche ihn getroffen hatte, war seine Wange gerötet.

»Zieh Leine«, sagte er. »Sonst rufe ich deinen Chef an, und du stehst morgen früh ohne Job da, kapiert?«

Der Rausschmeißer musterte ihn gelassen mit vor der Brust verschränkten Armen.

»Das Risiko gehe ich ein.«

»Weißt du, wer ich bin, du kümmerliches Stück Scheiße? Ich kann diesen Laden kaufen.«

Micael hob die Hände, um sie am schwarzen Sweatshirt des Mannes abzutrocknen.

Im nächsten Moment wurde er mit dem Gesicht gegen die Wand gepresst, und seine Arme wurden nach hinten gebogen. Er brüllte, versuchte sich umzudrehen, um einen Schlag zu landen, aber der Rausschmeißer drückte seine Arme immer weiter nach oben. Der Schmerz strahlte bis ins Schultergelenk aus. Micael heulte auf. Ein zweiter Rausschmeißer erschien auf der Bildfläche, und gemeinsam schleppten sie ihn zum Ausgang und beförderten ihn hinaus auf die Straße.

»Zieh Leine«, sagte einer der beiden.

»Morgen früh bist du arbeitslos, das garantier ich dir«, keuchte Micael. »Du hässliches, fettes Schwein.«


Ein paar Stunden später lag Micael in seinem Hotelzimmer auf dem Bett. Unruhig wälzte er sich hin und her, wusste nicht, ob er träumte oder wach war. Er hatte einen sauren Geschmack im Mund, den altbekannten Geschmack von Erbrochenem. Seine Tochter Viktoria geisterte durch seine Gedanken, wie immer, wenn er zu viel getrunken hatte. Er streckte sich nach dem Telefonhörer, um jemanden anzurufen, wen auch immer, um nicht an sie denken zu müssen.

Das Fenster stand offen, die weiße Gardine flatterte im Wind.

Er hörte Vogelgezwitscher, und irgendwo, weiter entfernt in der hellen Juninacht, erklangen gedämpfte Explosionen, wie von einem Feuerwerk.