Es war fast zehn Uhr vormittags, als Tomas die Zufahrtsstraßen von Stockholm erreichte, trotzdem waren die Fahrbahnen noch komplett verstopft. Nachdem er in Azras Armen aufgewacht war und sie zur Flüchtlingsunterkunft zurückgebracht hatte, hatte er einen Anruf von Rapp erhalten, der ihm mitteilte, dass sie nun intern Kollegen für den Fall Carmen Diaz abstellen konnten und seine Anwesenheit nicht mehr erforderlich war. Tomas war daraufhin mit einem Gefühl der Nutzlosigkeit von Hallstahammar nach Falun zurückgekehrt. Er hatte seine Tasche aus der Pension geholt, in der er übernachtet hatte, im Polizeirevier die Tüte mit Micael Bratts Kleidung sowie alle anderen ermittlungsrelevanten Fundstücke abgeliefert, sein Kabuff von Büro ausgeräumt und war Richtung Stockholm gefahren. Rapp hatte sich auf dem Parkplatz von ihm verabschiedet und versprochen, ihn über den Stand der Ermittlung auf dem Laufenden zu halten.
Jetzt stand er im Schatten der heruntergekommenen Mietskasernen des Järvafältet im Stau. Als Tomas das Seitenfenster herunterkurbelte und sich eine Zigarette ansteckte, klingelte das Autotelefon.
Er klemmte die Zigarette zwischen die Lippen und nahm
ab.
»Wolf.«
In der Leitung knisterte es, aber Zingos Stimme war gut zu hören.
»Wo bist du?«, fragte sein älterer Kollege.
»In Rinkeby. Was gibt’s?«
Er war sauer auf Zingo, weil der ihn in Falun alleingelassen hatte. Andererseits war es nicht das erste Mal, dass Zingo nicht Wort hielt, es überraschte ihn nicht.
»Ich hab gehört, dass du nach dem Schauspieler gefragt hast, dem eine Vergewaltigung vorgeworfen wird?«
Die Stunden mit Azra hatten ihn die gestrige Schlagzeile vollkommen vergessen lassen.
»Weißt du, wer es ist?«
»Und ob. Micael Bratt.«
Die Zigarette fiel aus Tomas’ Mund und landete zwischen seinen Oberschenkeln auf dem Bezug. Fluchend tastete er über den Sitz. Hinter ihm hupte ein Auto.
»Hallo?«, fragte Zingo.
»Warte kurz.«
Tomas bekam die Zigarette zu fassen und stellte fest, dass sie ein Loch in den Plüschstoff gebrannt hatte.
»Ich muss mit Borssén sprechen«, fuhr er fort, als er die Situation unter Kontrolle bekommen hatte.
Im selben Moment fuhr das Auto vor ihm weiter.
»Weißt du, ob er im Haus ist?«
»Ich habe ihn heute Morgen gesehen. Mit einer blonden Perücke, Nylonstrümpfen und High Heels«, witzelte Zingo.
»Was soll das heißen? Ist er im Haus oder nicht?«
Irritiert warf Tomas die Kippe aus dem Fenster und schaltete einen Gang höher.
»Er ist im Urlaub. Auf Mallorca, glaube ich. Ylva Zethraeus vertritt ihn so lange. Worum geht es?«
Tomas erwog, Zingo ins Vertrauen zu ziehen, doch er hatte keine Ahnung, an welchem Ende er anfangen sollte. Er hatte vorgehabt, seine Gedanken erst in aller Ruhe zu ordnen, bevor er mit Zingo oder Borssén darüber redete. Jetzt würde er stattdessen mit Ylva Zethraeus sprechen müssen, die er nur dem Namen nach kannte.
»Kannst du mir einen Gefallen tun?«, fragte er. »Am sechsten Juni wurde in Märsta eine ermordete Frau aufgefunden, eine Nadija Alihodzic. Ich brauche den Obduktionsbericht. Kannst du die Kollegen in Märsta anrufen und sie darum bitten?«
»Wenn du mir sagst, warum.«
»Später. Ich muss jetzt ins Präsidium. Bis dann.« Rasch, bevor Zingo protestieren konnte, beendete Tomas das Gespräch. Mit einem seltsamen Gefühl in der Brust legte er den Hörer auf.
Nach der Begegnung mit Azra stand er vor einer Entscheidung, als Mensch und als Polizist. Das Ausmaß konnte er derzeit nicht absehen. Aber so viel wusste er mit Sicherheit: Die Vorgehensweisen bei den Morden an Carmen Diaz und Nadija Alihodzic waren verblüffend ähnlich. Allein die Tatsache, dass beide Frauen in der Nähe von Flüchtlingsunterkünften ermordet worden waren, genügte, damit jeder Polizist hellhörig wurde. Und mit dem Lkw-Fahrer Jörgen Waltz hatte er obendrein einen potenziellen Täter, der sich nachweislich in der Nähe beider Tatorte aufgehalten hatte. Ob auch Micael Bratt Gelegenheit gehabt hatte, den Mord an Nadija Alihodzic zu begehen, blieb noch zu ermitteln.
Eines der vielen Probleme der schwedischen Polizei bestand in ihrer Dezentralisierung, dachte Tomas, während er durch Solna fuhr. Die eine Hand wusste nicht, was die andere tat. Wäre er nicht nach Falun geschickt worden, wären die Übereinstimmungen zwischen den beiden Fällen vermutlich monatelang unentdeckt geblieben, wenn sie überhaupt entdeckt worden wären.
Als Tomas den Volvo in der Hornsgatan abgestellt hatte und die Wohnungstür aufschloss, drangen die Stimmen der Kinder durch das geöffnete Fenster. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass sie aus Rättvik zurückgekommen waren. Er ging hinein. Alexander und Ebba stürmten ihm jubelnd entgegen.
»Was macht ihr denn schon hier, meine Mäuse?«, fragte er und umarmte sie. Danach nahm er Alexander huckepack und Ebba auf den Arm.
»Ich will ein Fußballtrikot, Papa!«, verkündete Alexander.
»Ein Fußballtrikot?«
»Ja, von unserer Nationalmannschaft. Für das Spiel gegen Kamerun.«
»Klar kriegst du für die WM ein Trikot. Willst du auch eins, Ebba?«
Seine Tochter nickte strahlend.
Mit den Kindern, die wie Klammeräffchen an ihm klebten, ging Tomas ins Schlafzimmer, wo Klara Ebbas und Alexanders Taschen auspackte. Auf der Fensterbank stand ein ausgeschalteter Lichterbogen, wie als Manifest seiner Unfähigkeit als Ehemann.
»Hallo«, sagte er.
Klara drehte sich um und lächelte mechanisch. Azras nackter Körper blitzte vor ihm auf, rasch verscheuchte er das Bild.
»Ich wusste nicht, dass ihr schon zurück seid«, sagte er.
»Die Kinder wollten nicht mehr in Rättvik bleiben. Sie wollten zurück in die Stadt. Zu dir.«
Tomas ging in die Knie, setzte Alexander und Ebba ab und bat darum, allein mit ihrer Mutter reden zu dürfen. Die Kinder rannten ins Wohnzimmer, und Tomas schloss behutsam die Tür hinter ihnen.
»Geht es dir gut?«, fragte er.
Klara hatte dunkle Ringe unter den Augen, ihr Haar war fettig und strähnig. Tomas verspürte Zärtlichkeit für sie und Bewunderung für den Kraftakt, den sie bewältigte, damit die Familie funktionierte.
»Ich bin nur ein bisschen müde«, sagte sie.
Ohne Vorwarnung stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie blinzelte, fuhr sich mit den Händen über die Wangen.
»Was ist los?«
Er trat einen Schritt auf sie zu.
»Ich fühle mich einsam, Tomas. Ich fühle mich so verdammt einsam. Willst du das hier wirklich? Willst du das Haus kaufen? Willst du mit mir zusammenleben? Mit uns?«
Klara deutete in Richtung Wohnzimmer.
Tomas starrte sie an.
»Ja. Natürlich will ich mit dir zusammenleben«, hörte er sich antworten.
Warum tue ich ihr das an?, dachte er. Ihr und den Kindern. Was bin ich nur für ein Mensch?
»Das ist, was dein Mund sagt, Tomas. Aber dein Verhalten, dein Blick sagen etwas vollkommen anderes. Das Problem ist nicht, dass du oft weg bist. Das Problem ist, dass du ganz woanders bist. Selbst dann, wenn du mit uns zusammen bist.«
Klara klang nicht vorwurfsvoll, nicht wütend. Eher resigniert. Er hasste sich dafür, diesen Tonfall in ihre Stimme gebracht zu haben.
Doch bevor er etwas antworten konnte, ertönte im Wohnzimmer lautes Geheul. Klara hob abwehrend die Hände und drängte sich an ihm vorbei aus dem Zimmer. Tomas sank aufs Bett und starrte auf den Lichterbogen.
Nach einer Weile erhob er sich, ging zum Fenster, nahm die Weihnachtsdekoration von der Fensterbank, zog das Kabel aus der Steckdose und wickelte es auf.
Gedankenverloren drehte Micael Bratt das Whiskyglas, das er auf seinem Oberschenkel balancierte, während er hinaus aufs Wasser blickte. Bengt J. Lindwall, seit zehn Jahren sein Agent, saß in einem hellen Sommeranzug nehmen ihm, seine übliche Garderobe auf Värmdö, wo sein Sommerhaus lag.
Als Bengt seine Sitzhaltung änderte, protestierten die Bretter der Holzveranda unter seinem Gewicht.
»Ich will ehrlich zu dir sein, Micke. Ich mache mir Sorgen. Den Amerikanern wird das gar nicht gefallen. Das sind schwerwiegende Anschuldigungen, und du wurdest bei einer Lüge ertappt. Das geht aus diesem Zeitungsartikel eindeutig hervor. Du behauptest, der Frau nie begegnet zu sein, und zwei Sekunden später hält dir diese Journalistin ein Foto unter die Nase: von dir und dieser Frau, bei dir zu Hause, in deinem Bett.«
Micael antwortete nicht, blickte weiter gedankenverloren auf die Stockholmer Schärenlandschaft, wo Segelboote zwischen den Inseln kreuzten. Bengt wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht.
»Hörst du mir zu? Wir müssen diese Geschichte vor deinem Flug nach New York aus der Welt schaffen. So etwas dürfen wir nicht im Gepäck haben. Haben sie sich bei dir gemeldet?«
Micael drehte den Kopf.
»Die Bullen?«
»Ja.«
»Nein, haben sie nicht.«
»Du solltest dich mit ihnen in Verbindung setzen. Dich kooperativ zeigen. Ihnen sagen, dass du deinen Namen reinwaschen willst.«
»Ja, vielleicht«, murmelte Micael abwesend.
Bengt hob den Arm und nippte an seinem Whisky. Seine goldene Rolex funkelte im Sonnenlicht. Micael war besorgt. Besorgter, als er es sich nach außen hin anmerken lassen wollte.
»Unser Ziel ist Hollywood. Das habe ich dir damals versprochen, als du die Papiere unterzeichnet hast. Daran ändert sich nichts, Micke. Wir gehen nach Hollywood, etwas anderes steht nicht zur Debatte. Du kriegst deinen Stern auf dem ›Walk of Fame‹. Aber diese Situation muss bereinigt werden. Der Weg nach Hollywood führt über den Broadway.«
Micael seufzte und trank einen Schluck Whisky.
»Das Problem ist, dass ich mich nicht daran erinnere, dieser Frau begegnet zu sein. Was bedeutet, dass ich mich nicht verteidigen kann. Sie behauptet, ich hätte sie am zweiten Juni vergewaltigt. Aber ich weiß nicht mehr, was ich an dem Tag gemacht habe, ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt in Stockholm war. Meine Erinnerung ist komplett schwarz. Das Foto muss nicht bei dieser Gelegenheit entstanden sein. Es kann genauso gut schon früher gemacht worden sein.«
Er trank einen weiteren Schluck.
»Denk mal darüber nach. Wir vögeln irgendwann im Frühjahr. Ich rufe sie nicht zurück. Sie wird sauer und erinnert sich an dieses Foto. Vielleicht hat es eine Freundin von ihr gemacht, die an diesem Abend mit dabei gewesen ist. Sie denkt sich die Vergewaltigung aus und verkauft die Story ans Aftonbladet , das die Geschichte mit Haut und Haaren schluckt.«
Bengt nickte abwesend.
»Ja, gut möglich.«
In den letzten Tagen hatte Micael eine Unruhe erfasst, ein Druck auf der Brust, der nicht verschwinden wollte.
»Glaubst du, dass das mit dieser anderen Sache zusammenhängt?«, fragte er.
Die Worte rutschten unvermittelt aus ihm heraus. Bengt sah ihn an.
»Mit der Vergiftung?«
Micael nickte langsam.
»Das ist vier Jahre her«, erwiderte Bengt. »Du musst das hinter dir lassen. Glaubst du, die Frau vergiftet dich, wartet dann vier Jahre und saugt sich dann aus den Fingern, du hättest sie vergewaltigt? Das sind zwei voneinander völlig unabhängige Ereignisse. Sie haben nichts miteinander zu tun. Diesen Brief damals hat irgendein Verrückter geschickt.«
Micael schnitt eine Grimasse.
»Das wissen wir nicht. Die Polizei hat den Absender nie ermittelt.«
Die Magenschmerzen, die Angst, das Krankenhauspersonal. Das besorgte und liebevolle Gesicht seiner Mutter. Viktoria, die an seinem Bett gesessen und seine Hand gehalten hatte. Damals hatte er sich geschworen, sich zu ändern, ein guter Vater zu werden, die verlorenen Jahre nachzuholen. Doch dann war ihm das Leben in die Quere gekommen.
Er holte einige Male tief Luft, um sich zu beruhigen.
»Jedes Mal, wenn ich einen Brief kriege, denke ich daran«, murmelte er.
»Was hast du gesagt?«
Micael schüttelte den Kopf. Er blickte auf die friedliche Idylle des Schärengartens, versuchte, sich von dieser Ruhe anstecken zu lassen, doch die Angst kribbelte weiter unter seiner Haut.
»Nichts.«
Im Vergnügungspark Gröna Lund schien die Luft förmlich zu kleben von Popcorn- und Zuckerwattegeruch. Vera hastete hinter Sigge her, der mit einer Olivendose in der Hand zu den Karussells rannte. Sie hatte ein McDonalds-Menü als Mittagessen vorgeschlagen, aber Oliven waren ihm lieber gewesen.
Während Sigges Rücken im Besuchergedränge Slalomkurven beschrieb, wurde Vera bewusst, dass es ihr gelungen war, nicht mehr an Micael Bratt zu denken. Der Frust, den sie gespürt hatte, als sie Sigge vor einer Stunde bei Birgitta abgeholt hatte, ohne den Schauspieler zuvor erreicht zu haben, war wie weggeblasen.
Sie hatte sich den Rest des Tages freigenommen, um mit Sigge in den Vergnügungspark zu gehen. Sie hatten eine geschlagene Stunde an der Kasse angestanden, doch zu guter Letzt hatte sie ihm das Armband für beliebig viele Fahrten in allen Attraktionen umgebunden. Sie hatte lange gezögert, hierherzukommen, unsicher, ob sie es ertragen würde. Doch Sigges leuchtende Augen, als er die Werbeplakate in der Stadt entdeckt hatte, hatten den Ausschlag gegeben, und sie wollte ihm so gern ein besonderes Erlebnis bieten.
»Sigge«, rief sie. »Warte. Willst du nicht mit dem Autoscooter fahren?«
Sigge blieb augenblicklich stehen und drehte sich zu ihr um. Er war noch mit keinem der Fahrgeschäfte gefahren. Er hatte die Schiffsschaukel und das Riesenrad eingehend betrachtet, sich jedoch dagegen entschieden. Jetzt blickte er nachdenklich zum Autoscooter. Ließ sich Zeit.
»Nee. Ich will erst sehen, was am besten ist, bevor ich mich entscheide.«
»Du weißt, dass du so oft fahren darfst, wie du willst, oder?«
»Ja.«
Sigge flitzte wieder durch die Menge davon, und Vera versuchte, so gut es ging mit ihm Schritt zu halten. Sein gelbes Schwedentrikot hüpfte zehn Meter vor ihr auf und ab.
Doch ihre Beine waren schwer wie Blei. Jeder Schritt erinnerte sie an den Tag vor zwölf Jahren, als das Schreckliche geschehen war. Hier, in Gröna Lund, hatte alles angefangen. Die Nacht, die ihr Leben verändert hatte. Ihre Familie zerrüttet hatte. Überall sah sie Spuren der Tragödie.
»Ich hab mich entschieden!«, rief Sigge und schoss wie ein geölter Blitz auf die Geisterbahn zu. Als Vera ihn einholte, stand er ein Stück abseits von der Schlange und blickte mit großen Augen auf das schaurige Gebäude, auf dessen vorderer Balustrade gerade ein Gespenst erschien.
»Traust du dich rein?«, fragte Vera.
»Ich weiß nicht.«
»Du kannst meine Hand halten.«
Als sie sich gerade ans Ende der Schlange stellen wollten, klingelte Veras Handy. Sie drückte Sigge ein paar Kronen in die Hand und erlaubte ihm, Süßigkeiten zu kaufen, dann ging sie ans Telefon.
»Vera Berg, Kvällsposten «, meldete sie sich.
»Kommst du?«
Beim Klang von Anita Alséns Stimme stieg augenblicklich Frust in ihr auf. Es fiel ihr schwer, Worte zu finden.
»Kommen?«
»Ja. In die Redaktion.«
Eigentlich war sie nicht überrascht. Die Zeitung besaß die Fähigkeit, das Leben ihrer Mitarbeiter in Beschlag zu nehmen, zu erwarten, dass sie rund um die Uhr zur Verfügung standen.
»Worum geht’s?«, fragte sie.
»Carl-Erik Björkegren. Klingt der Name bekannt?«
Anita wusste sehr wohl, dass Vera der Name des Finanzmannes, der seit gestern als vermisst galt, geläufig war. Es gab niemanden in ganz Schweden, der seinen Namen nicht kannte. Björkegrens Verschwinden bestimmte die landesweiten Schlagzeilen, und sowohl Kanal 1 als auch TV 4 hatten den Tag über in Dauerschleife darüber berichtet.
»Ja.«
»Wir haben einen glaubwürdigen Tipp reinbekommen. Björkegren hätte am zweiten Juni eine Konferenz in Stockholm besuchen sollen. Also einen Tag nachdem er zuletzt gesehen wurde. Das ist die letzte Spur von ihm. Machst du eine Story darüber? Interviewst die Beteiligten und das ganze Pipapo?«
Veras Magen verkrampfte sich. Sie wusste, dass sie nicht Nein sagen konnte. Reportagen wie diese waren ihr Job als überregionale Reporterin.
»Bis wann willst du den Artikel?«
»Sagen wir in drei Stunden.«
In diesem Moment erschien Sigge mit Zuckerwatte, die größer war als sein Oberkörper. Er zupfte einen weißen Fetzen heraus und drückte ihn sich über die Oberlippe.
»Guck mal, ich hab einen Bart«, strahlte er.
Die Olivendose schien er weggeworfen zu haben. Vera lächelte ihn an. Sie durfte ihn nicht enttäuschen. Nicht noch einmal. Sie hatte ihm einen ganzen Nachmittag im Vergnügungspark versprochen. Und sie hatte sich extra dafür freigenommen.
»Ich kann nicht«, sagte sie zu Anita. »Ich bin mit Sigge in Gröna Lund. Kann ich den Artikel heute Nacht schreiben?«
Anita brach in ein erstauntes Lachen aus.
»Es gibt doch Babysitter? Ich brauche den Artikel jetzt.«
»Es tut mir leid, aber ich habe es ihm versprochen.«
Aus der Redaktion am Kungsholmstorg drang ein tiefer Seufzer durch die Leitung. Vermutlich ließ er die dünnen Wände der Jahrhundertwendewohnung erzittern.
»Hör mir zu, Vera. Man trifft im Leben unterschiedliche Entscheidungen. Ich habe mein Leben so strukturiert, dass ich viel arbeiten kann. Ivarsson hat dieselbe Entscheidung getroffen. Wenn du Erfolg haben willst, musst du das auch tun. Sonst … kann es schwierig werden. Ich finde eine andere Lösung für den Artikel. Aber ich hoffe, dass du dir Gedanken darüber machst, wie deine Zukunft aussehen soll.«
Ihre Chefin beendete das Gespräch, bevor Vera etwas erwidern konnte. Sie blieb mit dem Telefon in der Hand stehen. Ihr war klar, dass das Konsequenzen haben würde.
»War das Papa?«, fragte Sigge.
»Wie kommst du darauf?«
»Du siehst traurig aus.«
»Nein, Großer. Ich musste nur an einen alten Freund denken. Was ist, traust du dich in die Geisterbahn?«
Sigge druckste herum.
»Nein.«
»Du musst nicht, wenn du nicht willst.«
Der Junge wirkte plötzlich bedrückt.
»Ist irgendwas, Siggis?«
»Als ich mal mit Papa im Vergnügungspark war, haben seine Freunde mich erschreckt, und …«
Sigge verstummte. Vera sah, dass er sich schämte. Sie ging vor ihm in die Hocke.
»Was ist passiert?«
»Ich habe mir in die Hose gemacht. Und alle haben mich ausgelacht. Ich habe mich nicht getraut, es Papa zu sagen. Es hat ganz doll gejuckt. Und als ich nach Hause gekommen bin, habe ich die Hose weggeworfen, obwohl sie neu war.«
Vera nahm ihn in die Arme.
»Das ist okay, Großer. Papas Freunde sind dumm.«
»Bist du böse auf mich?«
»Nein, Goldschatz. Jeder hat Geheimnisse. Jeder hat ein Recht auf Geheimnisse.«
»Du auch?«
»Ja.«
Vera überlegte einen Moment.
»Komm, dann zeige ich dir was. Mein Geheimnis. Ich habe dir doch von meinem kleinen Bruder Vincent erzählt?«
Sigge nickte.
Ein paar Minuten später standen sie vor dem Lachkabinett. Vera schluckte schwer, als sie das schiefe Gebäude betrachtete.
»Und du weißt noch, dass ich gesagt habe, dass Vincent im Himmel ist?«
»Ja.«
»Am Abend, bevor er gestorben ist, waren wir hier. Er hat sich da drin übergeben. Willst du reingehen?«
Sigge machte plötzlich ein ängstliches Gesicht.
»Ich will mich nicht übergeben.«
»Vincent war damals betrunken, Goldschatz. Du nicht.«
Vera ließ Sigge vorgehen, dann erklomm sie die beweglichen Treppenstufen, die asynchron hoch und runter gingen, während die Erinnerungen an den Abend in ihr aufstiegen, der ihr Leben von Grund auf verändert hatte. Als sie die Hängebrücke erreichten, schnürte sich ihr Magen zusammen.
»Hier war es«, sagte sie und blieb stehen.
Sie musste sich am Geländer festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
»Was?«
»Hier hat Vincent sich übergeben.«
Die Brücke schwankte leicht, und Sigge lachte. Als sie jedoch heftig zu schaukeln begann, stolperte er und ließ seine Zuckerwatte fallen. Sein fröhliches Lachen wich einer enttäuschten Miene.
»Das macht nichts. Du kriegst eine neue«, versprach Vera, und Sigge entspannte sich.
»Warum ist Vincent gestorben«, fragte er dann.
Vera wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie sah sich um, während die Brücke schwankte, als suche sie nach unsichtbaren Spuren ihres kleinen Bruders. Er hatte von der Brücke gekotzt, betrunken von einer Mischung aus Birnencognac und selbst gebranntem Schnaps. Die Sicherheitsbeamten des Parks hatten sie beide hochkant rausgeworfen, und daraufhin war das Schreckliche geschehen und hatte ihre Welt aus den Angeln gerissen.
»Ich weiß es nicht, Großer, es war ein Unfall. Aber ich hätte es nicht so weit kommen lassen dürfen.«
Sie hatte irgendwo gelesen, dass man sich seinen Traumata stellen sollte. Damit die posttraumatischen Symptome abklingen konnten. Aber diese Theorie erschien ihr in diesem Moment alles andere als glaubwürdig. Bilder, die sie nicht sehen wollte, wirbelten in ihrem Kopf umher. Sie schloss die Augen. Doch es half nichts, davon wurde ihr nur schwindelig.
Hinter ihnen erklang ein vernehmlicher Seufzer. Am Anfang der Hängebrücke stand eine korpulente Familie, und die Mutter verdrehte demonstrativ die Augen in ihre Richtung, weil sie ihnen den Weg versperrten.
»Haut ab, wir unterhalten uns!«, rief Sigge.
Vera konnte ein Grinsen nicht unterdrücken und legte Sigge den Arm um die Schultern. Die Mutter musste sich mit ihren Sprösslingen an ihnen vorbeidrängen.
»Bist du traurig?«, fragte Sigge.
»Ein bisschen. Aber ich bin froh, dass du hier bei mir bist.«
Sie zerzauste ihm die Haare und genoss es, dass er sich an sie schmiegte. Um nicht zu weinen, kniff sie die Augen zusammen, doch dadurch sah sie Vincents leblosen Körper nur umso deutlicher vor sich. Das viele Blut. Wie sie sich auf ihn gelegt hatte, als würde ihn das wieder lebendig machen.
»Waren deine Eltern sehr traurig?«, fragte Sigge.
»Ja.«
Seit Vincent gestorben war, hatte sie nicht mehr mit ihrem Vater geredet. Ein geschlagenes Jahr lang hatte er durch sie hindurchgesehen, obwohl sie im selben Haus gelebt hatten, war aufgestanden, wenn sie sich an den Tisch gesetzt hatte. Am Ende hatte er sie gebeten auszuziehen.
»Treffen wir sie darum nie?«
»Ich glaube schon. Menschen, die traurig sind, versuchen manchmal jemanden zu finden, dem sie die Schuld geben können.«
»Machst du das auch?«
»Ja. Aber ich gebe nur mir allein die Schuld. Komm jetzt, Goldschatz.«
Sie gingen weiter Richtung Ausgang. Am Fliegenden Teppich nahm Vera Sigge auf den Schoß und umarmte ihn fest, während der Teppich sie durch die Lüfte davontrug.
Als sie wieder unten auf dem Platz standen, klingelte abermals ihr Handy. Auf dem Display stand die Nummer der Kvällsposten -Redaktion.
»Was ist jetzt wieder?«, blaffte sie.
»Tut mir leid, dass ich störe«, erwiderte Per Svensson, der Volontär. »Aber du hast mich darum gebeten anzurufen.«
»Tut mir leid. Ich dachte, es wäre jemand anders.«
»Kein Problem. Ich glaube, ich weiß, wo Bratts Agent sein könnte.«
Vera hatte den ganzen Vormittag über versucht, Bengt J. Lindwall zu erreichen. Sie hatte ihn mehrmals vergeblich angerufen und sogar an die Wohnungstür seiner feudalen Wohnung in Östermalm geklopft. Bei der aktuellen Berichterstattung über seinen Schützling wäre es nicht verwunderlich, wenn er die Stadt verlassen hätte und nicht ans Telefon ginge. Aber sie musste ihn ausfindig machen. Am Ende hatte sie Sigge abholen müssen und Per Svensson gebeten, in Erfahrung zu bringen, wo Lindwall stecken könnte.
»Er besitzt ein Sommerhaus in den Schären, nicht weit von Stockholm. Ich habe die Info vom Katasteramt. Das Haus liegt draußen auf Värmdö.«
Per Svensson nannte ihr die Adresse, Vera machte sich eine geistige Notiz. Als sie das Gespräch beendet hatte, merkte sie, dass Sigge mit düsterer Miene und herunterhängenden Schultern neben ihr stand.
»Was ist los, Großer?«
»Müssen wir jetzt gehen? Musst du wieder arbeiten?«
Einen Moment lang war Vera versucht, Ja zu sagen. Aber heute war Sigge wichtiger als die Arbeit. Lindwall würde morgen bestimmt noch immer in seinem Sommerhaus sein. Allerdings hatte sie vor, sobald Sigge schlief, Birgitta zu bitten, auf ihn aufzupassen, damit sie diesem Polizisten Tomas Wolf einen Besuch abstatten konnte. Sie wollte wissen, ob er dieselben Schlussfolgerungen gezogen hatte wie sie oder ob er nur seinen Bruder aus der Untersuchungshaft hatte holen wollen.
»Nein, der Spaß geht erst richtig los. Wir fahren jetzt mit der Achterbahn.«
Vera griff nach Sigges Hand und zog ihn mit sich, konnte jedoch den Impuls nicht unterdrücken, den Kopf zum Ausgang des Parks zu drehen. Als ihr Blick auf ein Mädchen und einen Jungen im Teenageralter fiel, die eine Zigarette rauchten, wallten erneut die Erinnerungen in ihr auf. Vincent und sie waren von den Sicherheitsbeamten zum Ausgang eskortiert worden. Dann war sie auf ihren Roller gestiegen, Vincent hatte sich dicht hinter sie gesetzt, und kurze Zeit später war nichts mehr gewesen wie zuvor. Was dann passierte, war ihre Schuld gewesen. Eine Stunde später hatte Vincent leblos vor ihr gelegen.
Vera drückte Sigge im Gehen fest an sich, als wollte sie ihn vor ihrer eigenen Vergangenheit schützen.
Nach dem Abendessen erledigte Tomas den Abwasch. Er machte die Küchentür zu, bearbeitete die Teller mit der Spülbürste, stellte sie hochkant in das graue Abtropfgestell und begann mit den Gläsern.
Durch die dünne Rigipswand drangen die Stimmen seiner Familie zu ihm herüber. Klara lachte laut über etwas, das Ebba gesagt hatte, und Tomas musste unwillkürlich lächeln. Doch Klaras Lachen brach abrupt ab, als das Telefon läutete. Ein paar Sekunden später ging die Tür auf, und sie steckte den Kopf in die Küche.
»Für dich«, sagte sie.
Tomas wischte seine Hände an den Jeans ab und ging an den Apparat im Flur. Es war Zingo.
»Ich hab den Obduktionsbericht vor mir liegen und wollte ihn dir gerade zufaxen«, sagte der.
»Danke.«
»Doch dann hat mich die Neugier gepackt«, fuhr Zingo fort. »Und ich habe mich gefragt, wieso du dich dafür interessierst. Also habe ich mich ein bisschen umgehört und erfahren, dass dein Bruder im Mordfall dieser Nadija Alihodzic vernommen worden ist. Willst du den Bericht deshalb? Du weißt sicher, dass das nicht ganz koscher ist.«
Tomas zog an der Telefonschnur und setzte sich an den Küchentisch. Sie sollten sich schnurlose Telefone zulegen, aber die waren so teuer.
»Das ist nicht der Grund«, erwiderte er. »Wenn du wie vereinbart nach Falun gekommen wärst, hättest du auch gemerkt, dass die beiden Morde Ähnlichkeiten aufweisen.«
»Ach so?«
»Ja. Aber ich will erst den Obduktionsbericht lesen, bevor ich näher darauf eingehe.«
»Ich warte mit Spannung.«
»Aber eins kann ich schon jetzt sagen. Der Gedanke ist mir heute gekommen. Wenn jemand in diesem Land ungestört morden will, tut er gut daran, seine Opfer auf unterschiedliche Polizeibezirke zu verteilen. Aber mehr dazu später.«
Sie beendeten das Gespräch, und Tomas ging ins Schlafzimmer, wo das Faxgerät bereits Seiten ausspuckte.
Er knipste die Schreibtischlampe an und begann zu lesen, musste aber bald enttäuscht feststellen, dass in dem Obduktionsbericht keine weiße Substanz erwähnt wurde. Er verschloss den Bericht im Waffentresor, der hinten im Kleiderschrank stand, und ging ins Wohnzimmer.
Für die Kinder war es Schlafenszeit, und Klara scheuchte sie ins Bad, um ihnen die Zähne zu putzen. Tomas schaltete den Fernseher ein. Kanal 1 informierte ihn, dass für die brütende Hitzewelle noch kein Ende in Sicht war. Es versprach, ein rekordverdächtiger Sommer zu werden. Auf den Wetterbericht folgte die Sportschau, wo Tommy Svensson, der Trainer der schwedischen Nationalmannschaft, in einem sonnigen San Diego ein Interview gab. Bis zum Auftaktmatch gegen Kamerun waren es noch fünf Tage, und Tomas beschloss, gleich morgen mit Alexander und Ebba ins Sportgeschäft am Ringvägen zu fahren und ihnen die versprochenen Trikots zu kaufen. Die Türklingel riss ihn aus seinen Gedanken. Hastig stand er auf, doch im Flur stieß er auf Klara, die ihm zuvorgekommen war.
»Eine Frau will mit dir sprechen«, sagte sie.
Tomas wurde schwindelig. Konnte es Azra sein? Doch die Frau, die er über Klaras Schulter hinweg entdeckte, hatte er noch nie gesehen.
Er ging zur Tür.
»Ja?«
»Mein Name ist Vera Berg. Ich bin Journalistin bei der Kvällsposten , und ich muss mit Ihnen reden.«
»Worüber?«
»Über einen Vergewaltigungsfall.«
Wut flammte in ihm auf.
»Wenden Sie sich an die Pressestelle der Polizei. Sie können nicht einfach bei mir zu Hause aufkreuzen«, blaffte er und wollte die Wohnungstür schließen.
Doch die Frau trat einen Schritt vor und hielt sie fest.
»Nur einen Moment. Ich möchte, dass Sie das hier lesen.«
Sie nahm einen dünnen Papierstapel aus ihrer Handtasche. Tomas konnte eine gewisse Neugier nicht verhehlen.
»Wenn es nicht lange dauert.«
Er deutete auf die weißen Gartenmöbel im Laubengang vor der Wohnung, und sie setzten sich.
Die Frau reichte ihm die Dokumente. Eine Anzeigenaufnahme der Malmöer Polizei zu einer Vergewaltigung im März dieses Jahres.
Er sah sie an.
»Warum kommen Sie damit zu mir? Die Ermittlungen der Malmöer Kollegen fallen nicht in meine Zuständigkeit.«
»Ich habe gehört, dass Sie Erkundigungen eingeholt haben. Im Mordfall Nadija Alihodzic in Märsta.«
Die Journalistin kramte eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug aus ihrer Handtasche.
»In dem Ihr Bruder von der Polizei vernommen wurde«, fuhr sie ungerührt fort und blies den Rauch aus.
Tomas warf ihr einen gereizten Blick zu, dann vertiefte er sich wieder in die Dokumente.
Sein Puls begann, schneller zu schlagen. Die Ähnlichkeiten zwischen der Anzeigenstellerin, Carmen Diaz und Nadija Alihodzic waren deutlich. Sowohl was ihr Alter als auch ihr äußeres Erscheinungsbild betraf. Die Anzeigenstellerin hieß Mersiha Selimovic und war auf dem Weg zu der Flüchtlingsunterkunft, in der sie wohnte, überfallen worden.
Tomas’ Hände wurden feucht, und er presste die Fingerspitzen gegen die Handinnenseite. Flüchtig blickte er zu Vera Berg, er wollte ihr nicht zeigen, wie elektrisiert er war, dann las er weiter.
Das Anzeigenprotokoll war gelinde gesagt mangelhaft. Die Vernehmungen, die mit Mersiha Selimovic geführt worden waren, schienen in aller Eile und ohne großes Engagement stattgefunden zu haben. Obwohl sie nur gebrochen Schwedisch sprach, war kein Dolmetscher hinzugezogen worden.
Ganz hinten gab es Fotos ihrer Kleidung. Tomas’ Herz pochte schneller, als er die dunkelblaue Jacke betrachtete, die sie am Tatabend getragen hatte. Auf dem Kleidungsstück war ein deutlicher weißer Fleck. Prüfend hielt er die Aufnahme in den gelben Schein der Außenbeleuchtung. Dann blätterte er einige Seiten zurück, um nachzusehen, ob die Substanz näher analysiert worden war. Das war sie nicht.
Tomas holte tief Luft, um einen kühlen Kopf zu bewahren. Er wollte sich auf keinen Fall anmerken lassen, wie alarmiert er war. Die Journalistin durfte es nicht merken. Er legte das Anzeigenprotokoll auf den Tisch.
»Warum kommen Sie damit zu mir?«, fragte er.
»Wie ich bereits sagte. Weil Sie, genau wie ich, Erkundigungen im Mordfall Nadija Alihodzic eingeholt haben«, erwiderte Vera Berg.
Er drehte sich um und blickte durch das Küchenfenster. Klara saß mit einer Tasse vor sich am Küchentisch und betrachtete ihn. Als ihre Blicke sich trafen, wandte sie das Gesicht ab.
»Woher wissen Sie das?«
Die Journalistin nahm einen letzten, hastigen Zug von ihrer Zigarette und drückte sie im Aschenbecher auf dem Tisch aus.
»Ich habe meine Quellen.«
Sie maßen einander mit Blicken. Auf der Hornsgatan raste ein Auto vorbei, das Getriebe jaulte. Tomas fuhr zusammen und krümmte sich. Urplötzlich hatte er keine Ahnung, wo er sich befand oder wer die Frau vor ihm war.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.
Er richtete sich auf und blickte sich um, auf der Suche nach etwas, das ihm Halt gab, das bekannt war, vertraut.
»Hallo?«
Die fremde Frau auf der anderen Tischseite beugte sich vor und musterte ihn. Verzweifelt versuchte er, sich daran zu erinnern, wer sie war. Seine Hände zitterten. Er umklammerte die Tischkante, damit das Zittern aufhörte.
Langsam kehrte seine Erinnerung zurück. Sein Atem ging so schwer, als ob seine Lungen sich zum ersten Mal seit Minuten mit Sauerstoff füllten. Tomas kniff die Augen zu und sammelte sich, dann sah er die Frau wieder an. Vera Berg. So hieß sie.
»Mir geht es gut«, presste er hervor.
Er stand auf. Vera Berg ebenfalls. Sie riss eine Seite aus ihrem Notizbuch und schrieb ihren Namen und ihre Telefonnummer darauf.
»Ich sehe eine Verbindung zwischen dem Überfall in Malmö und dem Mord in Märsta«, sagte sie. »Ich denke, Ihnen geht es genauso. Vielleicht gibt es noch weitere Fälle. Behalten Sie die Unterlagen, ich habe Kopien.«
Tomas sah ihr nach, während sie den Laubengang entlangging und im Treppenhaus verschwand. Dann trat er an die Balkonbrüstung. Sein Körper fühlte sich matt an, seine Hände zitterten immer noch leicht. Er hörte, wie unter ihm die Haustür geöffnet wurde.
Auf der Hornsgatan herrschte nur schwacher Verkehr. Ein Mann ging mit einem Schäferhund an der Leine den Bürgersteig entlang. Hund und Herrchen blieben vor dem Geschäft für Anglerbedarf stehen. Der Mann betrachtete das Schaufenster. Hoch oben am Himmel schwebten zwei gelbe Luftballons.
Morgen würde er mit Zingo sprechen. Sie mussten gemeinsam entscheiden, wie sie weiter vorgehen sollten. Jetzt ging es nicht mehr um zwei Taten, die vom selben Täter begangen worden zu sein schienen, sondern um drei. In ganz Schweden, in weit auseinanderliegenden Polizeibezirken. Es gab ein Muster, eine Methodik, die ihm Angst machte.
Wo hatte sich Jörgen Waltz zum Zeitpunkt des Überfalls auf Mersiha Selimovic befunden, und wo war er jetzt? Hatte die Faluner Polizei ihn inzwischen in Gewahrsam genommen?
Als er zurück in die Wohnung ging, war die Küche leer. Klara war ins Bett gegangen. In der Spüle schwammen Gläser und Tassen in schmutzig brauner Seifenlauge.