Montag, 13. Juni 1994

1

Der Mann auf der Zeichnung starrte Vera vom Küchentisch der Dreizimmerwohnung an. Zwei dunkle Augen. Ein aufgedunsenes Gesicht. Ein potenzieller Serienvergewaltiger.

Wer bist du?

In der Nacht war ein heftiger Wolkenbruch auf Stockholm niedergegangen. Vera war davon aufgewacht, dass Sigge zu ihr ins Bett gekrochen kam, aus Angst vor dem Donner, der weiter im Süden der Stadt krachte. Aneinandergekuschelt hatten sie die Sekunden zwischen Blitz und Donner gezählt. Einundzwanzig. Zweiundzwanzig. Dreiund … Knall. Als sie feststellten, dass das Gewitter sich von ihnen entfernte, hatte Sigges Angst sich gelegt, und er war in ihrem Arm eingeschlafen. Die Gefahr war weit weg.

»Ich hoffe, der Blitz schlägt nicht in die Globen-Arena ein«, hatte er noch gemurmelt, bevor ihm die Augen zugefallen waren.

Jetzt wehte frische Morgenluft durch das Fenster, reingewaschen nach der Entladung des Gewitters. Die Pilgatan lag ruhig da. Lediglich kleine Regenpfützen erinnerten noch an die nächtliche Dramatik. Sigge saß im Wohnzimmer und schaute eine Kindersendung.

Vera trank einen Schluck schwarzen Kaffee. Die Kücheneinrichtung mit einer kleinen Essecke und vier Stühlen stammte noch aus den Vierzigerjahren. Auf dem zerkratzten Kiefernholztisch, der die Spuren durchzechter Nächte früherer Mieter trug, Brandflecken von ausgedrückten Zigarettenkippen, Wasserränder von Bierlachen, hatte sie das Recherchematerial ausgebreitet, das sie zu den beiden Überfällen zusammengetragen hatte.

Mersihas Zeichnung lag neben Kristian Wolfs Ausweisbild.

Als sie und der schlafende Sigge am frühen Samstagmorgen im Nachtzug aus Malmö gesessen hatten, hatte Anita Alsén auf ihrem Handy angerufen und verlangt, dass sie auf der Stelle nach Falun fuhr, und war alles andere als erfreut gewesen, dass Vera im Zug saß und erst in einigen Stunden mit dem Auto von Stockholm nach Falun aufbrechen konnte. Der schlimmste Massenmord in der schwedischen Geschichte hatte sich ereignet, und die überregionale Reporterin der Kvällsposten war nicht verfügbar. Dafür brachte ihre Chefin keinerlei Verständnis auf. Sie hatte Leif M. Ivarsson nach Falun geschickt und Vera zum Redaktionsdienst verdonnert, die vom Schreibtisch aus am laufenden Band Artikel über den Amoklauf produzieren sollte.

Vera war genauso wütend auf sich selbst wie Anita auf sie. Sie hatte die Sensationsstory des Sommers verpasst, und jetzt lief ihr der Vollidiot Ivarsson vor Ort den Rang ab. Es würde sein Sommer werden. Aber heute hatte sie frei und wollte so viel Zeit wie möglich mit der Suche nach weiteren Parallelen zwischen Mersiha Selimovic’ Vergewaltigung und dem Mord an Nadija Alihodzic verbringen.

Es klingelte an der Tür. Ohne darauf zu warten, dass jemand öffnete, rauschte Birgitta in einem violettfarbenen Kleid in die Küche.

»Guten Morgen, guten Morgen«, zwitscherte sie gut gelaunt.

»Was verschafft uns die Ehre?«, erwiderte Vera zögernd und zog ihren Bademantel enger um sich.

»Ich bin auf dem Weg in die Markthalle und könnte ein paar starke Arme gebrauchen. Ist es in Ordnung, wenn ich mir den Jungen ausleihe?«

»Ja!«, jubelte Sigge aus dem Wohnzimmer.

Vera lächelte.

»Natürlich kann er mitkommen. Aber Birgitta?«

»Ja?«

»Hast du wirklich vor, mit Lockenwicklern im Haar aus dem Haus zu gehen?«

»Oh ja! Für die Lümmel hinter der Fischtheke werfe ich mich doch nicht in Schale. Heute ist mein Bridge-Abend. Man muss Prioritäten setzen. Außerdem halte ich mir so die Verehrer vom Hals.«

»Schon klar.«

»Wunderbar, dann gehen wir!«, befahl Birgitta mit lauter Stimme, woraufhin Sigge in aller Eile den Fernseher ausschaltete und angerannt kam.

Als die Wohnungstür hinter den beiden zugefallen war, ging Vera zurück an die Arbeit und rekapitulierte die Parallelen zwischen den Fällen, die sie bereits entdeckt hatte.

Beide Frauen waren bosnische Flüchtlinge. Und dunkelhaarig. Die Taten hatten in unmittelbarer Nähe von Flüchtlingsunterkünften stattgefunden. Beide Opfer waren sexuellen Übergriffen ausgesetzt gewesen, und der Täter hatte ihre Slips mitgenommen.

Vera ging zu dem entscheidenden Unterschied zwischen den Fällen über: Mersiha Selimovic hatte überlebt. Sie schrieb eine Frage neben die Übereinstimmungen.

Hätte Mersiha sterben sollen?

Dann begann sie, Hypothesen über den Täter zu bilden.

Der Mann ist Rassist oder Nazi.

Er wählt seine Opfer aus.

Nadija Alihodzic und Mersiha Selimovic waren von normaler Körperkraft gewesen. Nicht sonderlich alt. Zumindest Mersiha hatte sich anfangs heftig gewehrt, das wusste Vera.

Er ist stark .

Jemanden zu erdrosseln erfordert Zeit, spann sie den Gedanken weiter. Der Täter muss währenddessen Zeit zum Nachdenken haben.

Er hat keine Angst davor zu töten.

Etliche dieser Punkte trafen auf Kristian Wolf zu. Wretström hatte gesagt, dass Wolf Söldner gewesen war. Er hatte ganz sicher schon früher gemordet, und sie erinnerte sich, einen Artikel gelesen zu haben, dem zufolge Söldner auf dem Balkan für sexuelle Übergriffe bekannt gewesen waren.

Kristian Wolf passte ins Profil. Er hatte aufseiten der Serben gekämpft. Beide Opfer gehörten dem muslimischen Glauben an. Wolf müsste der Täter sein. Also warum glich er nicht dem Mann auf der Zeichnung?

Vera fiel ein, dass Mersiha gesagt hatte, der Mann hätte aufgedunsen ausgesehen, als hätte er eine Maske getragen. Obwohl er keine Maske aufgehabt hatte. Was hieß das eigentlich?

Ihr kam ein schwindelerregender Gedanke.

Wie viele weitere Opfer gibt es?, notierte sie.

Vera schlug die Polizeiakte auf. Sie hatte sie während der Zugfahrt gelesen und sich über die mangelhafte Qualität gewundert. Die Zusammenfassung von Mersiha Selimovic’ Vernehmung beschränkte sich lediglich auf ein paar dürftige Zeilen. Man hatte sich nicht die Mühe gemacht, einen Dolmetscher hinzuzuziehen.

Aber immerhin umfasste die Fallakte einige Seiten, die Vera nun akribisch und in Gänze durchging. Im Bericht der Spurensicherung stieß sie auf ein Detail, das sie aufhorchen ließ und das ihr neu war.

Weiße Substanz (klebrig) auf Jacke, Oberkörper und Gesicht.

Elektrisiert überflog sie den Bericht, ob entschlüsselt worden war, worum es sich bei dieser Substanz handelte. Doch nirgendwo stand eine Notiz über eine weitergehende Analyse. Es gab lediglich eine Aufnahme von Mersihas Jacke, auf der ein weißer, klebriger Fleck zu sehen war. Vera verspürte eine Mischung aus Spannung und Wut. Unfassbar, dass die Polizei diese weiße Substanz nicht näher untersucht hatte. Sie könnte der Schlüssel sein. Mersihas Zeichnung und die weiße Substanz waren eine heiße Spur.

Sie wählte Jerker Wretströms Nummer und hielt den Atem an, während es in der Leitung klingelte. Wenn er bestätigte, dass auf Nadija Alihodzic’ Oberkörper eine ähnliche Substanz sichergestellt worden war, könnte das der entscheidende Hinweis sein, um einen Artikel über die Übereinstimmungen in den beiden Fällen zu veröffentlichen.

»Hey, Süße. Ich wollte dich gerade anrufen«, meldete sich Wretström.

»Ach so?«

»Wir mussten Wolf laufen lassen.«

»Das ist ein Witz?«

»Nein. Die Beweislage genügt dem Staatsanwalt nicht. Und ich kann es ihm nicht verdenken. Wir haben nichts in der Hand. Was kann ich für dich tun?«

Das war fast noch besser. Falls zwischen den beiden Fällen ein Zusammenhang bestand und die Polizei den Verdächtigen auf freien Fuß gesetzt hatte, war das erst recht eine Meldung mit Nachrichtenwert. Sie sah die Schlagzeile vor sich:

Polizei ließ Neonazi laufen – er ist der Serienvergewaltiger.

»Ich habe eine kurze Frage«, sagte sie.

Sie wollte Wretström ihre Theorie über einen möglichen Zusammenhang zwischen den Fällen nicht verraten und wählte ihre Worte mit Bedacht.

»Einer meiner Informanten sagt, dass auf Nadija Alihodzic’ Kleidung oder auf ihrem Körper eine klebrige weiße Substanz sichergestellt wurde.«

Wretström lachte.

»Du meinst Sperma? Ich habe wirklich nichts gegen eine Braut, die Interesse an Körperflüssigkeiten hat, aber …«

Vera war das Spiel leid.

»Es soll kein Sperma sein«, fiel sie Wretström ins Wort.

»Ach, schade«, erwiderte er. »Nein, so was haben wir nicht gefunden. Auch kein Sperma. Unser Mann ist vielleicht nicht zum Schuss gekommen.«

»Und die Analyse ihrer Kleidung ist abgeschlossen?«

»Ja.«

Vera beendete das Gespräch und schlug frustriert mit der Hand auf den Tisch, auf die Täterskizze, die Mersiha Selimovic ihr überlassen hatte. Der Kaffee schwappte über und verteilte sich auf ihren Aufzeichnungen. Ohne diese weiße Substanz hatte sie nichts als eine Reihe von Indizien. Nichts Handfestes, worauf sie einen Artikel stützen könnte.

Ich werde dich finden, du Dreckskerl, dachte sie und blickte in die schwarzen Augen, die wie zwei leere dunkle Höhlen wirkten.

Sie wusste, dass die beiden Fälle zusammengehörten. Sie konnte es nur noch nicht beweisen.

2

Der Blick des Leiters der Faluner Mordkommission, Sven Fredriksson, flackerte während des Gesprächs mit Tomas ununterbrochen hin und her, als glaubte er, die Antwort auf das Unfassbare, was in seiner Stadt geschehen war, verberge sich irgendwo im Raum. Tomas fragte sich, wie lange es wohl dauerte, bis Falun, bis ganz Schweden, sich von diesem Ereignis erholt haben würden.

Der Massenmord lag erst zwei Tage zurück, und das Land stand noch immer unter Schock, doch seit dem Ausnahmezustand, der bei seiner Ankunft geherrscht hatte, war einiges Licht ins Dunkel der Tat gekommen.

Der Täter, ein Leutnant namens Mattias Flink, lag, nachdem ihn Polizeibeamte mit Schüssen außer Gefecht gesetzt hatten, mit Schussverletzungen in der Hüfte im Lazarettkrankenhaus Falun. Er würde überleben. Flink hatte sieben Menschen getötet und drei weitere mit seinem AK-5-Sturmgewehr schwer verletzt. Das Motiv war noch unklar.

Tomas räusperte sich.

»Wie gesagt, Flink kann Carmen Diaz unmöglich ermordet haben. Das Zeitfenster stimmt nicht überein.«

Fredriksson wischte sich den Schweiß von der Stirn, drückte seine Zigarette in einem überquellenden Aschenbecher aus, der zwischen ausgebreiteten Tageszeitungen auf seinem Schreibtisch stand, erhob sich und riss das Bürofenster auf, vor dem die schwedische Fahne schlaff auf Halbmast hing. Dann setzte er sich wieder hin und strich sich über seinen breiten Walrossschnauzbart.

»Du denkst also, wir könnten es hier in unserem beschaulichen Falun mit zwei Mördern zu tun haben, die in derselben Nacht zugeschlagen haben?«

Mit einem Mal sah Fredriksson noch müder aus. Er zog eine Schreibtischschublade auf, nahm eine Schachtel Marlboro heraus, schüttelte sie, grunzte missmutig und zerknüllte sie. Tomas hielt ihm seine Zigaretten hin. Fredriksson fummelte mit seinen großen Pranken eine heraus und schob sie sich zwischen die Lippen.

»Ich habe nicht genügend Leute«, sagte er. »Jeder verfügbare Beamte muss sich um den Dreckskerl Flink kümmern. Wie du weißt, ist das Ganze ein einziges Chaos. Könntest du hierbleiben und die andere Ermittlung übernehmen? Nur für ein paar Tage. Bis wir klarsehen.«

Tomas dachte an den Überstundenzuschlag und nickte.

»Ich habe nichts dagegen.«

»Gut. Ich kümmere mich um den notwendigen Papierkram.«

Fredriksson kramte unter den Zeitungen auf seinem Schreibtisch ein weißes Feuerzeug hervor und zündete seine Zigarette an. Dann griff er zum Telefon und presste den Hörer ans Ohr. Tomas wartete.

»Sag Rapp, dass er in mein Büro kommen soll«, wies Fredriksson jemanden an und legte auf.

Tomas steckte sich ebenfalls eine Zigarette an, und sie rauchten schweigend, während sie warteten. Kurz darauf klopfte es an die Tür. Tomas rückte mit seinem Stuhl beiseite, damit der Kollege, den Fredriksson als Kriminalkommissar Karl Rapp vorstellte, vor dem Schreibtisch neben ihm Platz fand. Er gab Rapp die Hand. Er war in den Vierzigern und sprach, wie Fredriksson, breiten Dalarna-Dialekt.

»Tomas kommt von der Stockholmer Mordkommission und unterstützt uns im Fall der ermordeten Frau, die auf dem Parkplatz in der Yxhammargatan gefunden wurde«, erläuterte Fredriksson. »Es sind so viele Namen. Hieß sie Carmen?«

»Ja, Carmen Diaz«, bestätigte Tomas.

Fredriksson schnitt eine Grimasse und lockerte seinen Krawattenknoten.

»Tomas wird eine Weile hierbleiben und die Ermittlung leiten. Rapp, du fungierst vorerst als passiver Ermittlungsleiter. Sobald wir die Flink-Sache geklärt haben, übernimmst du das Ruder, aber bis es so weit ist, genügt es, dass du dich auf dem Laufenden hältst. Tomas, kannst du uns auf den aktuellen Stand bringen?«

Tomas nickte und wandte sich an Rapp.

»Carmen Diaz gehört nicht zu Flinks Opfern. Sie wurde von einem anderen Täter erdrosselt und davor vermutlich vergewaltigt.«

»Vergewaltigt?«, wiederholte Rapp.

»Jedenfalls glaube ich das. Sie wird im Lauf des Tages obduziert. Aber ihr Slip war weg.«

»Was zum Teufel passiert mit dieser Stadt?«, stieß Rapp frustriert hervor.

Tomas blätterte in seinem Notizbuch und fasste weiter zusammen, was er bisher herausgefunden hatte.

»Carmen Diaz war, wie auch Mattias Flink, in der Mordnacht im Nachtclub Garbo. Sie wohnte im Östra Tillingvägen, ist aber offensichtlich nicht dort angekommen. Ich glaube, dass sie am Fundort ermordet wurde, aber eine Bestätigung steht noch aus. Ich habe mit einem Kollegen von der Ordnungspolizei in dem Wohnhaus und der Flüchtlingsunterkunft, die an den Parkplatz grenzen, erste Anwohnerbefragungen durchgeführt. Aber niemand will in der Nacht auf Sonntag Schreie gehört oder etwas Auffälliges gesehen haben.«

Er aschte seine Zigarette ab. Rapp und Fredriksson hörten aufmerksam zu.

»Ich konnte nur mäßige Abwehrverletzungen feststellen. Das Interessanteste ist eine weiße Masse oder ein Pulver unter ihren Fingernägeln. Vielleicht ist es Koks oder irgendein anderes Rauschmittel. Genaues muss eine Analyse zeigen. Wenn ich nachher mit Carmen Diaz’ Eltern gesprochen habe, werde ich versuchen, die Person oder die Personen ausfindig zu machen, mit denen sie im Nachtclub war.«

Als Tomas geendet hatte, entstand ein Schweigen. Fredrikssons Telefon begann zu klingeln, doch er ließ es läuten, ohne sich darum zu scheren.

»Vor uns liegt eine Menge Arbeit«, sagte Tomas. »Gibt es niemanden, der mir helfen könnte?«

Fredriksson schüttelte den Kopf.

»Dann schlage ich vor, dass ihr meinen Chef in Stockholm anruft und fragt, ob er jemanden erübrigen kann.«

Fredriksson musterte ihn.

»Denkst du an jemand Bestimmten?«

»Es gibt einen Kollegen in der Mordkommission. Lars Johansson. Er ist gut. Frag Borssén, ob er ihn herschicken kann.«


Nach der Besprechung ging Tomas in das kleine fensterlose Büro, das man ihm gestern zugeteilt hatte. Die Regale an den Wänden waren leer, in der Mitte stand ein Schreibtisch mit Telefon und Schreibmaschine, neben der Tür ein Abfalleimer ohne Tüte. Wie eine Farce.

Er sah auf die Uhr. Viertel nach zwölf. Um zwei sollte er mit Carmen Diaz’ Eltern sprechen. Ihm graute vor der Begegnung. Er würde ein Haus in Trauer betreten. Aber andererseits war ganz Falun in Trauer. Tomas griff nach seiner Jacke, die über der Stuhllehne hing, und vergewisserte sich, dass der Stadtplan in der Innentasche steckte. Er hatte vor, zu Fuß zu Carmen Diaz’ Eltern zu gehen. Doch gerade, als er die Tür hinter sich zuziehen wollte, klingelte das Telefon. Er ging zum Schreibtisch und nahm den Hörer ab.

»Ein Kristian Wolf möchte Sie sprechen«, sagte eine Sekretärin.

Tomas runzelte die Stirn.

»Stellen Sie ihn durch.«

Es dauerte einen Moment, bis Kristians Stimme in der Leitung erklang.

»Sieg Heil«, grüßte er.

Tomas schielte zur geöffneten Bürotür. Auf dem Flur lief ein Beamter vorbei. Er senkte die Stimme.

»Haben sie dich laufen lassen?«

»Logisch.«

»Was ist mit meinem Geld? Hast du es?«

»Darum wirst du deine Kollegen bitten müssen. Ich krieg die Kohle nicht zurück. Ich hab ein paar Schwierigkeiten, nachzuweisen, woher ich sie habe.«

Tomas seufzte.

»Warum haben sie dich laufen lassen?«

Kristian gluckste.

»Das erklärt sich doch von selbst? Ich ficke keine Kanakenschlampen.«

Tomas schielte abermals zur Tür hinüber.

»Was meinst du?«

»Die Kümmeltürkin wurde vergewaltigt.«

»Nadija.«

»Was hast du gesagt?«

»Ihr Name war Nadija.«

Kristian erwiderte irgendwas, aber Tomas brachte es nicht fertig zuzuhören.

»… wahrscheinlich war es irgendein Nachbar, der sich nicht beherrschen konnte. Du weißt ja, wie die sind.«

»Die Nachbarn?«

»Ja, sie hat doch in der Flüchtlingsunterkunft gewohnt.«

Tomas runzelte die Stirn. Er dachte an die Substanz unter Carmen Diaz’ Fingernägeln.

»Kristian. Ich brauche eine Antwort von dir. Als die Polizei dich wegen Nadija vernommen hat, haben sie dich nach einer weißen Substanz gefragt?«

»Eine weiße Substanz?«, wiederholte sein Bruder.

»Ja, eine klebrige Masse.«

»Warum hätten sie?«

»Beantworte einfach meine Frage.«

Tomas hörte, wie ein Wasserhahn aufgedreht wurde, dann sagte Kristian: »Nein, das haben sie nicht.«

3

Micael Bratt schlug die Augen auf und starrte eine Weile an die Zimmerdecke. Sein Schädel hämmerte, sein Mund war trocken. Er hustete einige Male, registrierte, dass er nackt war und rücklings auf einem Sofa lag. Als er neben sich einen blonden Haarschopf entdeckte, erinnerte er sich daran, dass er sich in seiner Garderobe des Königlichen Dramatischen Theaters befand. Er gehörte zu den wenigen Schauspielern, die im Haus dauerhaft eine Garderobe nutzen durften, auch dann, wenn sie nicht an einer Inszenierung mitwirkten.

Er schob den Kopf der Frau zur Seite. Als er den Arm unter ihr wegzog, murmelte sie im Schlaf vor sich hin. Micael stand auf, blieb mitten im Raum stehen, kratzte sich das Brusthaar und betrachtete ihr Gesicht. Er hustete erneut. Wer war die Frau? Er musste ihr gestern begegnet sein, als er mit ein paar Kollegen durch die Kneipen gezogen war. Er wusste noch, dass sie im Riche gesessen hatten, aber der restliche Verlauf des Abends lag im Dunkeln. Er rüttelte sie unsanft. Sie schlug die Augen auf und lächelte ihn verschlafen an.

»Du musst gehen«, sagte er.

Ihr Lächeln erlosch.

»Hast du gehört? Zieh dich an und verdufte.«

Er drehte sich um und schloss die Tür auf, öffnete sie einen Spalt weit.

Die Frau stand auf, raffte nackt und benommen ihre Klamotten zusammen und kleidete sich rasch an. Als sie angezogen war, wies er auf die Tür, und sie verschwand. Micael atmete auf, griff nach einer halb vollen Rotweinflasche, die vor dem Schminktisch auf dem Boden stand, trank ein paar Schlucke, wischte sich den Mund ab und räusperte sich. Erst jetzt sah er, dass es halb zwei am Nachmittag war.

Er hatte noch keine Informationen erhalten, wie es nach den abgebrochenen Dreharbeiten zu Die Jagd weitergehen sollte. Aber er vermisste den Dreh nicht. Sein Agent Bengt J. Lindwall hatte ihm versichert, dass seine Gage trotzdem gezahlt werden würde. Im Großen und Ganzen war es schön, zurück in Stockholm zu sein, auch wenn Mattias Flinks Amoklauf ihn erschüttert hatte.

Er dehnte den Nacken und massierte seine Schläfen, aber die Kopfschmerzen wollten nicht nachlassen. Als es an der Tür klopfte, schrak er zusammen. In der Annahme, die Frau sei zurückgekommen, sprang er wütend auf und riss die Tür auf.

»Was zum Teufel …?«

Vor der Schwelle stand eine der Empfangsdamen. Sie starrte ihn verängstigt an.

»Jemand möchte Sie sprechen«, sagte sie. »Am Telefon.«

»Ich nehme an, Sie haben gefragt, wer mich zu sprechen wünscht?«

Sie nickte eifrig.

»Ihr Agent.«

»Ich komme gleich«, sagte Micael und schlug ihr die Tür vor der Nase zu.

Er hoffte, dass es nicht doch irgendwelche Probleme mit seiner Gage gab, dann würde er der Produktionsfirma die Hölle heißmachen. Micael drehte sich um, entdeckte seine Jeans auf dem Tisch, an dem er vor den Vorstellungen immer geschminkt wurde, schlüpfte hinein und fuhr mit den Armen in sein Hemd, ohne es zuzuknöpfen. Die Schuhe nahm er in die Hand.

Im Büro mit dem Telefon stellte er sie auf einen Papierstapel auf dem Schreibtisch und griff nach dem Hörer.

»Ja?«, blaffte er.

»Wie geht es dir?«, erkundigte sich sein Agent Bengt J. Lindwall mit sanfter Stimme.

»Zum Kotzen.«

Gereizt wedelte er mit der Hand und verscheuchte die Rezeptionistin, die sich hastig entfernte und ihn in Frieden ließ.

»Dann werde ich dir etwas erzählen, was deine Laune ganz bestimmt heben wird.«

Sein Agent machte eine Kunstpause, um die Spannung zu steigern. Micael weigerte sich, ihm die Genugtuung zu geben, zu fragen, worum es ging. Stattdessen hockte er sich auf den Schreibtisch, wartete ab und wischte zerstreut an einem weißen Fleck Theaterschminke auf seinem Hosenbein herum.

»Ein Broadway-Produzent hat mich angerufen. Du stehst auf der Shortlist für die Hauptrolle in Hammer

»Heilige Scheiße!«, entfuhr es Micael.

Seine Kopfschmerzen ließen ein wenig nach.

»Du und zwei Konkurrenten. Amerikaner, nehme ich an. Ich habe mir die Freiheit genommen zu sagen, du wärst interessiert. In zwei Wochen fliegst du in die USA.«

»Gut.«

Micael nahm eine Sonnenbrille vom Schreibtisch und spielte damit herum.

»Also, stoß dir heute noch mal ordentlich die Hörner ab. Lass dich volllaufen und vögele dich durch die Betten. Dann fangen wir mit den Vorbereitungen an.«

»Wie ist das Wetter?«

»Jetzt gerade? Warst du noch nicht draußen?«, wollte Bengt J. Lindwall wissen.

»Dann würde ich wohl kaum fragen.«

»Strahlender Sonnenschein.«

Micael legte den Hörer auf, setzte die Sonnenbrille auf und nahm seine Schuhe in die Hand. Dann verließ er das Büro und ging in Richtung Personaleingang. Hinter der Sonnenbrille blinzelte er ins gleißende Licht und beschloss, im Riche einen Katerdrink zu sich zu nehmen. Die Pflastersteine unter seinen nackten Fußsohlen fühlten sich warm und behaglich an.

Ein Stück entfernt sprang eine Frau von einer Bank auf und eilte auf ihn zu. Im ersten Moment hielt er sie für eine Autogrammjägerin, doch dann sah er, dass sie einen Fotografen im Schlepptau hatte. Als sie näher kam, erkannte er sie wieder. Eine Journalistin vom Aftonbladet .

Er blieb stehen und starrte sie an. Was zum Henker wollte sie?

Eine Sekunde später hielt sie ihm ein Aufnahmegerät unter die Nase, während der Fotograf ein Blitzlichtgewitter abschoss.

»Sie werden der Vergewaltigung bezichtigt«, sagte die Frau.

4

Die Sonne brannte auf ein windstilles Falun. Während Tomas mit dem Stadtplan in der Hand zu Rosa und Carlos Diaz’ Wohnung ging, kam er nicht umhin, sich die Parallelen zwischen Nadija Alihodzic und Carmen Diaz vor Augen zu führen. Beide Frauen hatten schwarze Haare und waren ohne Slip aufgefunden worden. Nadija Alihodzic war zweifellos vergewaltigt worden, ob das auch für Carmen Diaz galt, blieb abzuwarten. Beide waren unweit von Flüchtlingsunterkünften gefunden worden.

Weiter war Tomas mit seinen Überlegungen nicht gekommen, als ihm auffiel, dass er sich am Rand des Parks befand, in dem Mattias Flink vor gut achtundvierzig Stunden seinen Amoklauf begonnen hatte. Lkws hatten Kies herbeigekarrt, um die Blutlachen zu überdecken. Die aufgeschütteten Stellen bedeckte ein Meer aus Blumen, die trauernde Faluner dort niedergelegt hatten. Tomas’ Herzschlag beschleunigte sich. Er machte kehrt, umrundete den Park, studierte den Stadtplan und nahm einen anderen Weg. Ein paar Minuten später hatte er das Wohnhaus erreicht, doch bevor er hineinging, glich er den Straßennamen mit der Adresse in seinem Notizbuch ab. Das Haus lag nur einen Steinwurf von Carmen Diaz’ Fundort entfernt.

Tomas stieg die Stufen hinauf und klingelte. Sein Puls beruhigte sich langsam, während er wartete.

Rosa Diaz, eine kleine Mittfünfzigerin mit dunklen, gelockten Haaren, öffnete. Ihre Augen waren geschwollen und verweint. Tomas stellte sich vor, erklärte sein Anliegen und wurde in ein abgedunkeltes Wohnzimmer geführt. Er nahm in einem Sessel Platz, während Rosa Diaz in einem ebenso dunklen Nebenzimmer verschwand. Er hörte sie im Flüsterton mit jemandem reden. Tomas nahm an, dass die Eltern Spanisch miteinander sprachen, war aber nicht sicher.

Neben dem Fernseher hing ein Schwarz-Weiß-Porträt einer lächelnden jungen Frau mit einer Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen. Tomas starrte in Carmen Diaz’ funkelnde Augen und erinnerte sich an ihren unbelebten Blick, als sie tot auf dem Grünstreifen des Parkplatzes gelegen hatte. Aus irgendeinem Grund musste er an Azra denken.

Rosa Diaz kam zurück ins Wohnzimmer, gefolgt von einem Mann, der der Vater der Toten sein musste.

»Wie ich Ihrer Frau schon sagte, mein Name ist Tomas Wolf, und ich ermittle im Tod Ihrer Tochter Carmen«, stellte Tomas sich kurz vor und erhielt ein kaum wahrnehmbares Nicken als Antwort.

Rosa Diaz, die sich auf das Sofa gesetzt hatte, ergriff die Hand ihres Mannes und zog ihn neben sich.

»Dieser Teufel hat die Todesstrafe verdient«, stieß Carlos Diaz hervor. »Ich würde ihn liebend gern eigenhändig erschießen, so wie er meine Tochter erschossen hat.«

Seine Frau legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm.

Im ersten Moment konnte Tomas Carlos Diaz’ Worte nicht recht einordnen, doch dann begriff er, dass die Eltern noch immer glaubten, Carmen wäre eines von Mattias Flinks Opfern. Niemand hatte sie über die näheren Todesumstände ihrer Tochter in Kenntnis gesetzt.

»Ich muss Ihnen sagen, dass wir hundertprozentig sicher sind, dass Mattias Flink nicht der Mörder Ihrer Tochter ist.«

Rosa und Carlos Diaz beugten sich in einer synchronen Bewegung vor.

»Wie meinen Sie das?«, fragte Rosa Diaz.

»Wir suchen einen anderen Täter. Flink kann Ihre Tochter nicht getötet haben. Ihre Tochter wurde auch nicht erschossen wie die anderen Opfer.«

Tomas fasste sich ein Herz und berichtete so ruhig er konnte, wie Carmen ums Leben gekommen war. Er sah, dass die Eltern die Tragweite seiner Worte zu begreifen begannen. Bis gerade eben hatten sie zumindest geglaubt, der Täter würde seine rechtmäßige Strafe bekommen, doch nun mussten sie sich dem Gedanken stellen, dass der Mörder ihrer Tochter immer noch frei herumlief.

Nachdem er ihnen einen Moment Zeit gelassen hatte, sich zu sammeln, fuhr er fort.

»Damit wir den Verantwortlichen fassen können, muss ich Ihnen ein paar Fragen stellen. Ich brauche ein klareres Bild, was für ein Mensch Carmen war. Welche Freunde sie hatte, wie ihre letzten Wochen aussahen.«

Rosa und Carlos Diaz betrachteten ihn skeptisch.

»Sind Sie ganz sicher, dass es nicht Flink war?«

Tomas nickte.

»Ganz sicher.«

Carlos Diaz sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an.

»Aber im Radio haben sie gesagt, dass sie erschossen wurde.«

Tomas bemühte sich um einen ruhigen Tonfall, als er antwortete.

»Die Medien müssen etwas durcheinandergebracht haben. Ihre Tochter wurde erdrosselt. Vermutlich hat die Presse sie automatisch mit den anderen Opfern in Verbindung gebracht. Was angesichts der Umstände nicht verwunderlich ist.«

Tomas holte Stift und Notizbuch hervor, legte ein Aufnahmegerät auf den Couchtisch und schaltete es ein.

»Ihre Tochter hat eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht?«, begann er.

In der folgenden Stunde stellte er die Fragen, die er und seine Kollegen immer stellten, wenn eine junge Frau ermordet worden war. Wie sah ihr soziales Umfeld aus? Hatte sie einen Freund? Einen Ex-Freund? Wann hatten sie zuletzt mit ihr gesprochen? Schien bei diesem Gespräch alles in Ordnung gewesen zu sein? Hatte sie in der letzten Zeit verängstigt oder besorgt gewirkt?

Während des Gesprächs fühlte Tomas sich seltsam abwesend, als ob jemand anders die Fragen an die am Boden zerstörten Eltern hervorpresste. Es war, als habe er nicht die Kraft, in der Gegenwart ihrer Trauer zu bleiben. Er hatte Mühe, sich auf ihre Antworten zu konzentrieren. Vielleicht weil er diese Fragen schon viel zu oft gestellt hatte. Vielleicht konnte jeder Polizeibeamte nur eine gewisse Anzahl Mordopfer verkraften, ehe er oder sie begann, sie auf Distanz zu halten. Um zu überleben. Um durchzuhalten.

Der Krieg, Mattias Flink, der Blutdurst und der Hass meiner Brüder, dachte er. All der Tod und all das Gerede über Tod in meinem Umfeld haben mich abstumpfen lassen.

Als Tomas die trauernden Eltern verließ, hatte er das Gefühl, ein etwas klareres Bild von Carmen Diaz bekommen zu haben, ohne dabei jedoch der Antwort auf die Frage näher gekommen zu sein, wer sie ermordet hatte. Aber immerhin hatten ihm die Eltern den Namen der Freundin genannt, mit der Carmen im Garbo gewesen war.

Ihre Adresse samt Telefonnummer hatte er in seinem Notizbuch notiert. Sie hieß Emma Blom und wohnte nur einen kurzen Fußmarsch entfernt.


Von einer Telefonzelle aus rief er bei Zingo zu Hause an. Seine helle Jeansjacke hatte unter den Armen dunkle Halbmonde bekommen. Er klemmte sich den Hörer zwischen Schulter und Wange, griff sich, während es in der Leitung zwischen Falun und Stockholm tutete, ins Kreuz und merkte, dass auch sein Rücken nass geschwitzt war. Als er gerade auflegen wollte, nahm Zingo ab.

»Ich bin’s, Tomas.«

»Grüß dich.«

»Hat Borssén mit dir geredet? Dass du nach Falun kommen sollst, um mich bei einer Mordermittlung zu unterstützen?«

»Ja, ich war gerade auf dem Weg zum Auto, als du angerufen hast.«

Tomas hatte den Verdacht, dass Zingo log. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Wenn Zingo jetzt losfuhr, wäre er in drei Stunden hier.

»Dann sehen wir uns später«, sagte er.

»Das tun wir.«

Tomas legte auf und verließ die Telefonzelle. Neben ihm verlief eine Wildrosenhecke. Vereinzelt fuhren ein paar Autos vorbei. Ihm fiel die weiße Substanz ein und dass er deshalb mit der Polizei Märsta sprechen musste. Er ging zurück in die Telefonzelle, rief in der Zentrale des Stockholmer Polizeipräsidiums an und ließ sich die Nummer des Polizeireviers Märsta geben. Als sich dort ein Kommissar Jerker Wretström meldete, erklärte er, wer er war und dass er Informationen über den Mordfall Nadija Alihodzic benötigte. Doch der Kollege weigerte sich, am Telefon Informationen weiterzugeben. Tomas legte auf, fluchte wütend und ging weiter zu Emma Bloms Wohnung.

Dort angekommen, klingelte er an der Tür, doch nichts rührte sich. Er klingelte ein zweites Mal. In der Wohnung blieb es still. Tomas hob die Klappe des Briefeinwurfs an. Kein Laut war zu hören. Er spähte hinein, sah einen braunen Teppichläufer und die Ferse eines Joggingschuhs.

Er legte die Hand auf die Klinke und drückte sie langsam nach unten.

Die Tür war unverschlossen.

Irgendetwas veranlasste ihn, nach der Waffe zu greifen, die er von der Polizei Falun bekommen hatte, weil seine eigene sicher verwahrt in der Waffenkammer des Polizeipräsidiums Kungsholmen lag. Seine Hand zitterte, als sie sich um den Griff schloss. Es gelang ihm nicht, die Sig Sauer aus dem Holster zu ziehen. Es war, als hätte seine Armmuskeln eine Art Lähmung erfasst. Leise in sich hineinfluchend, ließ er die Pistole im Holster stecken und betrat die Wohnung.

5

Micael hatte sich im Riche an seinen angestammten Tisch gesetzt, sich ein Bier bringen lassen und die Speisekarte aufgeschlagen. Ihm gegenüber saß die Journalistin und musterte ihn ungeduldig. Zwischen ihnen, neben dem Salzstreuer, lag ein Aufnahmegerät. Micael rief den Kellner zu sich und bestellte Fleischbällchen, ehe er die Journalistin gelassen anblickte.

»Sie heißen Karin Lennartsson, habe ich recht?«, fragte er und sah ihr an, dass sie sich geschmeichelt fühlte.

Sie nickte.

»Hören Sie zu, Karin, ich habe niemanden vergewaltigt. Männer wie ich kommen so auf ihre Kosten.«

Er machte sich keine Sorgen, er war verärgert, weil er gestört worden war. Aber er beschloss, trotz allem höflich zu bleiben. Er musste sich nicht noch eine Journalistin zum Feind machen.

»Vermutlich ist es eine Frau, die ich abgewiesen habe und die deshalb sauer auf mich ist«, sagte er.

Karin Lennartsson griff nach ihrer Handtasche, stellte sie auf den Tisch, öffnete sie und reichte ihm das Foto einer rothaarigen Frau.

»Ist sie das?«

Karin Lennartsson nickte.

Micael musterte das Bild teilnahmslos und gab es zurück.

»Ich habe die Frau nie gesehen«, sagte er und trank sein Bier aus. »Außerdem stehe ich nicht auf Rothaarige.«

Karin Lennartsson hielt ihm die Kopie einer Polizeianzeige hin. Als er keine Anstalten machte, danach zu greifen, legte sie das Blatt auf den Tisch.

»Was wollen Sie mir damit sagen?« Micael wies mit dem Kopf auf das Dokument.

»Dass die Frau Anzeige gegen Sie erstattet hat.«

Micael rief dem Kellner zu, ihm noch ein Bier zu bringen.

»Man kann anzeigen, wen man will, das wissen Sie. Ich kann Sie wegen Diebstahls anzeigen, und dann muss die Polizei der Anzeige nachgehen. Aber das bedeutet nicht, dass Sie etwas gestohlen haben, stimmt’s?«

Eine Kellnerin eilte mit seinem Bier herbei. Micael rieb sich die Augen.

»Sie sind der Frau nie begegnet. Da sind Sie sich sicher?«

Karin Lennartsson warf einen Blick auf das Aufnahmegerät. Ihm war klar, dass sie kontrollierte, ob es eingeschaltet war.

»Ich bin mir hundertprozentig sicher«, sagte er.

Er sah die Veränderung in ihrer Miene, sie bekam etwas Triumphierendes. Erneut kramte sie in ihrer Handtasche und zog eine Klarsichthülle heraus. Darin steckte ein weiteres Bild. Sie hielt es ihm hin. Diesmal beugte er sich vor. Als er das Motiv erkannte, zuckte er zusammen. Er und die Rothaarige, Seite an Seite, nackt in seinem Bett in seiner Wohnung in der Timmermansgatan. Er nahm das Foto in die Hand und hielt es ins Licht. Es gab keinen Zweifel. Der Mann war er.

»Das Bild wurde bei Ihnen zu Hause aufgenommen, oder nicht?«, sagte Karin Lennartsson.

Er ließ das Foto sinken und erwiderte ihren Blick, legte das Bild auf den Tisch.

»Soll ich mich etwa an jede Tussi erinnern, mit der ich ins Bett gestiegen bin? Ja, okay, ich scheine ihr begegnet zu sein. Aber wie zum Teufel konstruieren Sie daraus eine Vergewaltigung?«

Micael klopfte mit dem Zeigefinger auf das Foto, spürte, wie die Wut in ihm zu kochen begann.

»Sieht das aus, als würde ich sie zu irgendwas zwingen?«

Karin Lennartsson erwiderte nichts. Er trank einen Schluck Bier und stellte das Glas demonstrativ auf dem Foto ab.

Die Kellnerin war mit dem Fleischbällchenteller auf dem Weg zu seinem Tisch.

»Und wenn ihr vorhabt, dieses Bild zu veröffentlichen, werde ich dich und dein scheiß Käseblatt vor Gericht zerren. Verschwinde von hier, du dumme Gans, und lass mich in Ruhe essen.«

Die Kellnerin stellte den Teller vor ihn hin und entfernte sich rasch. Micael hob die Hand und schnippte mit den Fingern vor Karin Lennartssons Gesicht.

»Verdufte, bevor mir der Appetit vergeht«, sagte er, wedelte mit der Stoffserviette und stopfte sie sich in den Halsausschnitt.

Die Journalistin kam auf die Füße und sammelte ihre Sachen zusammen. Sie hob sein Bierglas hoch, griff nach dem Foto, drehte sich um und ging Richtung Ausgang.

Micael spießte ein Fleischbällchen auf die Gabel und tunkte es in die Soße. Während er kaute, schüttelte er den Kopf. Gut, er soff zu viel und vergaß Dinge – der letzte Abend in Falun war ein einziger Nebelschleier –, aber er hatte niemanden vergewaltigt.

6

»Hallo? Ist jemand zu Hause?«

Tomas blieb im dunklen Wohnzimmer stehen. Die Jalousien waren heruntergelassen. Die Balkontür stand einen Spalt weit offen und schickte einen dünnen Streifen Licht ins Zimmer. Draußen auf der Straße fuhr ein Auto vorbei. Er ging zu einer Tür, von der er annahm, dass sie ins Schlafzimmer führte, stieß sie auf und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Im Bett zeichnete sich die Kontur einer Gestalt ab. Er trat näher heran und registrierte erleichtert, dass die Frau schlief. Ihr Brustkorb hob und senkte sich unter der dünnen Zudecke.

Tomas blieb neben ihr stehen und überlegte, was er tun sollte. Auf dem Nachttisch stand eine Leselampe. Er knipste sie an und berührte die Frau vorsichtig an der Schulter, um sie zu wecken.

Sie schlug die Augen auf, betrachtete ihn einen Moment mit geöffnetem Mund, dann spannten sich ihre Halssehnen an, und sie schrie. Tomas wich ein paar Schritte zurück und hob beschwichtigend die Hände.

»Haben Sie keine Angst, ich bin Polizist«, sagte er.

Der Schrei verstummte abrupt. Sie musterten einander abwartend. Die Federung des Bettes quietschte, als die Frau sich aufsetzte und die dünne Decke vor den Oberkörper hielt.

»Wie kommen Sie hier rein?«, fragte sie.

»Ich habe geklingelt«, antwortete Tomas. »Aber Sie müssen tief geschlafen haben. Die Tür war offen. Ich möchte mit Ihnen über Carmen Diaz sprechen.«

Sie bedachte ihn mit einem düsteren, fragenden Blick. Einen Moment lang glaubte Tomas, vor der falschen Person zu stehen. Oder aber Emma Blom, sollte sie es doch sein, hatte vergessen, dass ihre Freundin tot war.

Doch dann schienen sie die Ereignisse der vergangenen zwei Tage wieder einzuholen. Sie schloss für einige Sekunden die Augen.

»Können Sie eine Kanne Kaffee kochen, während ich mich anziehe?«, fragte sie.


Emma Bloms Augen waren noch immer verschlafen, und ihre blonden Locken fielen ihr wirr auf die Schultern, als sie sich einige Minuten später an den kleinen Küchentisch setzte. Sie hatte sich ein langes dunkelblaues T-Shirt übergezogen. Ihre braun gebrannten Beine waren nackt, ihre Füße steckten in grauen Wollsocken. Tomas fragte sich, ob sie trotz der stickigen Luft fror. Zwischen ihnen standen zwei Kaffeetassen auf dem Tisch. Nachdem er die Kaffeemaschine angestellt hatte, hatte er die Wohnzimmerjalousien hochgezogen, was ihm aus irgendeinem Grund das Gefühl gegeben hatte, alt zu sein. Aber er hatte das Halbdunkel in der Wohnung nicht ausgehalten.

Als Tomas, der das Gespräch aufzeichnete, Datum und Uhrzeit nannte, zuckte Emma Blom zusammen.

»Ist es wirklich schon so spät?«

»Ja.«

Tomas räusperte sich, schielte sehnsüchtig nach einer Schachtel Zigaretten und einem Feuerzeug, die hinter Emma Blom auf der Fensterbank lagen. Nachdem er einleitend erklärt hatte, dass Mattias Flink nicht der Mörder ihrer Freundin war, konnte er endlich die Fragen stellen, auf die er Antworten haben wollte.

»Sie und Carmen waren Freitagabend zusammen im Garbo. Um wie viel Uhr haben Sie sich getrennt?«

»Gegen halb eins, glaube ich. Genau weiß ich es nicht mehr. Wir waren ziemlich betrunken.«

»Aber Sie erinnern sich an den Abend?«

Emma Blom zuckte mit den Achseln.

»Einigermaßen. Aber manche Teile sind komplett dunkel.«

»Aber als Carmen und Sie sich getrennt haben, hatte Carmen vor, nach Hause zu gehen?«

»Was hätte sie sonst machen sollen?«

»Vielleicht wollte sie sich noch mit jemandem treffen?«

Emma Blom schüttelte den Kopf.

»Wissen Sie, ob Carmen einen Freund hatte? Oder einen Ex-Freund, mit dem es womöglich Differenzen gab?«

»Nein.«

Tomas hatte keine andere Antwort erwartet. Auch Carmen Diaz’ Eltern hatten gesagt, dass ihre Tochter keinen festen Freund gehabt hatte.

»Fällt Ihnen jemand ein, der Carmen etwas antun wollte? Jemand aus ihrem Bekanntenkreis, mit dem sie Streit hatte?«

»Sind Sie sicher, dass Carmen nicht von Mattias Flink getötet wurde?«

»Ja«, antwortete Tomas geduldig.

Er warf einen Blick in sein Notizbuch. Bisher hatte er noch nichts aufgeschrieben.

»Jetzt, wo Sie es erwähnen … Es gibt da eine Sache.«

Tomas hob den Kopf. Emma Blom langte hinter sich, griff nach Zigarettenschachtel und Feuerzeug und schüttelte eine Zigarette aus der Packung.

»Vor ungefähr zwei Wochen hatte Carmen einen Streit mit Jörgen Waltz. Ich habe nicht weiter darüber nachgedacht, weil ich sicher war, Flink hätte sie ermordet.«

Sie zündete die Zigarette an.

»Wer ist Jörgen Waltz?«, fragte Tomas.

»Sie kommen nicht von hier, oder?« Emma Blom zog an der Zigarette.

Er schüttelte den Kopf.

»Wenn Sie von hier wären, wüssten Sie, wer er ist. Jörgen Waltz ist ein Widerling. Wohnt alleine in einer Hütte außerhalb der Stadt. Er hat vor zwei Jahren ein Mädchen vergewaltigt. Jeder weiß, dass er es war, aber er wurde freigesprochen.«

Emma Blom lachte heiser und schüttelte den Kopf, wie um die Schlupflöcher des Rechtsstaats zu bekräftigen.

»Was ist zwischen ihnen vorgefallen? Zwischen diesem Waltz und Carmen, meine ich.«

Emma winkelte die Beine an, das T-Shirt spannte sich über ihren Knien.

»Sie sind mit dem Auto zusammengestoßen, unten am Bahnhof. Nichts Ernstes. Nur ein Kratzer. Carmen musste ihren Wagen nicht mal in die Werkstatt bringen. Aber sie ist aus dem Auto gesprungen und hat Waltz angeschrien. Er ist ausgerastet und hat sie gegen die Tür gedrückt.«

»Hat sie Anzeige erstattet?«

»Das wollte sie nicht. Sie hat Angst gekriegt. Sie hatte nicht gesehen, dass Waltz in dem anderen Wagen saß. Hätte sie es gesehen, hätte sie sich nicht getraut, ihn derart anzublaffen.«

Tomas beugte sich vor, schrieb Jörgen Waltz in sein Notizbuch und unterstrich den Namen.

Dann deutete er fragend auf die Zigaretten. Emma Blom nickte und schob die Schachtel über den Tisch.

»Hat Carmen hinterher noch mal von ihm gehört?«

Emma stand auf, nahm einen Teller aus einem Küchenschrank, bedeckte ihn mit Wasser und stellte ihn auf den Tisch.

»Soweit ich weiß, nicht.«

»War er Freitagabend im Garbo?«

Tomas zündete die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Durch das geöffnete Küchenfenster wehte Essensduft herein.

»Wenn, dann habe ich ihn nicht gesehen, und …«

Emma verstummte unvermittelt. Tomas wartete ab.

»Aber da gab es einen anderen Vorfall«, sagte sie zögernd. »Im Garbo.«

Tomas richtete sich auf.

»Sie ist mit einem Mann aneinandergeraten. An den Toiletten. Das Ganze klang total absurd, im ersten Moment habe ich gedacht, sie macht einen Witz. Wissen Sie, wer Micael Bratt ist?«

»Der Schauspieler?«

Emma Blom nickte.

»Carmen hat gesagt, er hätte sie in eine Kabine gedrängt und seinen Schwanz rausgeholt.«

»Wie ging es weiter?«

»Carmen hat den Türsteher geholt, der ihn rausgeworfen hat. Er ist draußen vor dem Club geblieben und hat rumgebrüllt.«

»Und Sie sind sicher, dass es der Micael Bratt war?«

»Ja, ich habe selbst gesehen, wie die Türsteher ihn an die Luft gesetzt haben. Er dreht hier in der Gegend einen Film, Die Jagd oder so ähnlich. Das stand jedenfalls in der Zeitung. Und irgendwann letzte Woche habe ich ihn im Spirituosenladen gesehen.«

Tomas klemmte sich die Zigarette zwischen die Lippen und notierte Micael Bratt neben Jörgen Waltz. Auch diesen Namen unterstrich er.

Ihm fiel der fehlende Slip ein.

»Ich habe eine Frage, die etwas sonderbar klingt«, sagte er.

»Fragen Sie.«

»Wissen Sie, ob Carmen einen Slip anhatte?«

Emma Blom runzelte die Stirn.

»Warum hätte sie keinen anhaben sollen?«

Tomas ignorierte die Gegenfrage.

»Ich muss Sie bitten, die Frage zu beantworten«, sagte er.

»Ja, sie hatte einen Slip an. Einen Stringtanga. Wir haben uns vorher hier bei mir umgezogen. Sie hat sich meinen Rock ausgeliehen. Ich habe noch ihre Jeans. Wollen Sie die haben?«

»Nein, die können Sie behalten. Darf ich kurz telefonieren?«

»Das Telefon steht auf der Kommode im Flur.«

Tomas rief in der Telefonzentrale des Polizeireviers Falun an, bat darum, mit Karl Rapp zu sprechen, und fasste das Gespräch mit Emma Blom für ihn zusammen. Rapp hörte ohne Unterbrechung zu. Als Tomas von Carmen Diaz’ Konfrontation mit Jörgen Waltz erzählte, wurde sein Kollege hellhörig.

»Jörgen Waltz, sagtest du?«

Tomas spähte zur Küche, wo Emma gedankenverloren vor sich hin starrte und ihre Kaffeetasse in den Händen drehte. Er senkte die Stimme.

»Ja, du weißt also, wer das ist?«

»Lass es mich so ausdrücken. Wenn wir Flink nicht so schnell geschnappt hätten, wäre Jörgen Waltz der Erste, den wir zur Vernehmung geholt hätten. Ich glaube, du hast deinen Täter.«

»Weißt du, wo er wohnt?«

»Jeder Mensch in Falun weiß, wo Waltz wohnt. Wir fahren zusammen hin und reden mit ihm.«

7

Sie verließen Falun durch die nördliche Ausfahrt. Rapp saß mit versteinerter Miene am Steuer seines Saab und hielt das Lenkrad in einem festen Zehn-vor-Zwei-Griff. Als Tomas zu ihm ins Auto gestiegen war, lag auf dem Beifahrersitz eine Polizeiakte mit Informationen über Waltz. Er war Jahrgang 1952 und als Jugendlicher wiederholt wegen Körperverletzung verurteilt worden. In den letzten zehn Jahren hatte er sich diesbezüglich nichts mehr zuschulden kommen lassen. Bis auf eine Ausnahme waren alle Opfer Frauen. Außerdem war Waltz vor fünf Jahren wegen sexueller Belästigung verurteilt worden, nachdem er sich in einem Park öffentlich entblößt hatte. Die Vergewaltigung, die Emma Blom erwähnt hatte, war ebenfalls vermerkt. Der Fall war vor Gericht gekommen, hatte aber mit einem Freispruch geendet. Waltz arbeitete als Lkw-Fahrer für eine Spedition mit Sitz in Mora.

»Hast du schon mal darüber nachgedacht, den Polizeiberuf an den Nagel zu hängen?«, fragte Rapp.

Tomas blickte von seiner Lektüre auf.

»Ich glaube nicht, dass ich für einen anderen Beruf geeignet bin«, antwortete er wahrheitsgetreu.

»Bis Samstag habe ich oft mit dem Gedanken gespielt. Mich fortgeträumt. Es mag seltsam klingen, aber wenn Dinge wie diese geschehen, erinnert man sich daran, warum man einmal Polizist werden wollte und warum wir gebraucht werden.«

»Da ist was Wahres dran«, pflichtete Tomas ihm bei.

»Eigentlich haben wir seit dem Freispruch nur darauf gewartet, dass so etwas passiert«, fuhr Rapp fort. Tomas war klar, dass er jetzt von Jörgen Waltz sprach.

Zehn Minuten später fuhren sie von der Bundesstraße 69 ab, und Tomas legte die Akte aus der Hand. Der Saab schaukelte über eine stillgelegte Bahntrasse, dann tauchten sie in dichten Tannen- und Fichtenwald ein. Schottersteine spritzten unregelmäßig gegen den Unterboden. Der Weg wurde zunehmend schmaler, schlängelte sich durch den Wald. Das letzte Stück war kaum noch als Weg zu bezeichnen. Es waren eher zwei Reifenspuren, denen sie folgten. Schließlich hielten sie auf einem zugewucherten Grundstück vor einer roten, baufälligen Holzhütte. Schlingpflanzen rankten über das Dach und kletterten an den Außenwänden empor. An dem Tag, an dem Jörgen Waltz stirbt oder von hier wegzieht, wird die Natur die Hütte erobern und sie dem Wald einverleiben, dachte Tomas.

Sie stiegen aus und gingen sich wachsam umsehend auf die Hütte zu. Es stand kein Fahrzeug auf dem Grundstück. Rapp hämmerte an die Vordertür, während Tomas durch ein verdrecktes Fenster spähte. In dem dunklen Raum konnte er die Umrisse eines Sofas und eines niedrigen Couchtisches ausmachen, aber kein Anzeichen, dass jemand zu Hause war.

»Ich denke, wir gehen rein«, sagte Rapp leise. »Ich habe nicht vor, den Dreckskerl ein zweites Mal davonkommen zu lassen.«

Tomas nickte. Wenn sie warteten, riskierten sie, dass Waltz Beweismaterial vernichtete oder verschwinden ließ.

»Wir müssen uns vorsichtig umsehen, damit niemand merkt, dass wir hier waren«, sagte er.

Rapp legte die Hand auf die Klinke und drückte sie nach unten. Die Tür ging auf.

Die Hütte bestand aus zwei Räumen, die sie in einem verbissenen Schweigen systematisch durchsuchten. Ein muffiger Schimmelgeruch hing in der Luft. In der Mitte des Wohnzimmers stand ein Eimer mit trübem grünem Wasser. Tomas nahm an, dass er dazu diente, Regenwasser einzufangen, das durch das Dach drang. Im Schlafzimmer lag ein ansehnlicher Stapel Pornohefte auf dem Nachttisch.

Die Wände waren kahl. Nirgends gab es ein Foto von Jörgen Waltz oder einer anderen Person. Als würden auch Waltz’ Verwandte, Verstorbene wie Lebende, seinen Anblick nicht ertragen.

»Was für ein Saustall«, murmelte Rapp.

Im Wohnzimmer, neben dem ausgeschalteten Fernseher, stand ein modernes Tastentelefon, das in der altertümlichen Hütte fehlplatziert wirkte. Tomas drückte die Wahlwiederholung, ein Trick, den er von Zingo gelernt hatte. Neben dem Telefon lag ein Zettel mit mehreren Nummern. Die Schrift war kindlich und ungelenk.

»Wie kann man so leben? Wie zum Teufel hält man das aus?«, rief Rapp, der das Schlafzimmer näher in Augenschein nahm.

Tomas aktivierte die Lautsprecherfunktion des Telefons und legte den Hörer daneben. Anstelle des Freizeichens erklang eine Warteschleifenmelodie.

»Du wirst gleich mit einem unserer megageilen Girls verbunden, bleib dran« , hauchte eine verführerische Frauenstimme.

Irgendeine Sex-Hotline. Er legte auf und machte sich auf die Suche nach dem Badezimmer. Er wollte nachsehen, ob er dort etwas fand, das mit der weißen Masse unter Carmen Diaz’ Fingernägeln übereinstimmen konnte. Im Bad stank es nach eingetrocknetem Urin und Exkrementen. Tomas hielt den Atem an, während er einen Schrank öffnete und zwischen verrosteten Nassrasierern und leeren Klopapierrollen kramte, die in einem wilden Durcheinander in den Regalen lagen. Aber unter den wenigen Hygieneprodukten gab es nichts, das der weißen Substanz ähnelte.

Er verließ das Bad und ging in die kleine Küche.

»Siehst du irgendwo einen Wäschekorb?«, rief er Rapp zu.

»Hier liegt ein Berg dreckiger Klamotten.«

»Sieh sie dir an.«

»Wonach suchen wir?«

»Irgendwas, was die weiße Masse erklärt, die Carmen Diaz unter den Fingernägeln hatte.«

Tomas hielt inne. Wenn Carmen Diaz’ Mörder ihren Slip mitgenommen hatte, musste er ihn als eine Art Trophäe betrachtet haben. Wenn Jörgen Waltz wirklich der Mann war, den sie suchten, war es nicht ausgeschlossen, dass der Slip sich hier irgendwo befand.

»Und einen Slip. Einen Stringtanga.«

»Alles klar«, rief Rapp zurück. Offenbar hatte er begriffen, worauf Tomas hinauswollte.

Eine halbe Stunde später hatten sie keinen der Gegenstände, nach denen sie suchten, gefunden. Tomas begann, die Geduld zu verlieren, und beschloss, wenigstens herauszufinden, wo Jörgen Waltz steckte.

»Wie lautet die Vorwahl von Mora?«, fragte er.

»0250«, antwortete Rapp.

Tomas ging zurück zum Telefon und überflog den Zettel mit den Nummern. Eine davon begann mit 0250. Er beugte sich vor, um die restlichen Zahlen zu entziffern, wählte und hielt den Hörer ans Ohr. Rapp stand währenddessen mit verschränkten Armen in der Wohnzimmertür und betrachtete ihn.

»Spedition Persson, Sie sprechen mit Anneli«, meldete sich eine Frauenstimme.

Tomas kam ohne Umschweife zur Sache, sagte, dass er Polizist sei und den Aufenthaltsort von einem ihrer Fahrer benötige.

»Jörgen ist krankgeschrieben«, sagte die Frau. »Ich nehme an, dass er zu Hause ist.«

»Seit wann ist er krankgeschrieben?«

»Da muss ich nachsehen, Moment … seit Montag. Ist etwas passiert?«

Tomas ignorierte die Frage.

»Können Sie sehen, wo er davor war?«

»Davor?«

»Ja. Am Freitag.«

Er wartete, während die Frau mit Papier raschelte. Wahrscheinlich blätterte sie in einem Ordner.

»Am Freitag hat er eine Tour von Trelleborg nach Orsa beendet.«

»Das heißt, er war Freitagabend in Dalarna?«

»Ja.«

»Um wie viel Uhr ist er angekommen?«

»Ankunftszeit in Orsa war 19:30 Uhr.«

Also konnte Waltz bequem wieder in Falun gewesen sein, bevor Carmen Diaz das Garbo nach Mitternacht verlassen hat, dachte Tomas. Er wollte sich gerade für die Auskunft bedanken und das Gespräch beenden, als ihm noch etwas einfiel.

»Können Sie noch weiter zurückgehen?«

»Das hängt davon ab, wie …«

»Zum Tag vorm Nationalfeiertag«, unterbrach er die Frau. »Zum fünften Juni. Wo war Waltz am fünften Juni?«

Eine Weile waren nur die Atemzüge der Frau zu hören.

»Da war er in Stockholm.«

Tomas schwieg.

»Er hat dort übernachtet, sehe ich, bevor er am sechsten Juni weiter nach Sundsvall gefahren ist«, fuhr die Frau am anderen Ende der Leitung fort.

»Gibt es ein bestimmtes Hotel oder eine Pension, in der Ihre Fahrer übernachten?«, fragte Tomas.

»Ja. Campingplatz Rosersberg.«

Tomas rief sich eine Karte von Stockholm vor Augen. Rosersberg lag zwischen Upplands Väsby und Märsta. Er bedankte sich für die Hilfe und legte auf. Rapp musterte ihn nachdenklich.

»Worum ging es zum Schluss? Warum hast du nach dem fünften Juni gefragt?«

Tomas brauchte frische Luft. Er ging nach draußen und blieb vor der Hütte stehen. Hinter ihm zog Rapp die Vordertür zu.

»Am fünften Juni wurde in Stockholm ein Mord verübt, der Ähnlichkeiten mit dem Mord an Carmen Diaz aufweist.«

Rapp sah ihn verblüfft an.

»Inwiefern?«

»Die Frau war jung, Ausländerin. Ihr Slip fehlte. Und sie wurde in der Nähe einer Flüchtlingsunterkunft gefunden.«

»Eine weiße Substanz?«

Tomas schüttelte langsam den Kopf.

»Nein, die gab es nicht. Jedenfalls nicht, soweit ich weiß. Ich bin nicht mit dem Fall befasst. Der Mord wurde in Märsta verübt, nicht weit von Rosersberg, wo Jörgen Waltz übernachtet hat. Mein Zuständigkeitsbezirk ist die Stockholmer Innenstadt. Ich bin rein zufällig am Tatort vorbeigefahren.«

Rapp drehte sich um. Sein Blick verweilte auf der Hütte. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, blieb aber stumm. Sie gingen zum Saab.

»Wir müssen die Kollegen in Märsta anrufen«, sagte Rapp. »Und alle Kollegen im Revier anweisen, nach Waltz Ausschau zu halten. Und wir müssen mit Fredriksson reden. Wir brauchen Instruktionen, wie wir weiter vorgehen sollen. Ob wir für die Fahndung nach Waltz ein paar Beamte abstellen können. Wie lange bleibst du hier?«

»Ich weiß es nicht.«

Rapp schloss den Wagen auf. Die Türverriegelung klickte.

»Wie hältst du es aus, als Polizist in Stockholm zu arbeiten?«, fragte er.

»Auch in Stockholm muss es Polizisten geben«, antwortete Tomas.