Zwei Wespen schwirrten durch Ylva Zethraeus’ Büro. Es war halb elf am Vormittag, kurz nach Mitternacht würde die schwedische Nationalmannschaft ihr Auftaktmatch gegen Kamerun bestreiten. Tomas und Ylva warteten darauf, dass das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Noch am Samstagabend hatte sie von zu Hause aus die Malmöer Kollegen kontaktiert und mehr oder weniger angeordnet, dass sie Mersiha Selimovic in Rosengård aufsuchten und ihr ein Foto von Micael Bratt zeigten. Außerdem hatte sie umfassende Anstrengungen verlangt, um Mersihas verschwundene Jacke zu finden.
»Ein Wespennest«, sagte Ylva Zethraeus.
Tomas sah sie fragend an. Sie deutete mit dem Daumen auf das geöffnete Fenster in ihrem Rücken.
»Vor dem Fenster. Deshalb fliegen sie hier rein. Ich wollte den Hausmeister bitten, es zu entfernen, aber irgendwie tun mir die Tiere leid.«
Tomas nickte, ohne etwas zu erwidern. Ungeduldig blickte er aufs Telefon. Ylva Zethraeus lächelte.
»Wenn Sie wollen, können Sie eine Zigarette rauchen, während wir warten.«
Tomas stand auf, um hinaus in den Flur zu gehen, aber Ylva bat ihn sitzen zu bleiben.
»Sie sind an Ihrem freien Tag ins Präsidium gekommen. Dieses Engagement muss belohnt werden. Aber erzählen Sie es niemandem. Sonst wollen alle hier rauchen. Wer weiß, vielleicht vertreibt der Rauch die Wespen?«
Tomas steckte sich eine Zigarette an.
»Haben Sie keine Familie?«, erkundigte sich Ylva Zethraeus.
»Doch. Meine Frau Klara und zwei Kinder. Alexander und Ebba.«
»Und trotzdem sind Sie hier?«
»Sie sind in Rättvik. Die Eltern meiner Frau haben da ein Haus, das wir nutzen dürfen.«
»Sie kommen von dort, oder?«
»Nein. Ich komme aus Västmanland. Hallstahammar.«
Er rutschte unbehaglich hin und her, unsicher, ob er eine Frage über ihr Privatleben stellen sollte. Vielleicht erwartete sie das. Vielleicht würde sie es übel nehmen. Ylva Zethraeus war schwer zu deuten. Es war schwierig, einen Zugang zu ihr zu finden.
Das Klingeln des Telefons rettete ihn. Aber Ylva machte keine Anstalten, abzunehmen. Zwei weitere Signale durchschnitten die Stille, ehe sie nach dem Hörer griff.
»Zethraeus«, meldete sie sich und schaltete die Lautsprecherfunktion ein.
»Ich habe gerade mit den Streifenbeamten gesprochen, die ich nach Rosengård geschickt habe. Die Frau war nicht zu Hause«, sagte eine Männerstimme mit südschwedischem Dialekt.
Sie beugten sich näher zum Telefon.
»Meinen Jungs zufolge sagen die Nachbarn, dass sie sie seit mindestens einer Woche nicht mehr gesehen haben.«
Tomas und Ylva wechselten einen raschen Blick.
»Hören Sie zu, hören Sie mir ganz genau zu«, sagte Ylva Zethraeus scharf. »Weisen Sie Ihre Jungs an, sich umgehend Zutritt zu der Wohnung zu verschaffen.«
»Aber …«
Ylva schnitt ihm das Wort ab.
»Die Frau wurde vergewaltigt. Und hätten Ihre Jungs, wie Sie sie nennen, nicht das desaströseste Anzeigenprotokoll zusammengeschustert, das ich in meinen sechsundzwanzig Jahren als Polizistin gesehen habe, säße der Täter längst hinter Schloss und Riegel. In den Krimis, die ich zum Vergnügen im Urlaub lese, wird weitaus professioneller ermittelt. Deshalb erwarte ich von Ihnen, dass Sie diesmal Ihre Arbeit tun, und zwar gründlich.«
Der Malmöer Kollege antwortete nicht.
»Haben wir uns verstanden?«, fragte Ylva Zethraeus.
»Ich sage ihnen, dass sie umdrehen sollen.«
»Großartig«, erwiderte Ylva trocken. »Aber bevor Sie das tun, hätte ich gerne gewusst, ob Sie die Jacke des Opfers mit dieser weißen Substanz gefunden haben.«
»Noch nicht, aber wir suchen weiter. Dafür haben wir etwas anderes gefunden, das vom Tatort stammt.«
»Und was?«
»Eine Linse.«
»Eine Linse?«, wiederholte Ylva Zethraeus.
»Eine Kontaktlinse. Wir glauben, dass sie vom Täter sein könnte.«
Ylva Zethraeus runzelte die Stirn und sah Tomas an. Er schüttelte den Kopf.
»In dem Bericht, den ihr uns geschickt habt, steht nichts von einer Kontaktlinse«, sagte Ylva.
»Sie wurde am Tatort sichergestellt, aber falsch katalogisiert … Ich … das wurde leider versäumt.«
»Wo befindet sich diese Kontaktlinse?«
»Hier. Auf meinem Schreibtisch.«
Ylva Zethraeus warf Tomas einen resignierten Blick zu und deutete aufs Telefon. Er beugte sich zum Mikrofon.
»Tomas Wolf hier«, stellte er sich vor. »Ich möchte, dass Sie die Kontaktlinse einem Optiker vorlegen und so viele Details wie möglich darüber in Erfahrung bringen.«
»Und was für Details?«
Ylva Zethraeus vergrub das Gesicht in den Händen.
»Den Hersteller«, sagte Tomas. »Die Stärke. Wo sie erhältlich ist. Jedes Merkmal, das uns helfen kann, den Träger dieser Linse ausfindig zu machen.«
Ylva Zethraeus ergriff wieder das Wort.
»Tomas ist einer meiner Jungs , und ich möchte, dass ihr genau das tut, was er sagt. Rufen Sie mich sofort an, sobald Sie wissen, wo sich Mersiha Selimovic aufhält.«
Sie legte auf. Tomas zündete sich eine neue Zigarette an, und sie blieben schweigend sitzen, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Zwei neue Wespen flogen durchs Fenster herein.
»Wenn Mersiha Selimovic tatsächlich verschwunden ist, haben wir ein Problem. Ein großes Problem«, sagte Ylva schließlich. »Teilen Sie meine Einschätzung, dass es das Klügste war, Bratt gehen zu lassen?«
Gestern Abend, nach der Vernehmung, hatten sie Bratt laufen lassen, ihm aber die strikte Auflage erteilt, Stockholm nicht ohne Ankündigung zu verlassen, und obendrein ein Observierungsteam auf ihn angesetzt, das ihn rund um die Uhr beschattete.
»Ja«, sagte er aufrichtig. »Der Stringtanga beweist derzeit gar nichts. Nicht solange Bratt behauptet, er gehöre einer Frau namens Veronica. Das Pulver, das wir bei ihm gefunden haben, war kein Kokain. Ihn aufgrund der jetzigen Beweislage in U-Haft zu nehmen, ist so gut wie unmöglich. Und selbst wenn es ausreicht, würden wir damit einen gewaltigen Medienrummel auslösen. Horden von Journalisten würden das Präsidium umlagern. Wir können nicht dasselbe Szenario heraufbeschwören wie beim Lasermann. Solche undichten Stellen zermürben eine Ermittlung von innen heraus.«
Ylva Zethraeus nickte langsam und musterte ihn.
»Was ist?«, fragte sie. »Sie wirken nachdenklich.«
Tomas nahm einen tiefen Zug und setzte sich aufrecht hin.
»Ich mache mir Sorgen um Mersiha Selimovic.«
Er stand auf, aschte durch das geöffnete Fenster, streckte den Kopf nach draußen und entdeckte das Wespennest.
»Ich auch. Aber das ist nicht alles. Raus mit der Sprache.«
»Ich habe das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Und das sollte ich nicht haben. Alle Indizien sprechen für Micael Bratt. Der Slip. Seine Aufenthaltsorte. Die Theaterschminke. Sein Disput, oder wie auch immer man es bezeichnen soll, mit Carmen Diaz im Garbo. Trotzdem kann ich es nicht lassen, die ganze Zeit nach etwas anderem Ausschau zu halten. Nach etwas, das wir übersehen. Oder das wir sehen, aber nicht verstehen.«
Ylva Zethraeus deutete auf ihren Schreibtisch, auf dem eine Kopie von Bratts Vernehmungsprotokoll vom Vortag lag.
»Er liefert keine einzige plausible Antwort. Nicht eine einzige glaubwürdige Erklärung. Seine Aussage weist zu viele Ungereimtheiten auf.«
»Ich weiß. Aber seine Verblüffung angesichts meiner Anschuldigungen kam mir echt vor. Vielleicht lasse ich mich von seinem schauspielerischen Talent hinters Licht führen. Ich habe keine Ahnung. Aber ich fange an zu glauben, dass wir auf der falschen Fährte sind.«
Ylva Zethraeus bedeutete ihm, fortzufahren.
»Diese Kontaktlinse«, sagte Tomas. »Falls sie vom Täter stammt, spricht sie für Bratts Unschuld. Er trägt keine Brille. Auch keine Kontaktlinsen, soweit ich weiß. Aber sobald die Malmöer Kollegen Mersiha Selimovic finden und ihr ein Foto von Bratt zeigen, sind wir schlauer. Ich rufe Rapp in Falun an und frage ihn, ob er mir bei der Suche nach dieser Veronica helfen kann. Vielleicht …«
Er verstummte abrupt, als Ylvas Festnetztelefon klingelte. Sie nahm den Hörer ab, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Ihre Miene verdüsterte sich, während sie der Meldung des Malmöer Kollegen zuhörte.
»Wenn sie verschwunden ist, müssen Sie sie eben finden. Das ist, was Polizeibeamte tun. Finden Sie sie«, blaffte sie und knallte den Hörer auf die Gabel.
Bengt J. Lindwalls Gesicht war genauso rot wie an dem Tag, als Vera ihn in seinem Sommerhaus auf Värmdö aufgesucht hatte. Seine Wangen hingen schlaff herab wie die Lefzen einer Bulldogge. Lindwall war ein Mann, der die Gicht wie einen funkelnden Orden an der Brust trug.
»Micael war viele Jahre lang mein Goldesel. Aber inzwischen kostet er mich einen Haufen Kohle«, schnaubte er. »Darum brauche ich Ihre Hilfe.«
Sie saßen in Lindwalls Bibliothek, ein Erkerzimmer in dessen Siebenzimmerwohnung auf Östermalm. Hohe Bogenfenster erstreckten sich bis zur Decke. Die dünnen Scheiben erzitterten, als unten auf der Banérgatan ein Müllwagen vorbeifuhr.
Lindwall streckte sich zu einem Globus, hob den Deckel ab und nahm eine Kristallkaraffe heraus. Er hielt Vera die Flasche hin.
»Nein, danke«, lehnte sie ab. »Wobei brauchen Sie meine Hilfe?«
Lindwall schenkte sich mehrere Zentimeter Whisky ein.
»Bei der gleichen Sache wie zuletzt. Wie ich am Telefon sagte, wurde Micael gestern Abend von der Polizei vernommen. Sie haben ihn zwar ziemlich schnell wieder laufen lassen, aber ich habe das Gefühl, dass diese Geschichte noch nicht ausgestanden ist. Ich möchte, dass Sie Beweise finden, die ihn entlasten.«
»Warum sollte ich einen solchen Auftrag annehmen?«
»Schätzchen. Sie glauben doch nicht, dass ich neulich auf Ihre Show reingefallen bin? Natürlich kann die Kvällsposten fünfzig Mille für einen Tipp lockermachen. Sie stecken wegen irgendetwas gewaltig in der Klemme und brauchen Geld. Ich mische mich da nicht ein, aber ich habe auch kein Problem damit, Profit aus Ihrer Situation zu schlagen.«
Vera sah ihn kalt an.
»Wenn das so ist, nehme ich an, dass Sie ein Angebot für mich haben.«
»Sie kriegen noch mal fünfzigtausend«, sagte Lindwall. »Zwanzig jetzt, dreißig bei Lieferung.«
»Erzählen Sie mir von dem Mord, der Micael angelastet wird«, erwiderte Vera.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als Lindwalls Angebot anzunehmen. Sie brauchte Geld. Donnerstag erwartete Pål die nächste Ratenzahlung, und das war ganz bestimmt nicht die letzte Summe, die er von ihr fordern würde.
»Irgendeine Geschichte in Falun. Offenbar haben sie eine andere ermordete Frau gefunden, nachdem dieser Irre Flink mit einem Automatikgewehr durch die Gegend geballert hat. Micke hat da oben einen Film gedreht. Die Jagd . Ausgemachter Müll, wenn Sie mich fragen. Micke scheint mit der Frau am Abend des Mords aneinandergeraten zu sein. Hat in der Damentoilette mit seinem Schwengel vor ihr rumgewedelt und eine Abfuhr kassiert. Daraus konstruiert dieser Bulle irgendein Motiv.«
»Okay. Ist das alles, was die Polizei gegen ihn hat? Dass er mit dem Opfer aneinandergeraten ist?«
»Leider nein. Sie haben in seinem Hotelzimmer einen Slip sichergestellt, der dem Opfer gehört haben könnte. Die Frau wurde ohne Unterwäsche aufgefunden.«
Vera erstarrte.
»Ein Slip? Wer leitet den Fall?«
»Der Mann heißt Tomas Wolf, glaube ich.«
Veras Puls schnellte in die Höhe. Wolf hatte ihr nichts von einer Ermittlung in Falun gesagt. Warum verheimlichte er ihr das?
»Aber das Schlimmste ist, dass sie angefangen haben, Fragen über andere Fälle zu stellen«, fuhr Lindwall fort. »Über eine Vergewaltigung in Malmö, die im März verübt wurde, als Micke da in einem Theaterstück aufgetreten ist. Und über diesen Mord neulich in Märsta. Micke hat in der Nähe einen Werbespot für Falcon gedreht.«
Er hob die Hände.
»Das sieht nicht gut aus. Wenn die Brauerei das spitzkriegt, können wir die Gage vergessen. Langfristig hätte uns der Vertrag mehrere Millionen eingebracht. Und das ist erst der Anfang der Misere. Bald wird niemand mehr Micke engagieren.«
»Moment«, sagte Vera.
Irgendetwas von dem, was Lindwall gesagt hatte, ließ sie hellhörig werden.
»Sagten Sie, Micael hat in der Nähe von Märsta einen Film gedreht?«
»Was man heutzutage so Film nennt. Aber es war immerhin ein Werbefilm. Oder Geld für die Altersvorsorge, wie Micke solche Engagements nennt.«
Zwischen den Fällen existierte ein roter Faden, den Vera bisher übersehen hatte. Alle Übergriffe waren im Anschluss an Unterhaltungsproduktionen verübt worden – für Film, Theater und Werbeindustrie. Konnte das von Bedeutung sein?
»Warum sind Sie so sicher, dass Bratt unschuldig ist?«, fragte sie.
»Sicher kann ich natürlich nicht sein. Es steht außer Frage, dass es Situationen gegeben hat, in denen Mickes Verhalten Frauen gegenüber … als tadelnswert bezeichnet werden kann. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er jemanden ermordet. Tief in seinem Innern ist er ein verängstigter kleiner Junge. Er vögelt durch die Gegend, um die Leere in seinem Herzen zu füllen, nicht, weil er Frauen hasst.«
Vera musterte den Agenten gründlich.
Angenommen, Bratt war wirklich unschuldig, konnte der Täter aus dem Umkreis des Kulturbetriebs kommen? Jemand, der mit Bratt an denselben Produktionen gearbeitet hatte? Vera merkte, dass sie kaum etwas über die Film- und Theaterwelt wusste.
»Was für Leute werden bei Dreharbeiten oder Theaterproduktionen beschäftigt?«, fragte sie.
»Wie meinen Sie das?«
»Können dieselben Leute bei Filmdreharbeiten und Theaterstücken mitwirken? Oder bei Werbespots?«
»Die Branche hat sich verändert. Die Schauspieler wechseln zunehmend zwischen den Genres hin und her. Früher war es verpönt, Filme zu drehen. Werbespots galten sogar als Karrierekiller. Aber Micke war ein Pionier auf dem Gebiet. Und darum fährt er heute mit dem Porsche zum Bühneneingang des Dramaten, während seine Kollegen von Gärdet zu Fuß laufen.«
»Was ist mit den anderen Mitarbeitern? Technikern, Maskenbildnern und dergleichen?«
»Nein. Möglicherweise ein Regisseur, doch da muss es schon jemand vom Kaliber eines Bergman sein. Ansonsten sind die Genres voneinander getrennt.«
»Ich kann verstehen, wenn Sie sich nicht aus dem Stegreif erinnern, aber wissen Sie noch, ob bei dem Falcon-Werbespot andere Schauspieler mitgewirkt haben?«
»Nein, vielleicht eine Handvoll Statisten. Aber Micke war als Solo-Schauspieler engagiert.«
Die Spur schien abrupt zu erkalten, hinterließ jedoch ein bohrendes Gefühl. Einen Gedanken, der ihr immer wieder entwischte.
Was übersehe ich?
Bengt J. Lindwall reichte ihr eine Mappe.
»Das habe ich von Micaels Anwalt bekommen.«
Vera schlug die Mappe auf und überflog nachlässig hingekritzelte Vernehmungsnotizen.
Bratt konnte mit sämtlichen Tatorten in Verbindung gebracht werden. So viel stand fest. Andererseits gab es Mersihas Zeichnung, die gegen ihn als Täter sprach. Sie ähnelte Bratt nicht. Was Tomas Wolf jedoch nicht wissen konnte, weil er die Zeichnung nicht gesehen hatte.
Irgendetwas übersehe ich.
Vera hielt mitten im Text inne. Der Vernehmungsleiter, vielleicht Tomas Wolf selbst, fragte Bratt, ob er sich an dem Abend, an dem Mersiha überfallen worden war, nach der Theatervorstellung in Malmö abgeschminkt hatte. Die Frage musste auf die weiße Substanz abzielen, die auf Mersihas Kleidung gefunden worden war.
Vera biss sich auf die Unterlippe. Sie dachte an die gestohlene Zeichnung. Hätte Wolf Mersihas Zeichnung gesehen, hätte er Bratt umgehend als Täter ausgeschlossen.
Ein Gedanke nahm in ihrem Kopf Gestalt an. Puzzleteile, die sich zusammenfügten, ohne dass sie verstand, wie. Die Person, die bei ihr eingebrochen war und die Zeichnung entwendet hatte, hatte gewusst, wonach sie suchte. Das war kein gewöhnlicher Einbruch gewesen.
Sie hatte Wertsachen in der Wohnung gehabt. Die Systemkamera auf dem Küchentisch. Schmuck im Badezimmerschrank. Trotzdem waren nur Mersihas Zeichnung und das Bargeld gestohlen worden, das danebengelegen hatte.
Ihr Herz hämmerte. Die Zeichnung war der Grund für den Einbruch gewesen. Jemand hatte gemerkt, dass sie in der Sache herumstocherte. Plötzlich stand der Gedanke deutlich vor ihr. Wenn sie herausfand, wer alles von der Zeichnung gewusst hatte, hätte sie eine Liste möglicher Täter.
Wer, außer Tomas Wolf, wusste, dass sie die Zeichnung aufbewahrt hatte?
Sie kramte in ihrem Gedächtnis. Es gab niemand anderen. Aber Wolf konnte die Skizze doch nicht gestohlen haben?
Vera schluckte krampfhaft.
Kurz nachdem sie ihm von der Zeichnung erzählt hatte, war er zur Toilette gegangen und erst nach einer ganzen Weile wieder zurückgekommen. Hatte er währenddessen jemanden angerufen? Seine Brüder vielleicht?
Was wusste sie eigentlich über Wolf? Er war als Jugendlicher in der White-Supremacy-Bewegung gewesen. Er hatte es als Jugendsünde abgetan. Aber wenn das stimmte, warum hatte er dann nicht mit seinem Bruder gebrochen, der noch immer ein Vollblut-Nazi war?
Vera schloss die Augen. Sie kam sich wie ein Idiot vor. Mersihas Worte hallten in ihrem Hinterkopf. Mersiha hatte das Gesicht des Täters als »aufgedunsen und bleich« beschrieben. Der Mann musste sein Gesicht mit Theaterschminke unkenntlicher gemacht haben.
Sie versuchte, sich die Zeichnung in Erinnerung zu rufen, aber das Bild entglitt ihr, die Konturen lösten sich auf und überlagerten sich mit Tomas Wolfs Gesicht.
Draußen vor dem Fenster senkte sich die Dämmerung auf die Jahrhundertwendefassaden. Auf einmal kam Leben in sie. Sie musste mit Kristian Wolf sprechen und mehr über Tomas in Erfahrung bringen.
»Ich nehme den Auftrag an«, sagte sie.
Lindwall, der gerade den letzten Schluck Whisky hatte trinken wollen, sah sie an.
»Darauf stoßen wir an.«
Ein paar Minuten später saß Vera in ihrem Saab, bereit, nach Märsta zu fahren. Sie würde Kristian Wolf überraschen.