Schweißgebadet erwachte Tomas auf dem Wohnzimmersofa. Klara und die Kinder waren noch nicht zurück. Er setzte sich nackt in die Küche und sortierte seine Gedanken bei einem Frühstück aus Orangensaft und Knäckebrot mit Hering.
Micael Bratt war nach wie vor verschwunden, allerdings hegte er den Verdacht, dass Vera Berg wusste, wo der Schauspieler sich aufhielt. Ihr Besuch hatte bei ihm ein eigenartiges Gefühl hinterlassen. Sein anfänglicher Zorn war in Resignation und Sorge umgeschlagen. Vera Berg hatte recht: Er erinnerte sich nicht, wo er gewesen war, als Carmen Diaz in Falun erdrosselt worden war. Seine Erinnerung an die Nacht des fünften Juni, in der Nadija Alihodzic ermordet worden war, war ebenfalls ausgelöscht. Und auch an den Abend des sechsten März, an dem sich in Malmö der Überfall auf Mersiha Selimovic ereignet hatte, besaß er keine deutliche Erinnerung.
Und es gab noch viele weitere Tage, an die er sich nicht erinnerte. Schuld daran war der Krieg. Das wusste er. Seit einiger Zeit spielten auch die Tabletten mit hinein. Was Vera Berg gesagt hatte, war entsetzlich, aber unmöglich. Er war kein Mörder, allerdings drauf und dran, den Verstand zu verlieren, das stand außer Frage. Die kräftezehrende Ermittlung, gepaart mit der Hitze und dem Stress wegen seiner Geheimniskrämerei um Azra, machten ihn wahnsinnig.
Tomas zwang seine Gedanken zurück zur Ermittlung. Bratt war verschwunden. Zingo würde morgen die Hotels und Pensionen in der Nähe der Tatorte zusammenstellen und die Gästelisten der fraglichen Abende anfordern. Was Jörgen Waltz anging, stand zweifelsfrei fest, dass er die Morde an Carmen Diaz und Nadija Alihodzic nicht begangen hatte. Der Alkoholschmuggel, den er während seiner Fahrten betrieben hatte, war so umfassend gewesen, dass ihm am Abend des fünften Juni gleich zwei Teams der Trelleborger Polizei auf den Fersen gewesen waren. Das hatte ein stark verkaterter Ermittler, den Karl Rapp im Verlauf des Mittsommertags endlich an die Strippe bekommen hatte, bestätigt, womit Waltz für den Mord in Märsta ein hieb- und stichfestes Alibi besaß.
Nach seiner Festnahme hatte er mit den Trelleborger Kollegen zusammengearbeitet und sich vor dem Kopf der Schmugglerbande verstecken müssen, was der Grund für seine lange Krankmeldung gewesen war. Seitdem der Anführer jedoch in Erwartung der Anklageerhebung in U-Haft saß, war Waltz in seine Hütte zurückgekehrt, und als Tomas und Zingo bei ihm aufgetaucht waren, hatte er sie für Handlanger des Schmugglerrings gehalten, die gekommen waren, um ihn zum Schweigen zu bringen.
»Neben einem weiteren Beleg für die mangelhafte Kommunikation der schwedischen Polizei über Bezirksgrenzen hinweg können wir Waltz also als falsche Fährte abhaken«, stelle Ylva Zethraeus fest, als Tomas anrief, um sie davon in Kenntnis zu setzen, dass der Lkw-Fahrer von der Liste der Verdächtigen gestrichen werden konnte.
Tomas räumte sein Frühstück weg, wischte den Tisch ab und wollte gerade duschen gehen, als das Telefon klingelte.
Es war erst halb zehn, und er war überzeugt, dass es Klara wäre. Seit er ihr von der Körperverletzung erzählt hatte, hatte er das Gefühl, dass zwischen ihnen ein Waffenstillstand herrschte. Doch es war nicht Klara. Im ersten Moment gelang es Tomas nicht, die Bedeutung dessen zu erfassen, was die erregte Frau am anderen Ende hervorstieß.
»Von wo aus rufen Sie an, sagten Sie?«, fragte er.
»Aus der Flüchtlingsunterkunft in Hallstahammar.«
Eiseskälte befiel ihn. Die Frau schluchzte.
»Azra hat Sie als Notfallkontakt angegeben. Deshalb rufe ich an. Sie liegt im Krankenhaus.«
»Ist sie krank?«
»Sie wurde überfallen. Jemand hat sie angegriffen. Unten am See. Sie ist schwer verletzt.«
Tomas umklammerte den Hörer, bemühte sich, seine Stimme fest klingen zu lassen.
»Wo ist sie jetzt?«
»Sie wurde nach Köping ins Krankenhaus gebracht. Sie … Die Ärzte sagen, ihr Zustand ist kritisch. Sie stirbt vielleicht.«
Um Viertel nach zehn am Sonntagmorgen bog Vera Berg erneut in den Schotterweg zu Bengt J. Lindwalls Sommerhaus. Sie fuhr bis zum Kiefernwäldchen und parkte im Schatten der riesigen Tannen.
»Was machen wir hier? Hier gibt es kein Wasser«, stellte Sigge mit skeptischer Miene fest.
Unter seinem viel zu großen Schwedentrikot lugte eine lilafarbene Badehose hervor, die Jurassic-Park-Kappe saß wie immer schief auf seinem Kopf.
»Ich muss nur zu einer kurzen Besprechung.«
»Aber wir wollten baden. Du hast es versprochen.«
»Du wirst noch baden. Komm.«
Sigge verschränkte die Arme vor der Brust und rührte sich nicht vom Fleck.
Vera streckte ihre Hand aus.
»Meine Hand drauf.«
Bockig schlug Sigge ein und öffnete widerwillig die Autotür.
»Lauf nur nicht zu weit weg«, ermahnte ihn Vera.
»Ich darf spielen gehen?« Sigge sah sie mit großen Augen an. Seit Jonny sie in Stockholm aufgespürt hatte, hatte er sich nicht aus ihrem oder Birgittas Blickfeld bewegen dürfen.
»Ja, solange du nicht zur Straße läufst«, sagte Vera. Doch Sigge rannte schon den Pfad zum Meer hinunter.
Vera lief das Kiefernspalier zum Haus hinauf und kletterte über die Klippen. Die Luft war schwül, und die leichte Brise vom Wasser brachte kaum Linderung. Sie klopfte an die Vordertür.
»Kommen Sie rein«, rief Lindwall aus dem Haus.
Das zum Ende der Sechzigerjahre erbaute Sommerhaus verfügte über einen offenen Grundriss. Große Fenster rahmten den Meerblick ein, Wände und Dach bestanden aus Baumstämmen wie in einer Gebirgshütte. Die Einrichtung war minimalistisch und elegant. Wie ein Kontrast zum warmen Holzton.
»Sie müssen die Schuhe nicht ausziehen«, erklang es irgendwo aus den Tiefen des Anwesens.
»In Ordnung.«
Vera ging zu einer Sitzgruppe mit Blick aufs Meer, wo sie Bengt J. Lindwall an einer Bloody Mary nippend vorfand.
»Guten Morgen«, begrüßte sie ihn.
»Wenn Sie meinen.«
Er bot ihr einen Drink an, aber sie lehnte ab.
»Haben Sie etwas herausbekommen?«
Vera lieferte ihm einen kurzen Bericht über Tomas Wolf.
»Das kommt mir verdammt kurios vor. Den Kerl müssen Sie im Auge behalten. Weiß der Teufel, vielleicht manipuliert er die Beweise.«
»Ja. Aber davon abgesehen habe ich nichts Konkretes. Haben Sie noch mehr Hinweise für mich?«
»Nein, ich habe Ihnen beim letzten Mal alles gegeben, was ich habe.«
Lindwall meinte die schludrig zusammengeschusterte Mappe mit einer nur wenige Seiten langen Zusammenfassung der Polizeivernehmung mit Bratt. Bis auf die Tatsache, dass Tomas Wolf Bratt zu einem schwarzen Stringtanga befragt hatte, den sie in Bratts Hotelzimmer gefunden hatten, sowie dass die Polizei in der Wohnung des Schauspielers eine große Anzahl Damenslips sichergestellt hatte, war sie darin auf keine nennenswert neuen Informationen gestoßen.
»Warum sammelt Bratt Damenslips?«, fragte sie.
»Ja, da fragen Sie mich was. Das tut er schon immer, oder jedenfalls solange ich ihn kenne. Als er gerade frisch von der Schauspielschule kam und wir uns im Sturehof zur Vertragsunterzeichnung getroffen haben, hat er mir zwei Slips auf den Tisch geknallt und gesagt, er hätte am Vorabend zwei Schwestern gevögelt. Nachdem die eine eingeschlafen wäre, sei er zu der anderen geschlichen. Sie haben ihm am Morgen eine gewaltige Szene gemacht.«
Lindwall trank seine Bloody Mary aus und schenkte sich aus einer Karaffe nach.
»Ich denke, dieser Spleen hängt damit zusammen, dass er ein verflucht einsamer Mensch ist. Am Anfang fand er es wohl einfach cool und wollte vor seinen Kommilitonen eine Show abziehen. Aber ich glaube, dass er schon damals etwas brauchte, an dem er sich festhalten konnte. Einen Beweis dafür, dass er erfolgreich war, etwas wert.«
Vera schwieg eine Weile und versuchte, einen Gedanken zu fassen zu kriegen, der langsam Gestalt annahm. Lindwall schien ihr Schweigen nicht zu bemerken, widmete sich wieder seinem Glas.
Was, wenn jemand Bratt etwas anhängen wollte? Jemand, der ihm schaden wollte?
»Hat Micael irgendwelche Feinde?«, fragte sie.
Lindwall begann zu lachen.
»Sie klingen wie einer dieser Fernseh-Detectives.«
»Ich weiß. Aber diese Slips geben mir zu denken. Was ist, wenn jemand von Micaels Sammelleidenschaft weiß?«
»Das ist ziemlich weit hergeholt.«
»Vielleicht. Aber momentan ist Wolf meine einzige Spur. Gibt es Menschen, die Micael abgrundtief hassen?«
Lindwall zuckte mit den Schultern.
»Das gewöhnliche schwedische Neidertum, Sie wissen schon. Micael hat Geld und sieht gut aus. Das genügt vielen schon.«
»Aber Ihnen fällt niemand Konkretes ein?«
Lindwall zögerte. Er kratzte sich im Nacken.
»Doch«, sagte er und stand auf.
Er ging zu einem Sekretär auf der anderen Seite des Zimmers und kramte darin herum. Als er zurückkam, hielt er eine durchsichtige Plastiktüte in der Hand. In der Tüte lag ein Briefumschlag.
»Den hat Micael vor einigen Jahren bekommen. 1990, wenn ich mich nicht irre. Fanpost. Irgendeine Liselotte, die wollte, dass er eines seiner Fanfotos signiert. Dem Schreiben lag ein Rückumschlag bei. Frankiert. Sauber und ordentlich. Micke hat sein Autogramm draufgekritzelt, das Foto in den Rückumschlag gesteckt, die Lasche angeleckt und den Brief zugeklebt. Aber die Lasche hat nicht gehalten. Also hat er das Ganze wiederholt. Ohne Erfolg. Dann hat er plötzlich einen ätzenden Geschmack im Mund gespürt. Danach kann er sich an nichts mehr erinnern, sagt er.«
»Was ist passiert?«
»Der Umschlag war vergiftet. Micke lag einen Tag lang im Krankenhaus. Es war verdammtes Glück, dass er eine Frau bei sich hatte, als es passierte. Sie hat den Notarzt gerufen.«
Lindwall reichte Vera die Tüte.
»Haben Sie Anzeige erstattet?«
»Natürlich. Aber es gab weder Fingerabdrücke noch irgendwelche anderen Spuren. Und wie sich herausstellte, existierte diese Liselotte nicht. Nach einem Jahr hat die Polizei den Vorfall zu den Akten gelegt, ohne dass es ihnen gelungen wäre, auch nur einen einzigen Verdächtigen zu ermitteln.«
Vera drehte den Umschlag um, musterte die Beschriftung. Die Handschrift war schnörkelig, aber etwas schlampig. Als gehöre sie jemandem, der keinen Wert darauf legte, sich Mühe beim Schreiben zu geben.
»Gab es noch andere, die nicht gut auf Bratt zu sprechen waren?«
»Da war natürlich die Geschichte mit der Maulwurfoper.«
Vera erinnerte sich vage daran, vor einigen Jahren davon gelesen zu haben.
»Die Maulwurfoper. Ging es darin nicht um die Besetzung des Mariatorget?«
»Ganz genau. Micke hat in der Oper selbst keine Rolle übernommen, aber er war an der Inszenierung beteiligt. Er hat Beleuchter und andere ehrenamtliche Helfer organisiert.«
»Warum hat er das gemacht?«
»Heute mag man es kaum glauben, aber Micke war in den Siebzigern und Anfang der Achtziger überzeugter Linksaktivist. Das ist vielen bis zum heutigen Tag ein Dorn im Auge. Die NRP hatte lange Zeit ein Foto von ihm in ihrer Parteizentrale hängen. Auf einer Tafel mit der Überschrift ›Vaterlandsverräter‹.«
»NRP, die Nazipartei?«
»Ja. Micke hat nicht nur die Oper unterstützt, er war auch bei der eigentlichen Besetzung dabei. Als die Polizei das Viertel gestürmt hat, pinkelte er gerade auf eine NRP-Flagge. Sie wissen schon, die mit dem Sonnenrad?«
Vera nickte.
»Micke war schon damals ein Showman und hatte dafür gesorgt, dass FIB-Aktuell seine Festnahme auf einem hübschen Schnappschuss festhielt. Ein Fotograf stand mit der Kamera parat, und das Foto erschien in der nächsten Ausgabe. Zwei Polizisten zerren an einem grinsenden Micke, während der mit dem Pimmel in Habtachtstellung auf die rote Fahne uriniert. Wie Sie sich denken können, wurde das in manchen Kreisen nicht gerne gesehen.«
»Könnten Mitglieder der NRP den Brief geschickt haben?«
»Vielleicht, aber die Polizei hielt das nicht für wahrscheinlich. Als Micke den Brief bekam, war die Partei auf dem absteigenden Ast, viele Mitglieder wanderten zu anderen Organisationen ab. Und Micke war als charismatischer Bulle im Fernsehen zu sehen. Meiner Meinung nach kam der Brief von irgendeinem Verrückten.«
Lindwall dachte einen Augenblick nach.
»Außerdem hat die rechte Szene wohl nicht kapiert, was allen anderen schon damals klar war.«
»Nämlich?«
»Dass Mickes Interesse an der Linksbewegung mehr mit der Botschaft der freien Liebe zusammenhing. Er hat es in den Kommunen ordentlich krachen lassen. Die linken Bräute haben sich nicht geziert, ihre Höschen auszuziehen. Wenn sie überhaupt welche trugen.«
Vera lachte, wurde aber gleich wieder ernst. Erneut schien die Spur in rechtsextremistische Kreise zu führen. Ihre Gedanken kehrten zu Tomas Wolf und seinen Brüdern zurück.
Sie schob den Umschlag in die Tüte und wollte sie gerade aus der Hand legen, als sie innehielt. Zuerst verstand sie nicht, woran ihr Blick haften geblieben war, aber ihr Gehirn hatte eine Abweichung registriert.
»Auf dem Umschlag klebt keine Briefmarke«, sagte sie.
»Nein, und er ist auch nicht abgestempelt. Das fand ich schon damals sonderbar.«
»Wurde der Brief in Bratts Briefkasten eingeworfen?«
»Nein. Micke hat ihn bei der Post abgeholt. Seine gesamte Korrespondenz geht an ein Postfach.«
Vera blickte auf den Umschlag. Lediglich Bratts Name stand darauf. Keine Anschrift, keine Postfachnummer. Irgendwo hatte sie mal gelesen, dass Prominente ihre Post auch ohne Anschrift zugestellt bekamen. Aber eine Briefmarke musste die Post doch wohl verlangen?
»Wo befindet sich das Postfach?«
»In der Hornsgatan. Ecke Rosenlundsgatan. Seit einiger Zeit bin ich der Einzige, der es leert.«
Vera richtete sich auf.
»Dieser Polizist, Tomas Wolf.«
»Ja?«
»Er war früher Neonazi, und er wohnt in der Hornsgatan.«
Lindwall beugte sich vor, mit einem Mal nüchtern.
»Scheiße.«
»Ganz recht.«
»Das sieht nicht gut für uns aus. Sie haben eine Woche, dann schauen wir, was Sie herausgefunden haben, und schalten meinen Anwalt ein. Vielleicht können wir bewirken, dass Wolf vom Fall abgezogen wird.«
Vera verabschiedete sich und verließ das Schärenhaus. In der Stunde, die sie bei Lindwall zugebracht hatte, waren die Temperaturen weiter nach oben geklettert. Am Himmel zeigte sich kaum eine Wolke. Sie hätte Sigge mit Sonnenmilch eincremen müssen.
»Siggis!«, rief sie.
Einen Moment später entdeckte sie ihn ein Stück entfernt neben einem Busch. Er hockte in seinem gelben Brolin-Trikot im Schneidersitz auf der Erde und beobachtete etwas. Widerwillig drehte er sich um und legte einen Finger auf die Lippen.
»Du verjagst die Schlange«, wisperte er.
Vera stürzte zu ihm hin und riss ihn am Arm in die Höhe. Eine Sekunde lang glaubte sie, Vincent vor sich zu sehen. Seine arglosen Augen und seine sommersprossige Haut. Sie zwang das Bild beiseite. Dann fiel ihr Blick auf den geringelten Körper, der einen Meter von Sigge entfernt im Gebüsch lag. Eine Blindschleiche.
»Das ist keine Schlange. Das ist eine Echse.«
»Aber sie hat doch gar keine Füße?«
»Ich weiß. Das ist eine ganz dumme Echse.«
Sigge lachte.
»Deswegen durfte ich sie vielleicht auch streicheln.«
Dann wurde sein Gesicht mit einem Mal traurig.
»Wann hilft uns der Motorrad-Mann endlich, Papa zu treffen?«
»Bald, Großer. Und jetzt ab mit dir ins Auto, wir wollen doch baden fahren.«
Auf dem Weg zum Auto fasste Vera einen Beschluss. Sie würde mit Tomas Wolfs Frau sprechen. Sie wusste, dass sie damit ein Risiko einging, aber sie musste herausfinden, wer Wolf in Wahrheit war. Wozu er fähig war.
Tomas brauchte eine halbe Stunde zum Krankenhaus in Köping. Dort angekommen, stellte er sein Auto achtlos auf dem Parkplatz ab und stürzte zum Empfangsbereich. An der Rezeption erklärte ihm eine Frau mit starkem Sonnenbrand, dass Azra auf der Intensivstation lag. Kurz darauf brachte ihn eine Krankenschwester zu ihr. Am Kopfende des Bettes überwachte ein schwarzer Monitor Azras Puls. Ihre Wangen waren eingefallen, ihre Augen geschlossen. Der Großteil ihres Haars war abrasiert und ihr Kopf mit einem großen Verband umwickelt. Blauschwarze Schwellungen an den Wangenknochen entstellten ihr Gesicht bis zur Unkenntlichkeit, ihr rechtes Auge war komplett zugeschwollen. Tomas beugte sich vor, streckte die Hand aus, wollte sie berühren, wagte es jedoch nicht. Azra wirkte so geschwächt, dass er das Gefühl hatte, die winzigste Berührung könnte ihr Herz zum Stillstand bringen.
»Wer hat dir das angetan?«, flüsterte er.
Als er ein Räuspern hörte, schnellte er herum. Ein Arzt in weißem Kittel stand hinter ihm, eine Krankenakte an die Brust gepresst. Der Mann schob seine Brille in die Stirn, stellte sich als Azras behandelnder Arzt Hans Schantz vor und bedeutete ihm dann mit einer Geste, dass sie sich draußen vor der Tür unterhalten könnten. Tomas folgte ihm hinaus auf den Korridor.
»Was ist passiert?«, fragte er.
»Das herauszufinden ist Aufgabe der Polizei, meine Aufgabe besteht darin, ihr Leben zu retten«, antwortete der Arzt.
Tomas blickte durch das Fenster in der Tür auf Azras Bett.
»Ist es so ernst?«
»Sie wird vermutlich überleben. Aber sie hat ernsthafte innere Blutungen und schwere Frakturen am Schädel und im Gesicht. Wir haben sie operiert und halten sie seitdem im künstlichen Koma.«
»Wann wurde sie eingeliefert?«
Schantz warf einen Blick in die Krankenakte.
»Ankunftszeit des Rettungswagens war 21:13 Uhr gestern Abend.«
»Ist die Polizei hier gewesen?«
»Sie haben den RTW begleitet und sind dann nach Hallstahammar zurückgekehrt. Sie wollten sich heute im Lauf des Tages melden. Ich muss jetzt leider weiter, aber ich werde später noch eine Folgeuntersuchung vornehmen.«
Die Schritte des Arztes entfernten sich den Korridor hinunter. Tomas ging zurück zu Azra, sank auf einen Stuhl am Fenster und vergrub das Gesicht in den Händen. Wer hatte Azra das angetan? Und warum? War es ein Raubüberfall, der aus dem Ruder gelaufen war? Eine versuchte Vergewaltigung? Er dachte an den Einbruch bei Vera Berg und seinen Verdacht, ihr Täter könnte in die Wohnung eingedrungen sein, um Mersiha Selimovic’ Zeichnung zu entwenden. Er setzte den Gedankengang fort, zu Mersiha Selimovic’ Verschwinden. Hingen die Ereignisse miteinander zusammen? Ausgeschlossen war es nicht.
Die Untätigkeit machte ihn rastlos. Er stand auf und ging zum Handwaschbecken. Es gab keine Plastikbecher. Er drehte den Wasserhahn auf, formte die Hände unter dem Strahl zu einer Schale und trank. Nachdem er sich den Mund abgewischt hatte, blickte er hinaus in den Korridor und beschloss, ein Telefon zu suchen und die Kollegen in Hallstahammar anzurufen. Er brauchte Antworten und gleichzeitig jemanden, an dem er seinen Zorn auslassen konnte.
»Ich komme bald wieder«, versprach er Azras regloser Gestalt und ging aus dem Zimmer.
Als er auf der Suche nach einer Krankenschwester den leeren Korridor hinunterlief, öffnete sich der Aufzug, und zwei junge, uniformierte Beamte stiegen aus. Sie bewegten sich auf Azras Zimmer zu. Tomas rief ihnen nach.
»Seid ihr aus Hallstahammar?«
»Ja«, bestätigte der eine.
»Ich bin ein Kollege von euch. Und ein Freund der Frau, die zusammengeschlagen wurde.«
Die Beamten tauschten einen raschen Blick.
Er kannte keinen der beiden, und sie schienen ihn nicht zu kennen. Vor zehn Jahren hätten sie es garantiert getan, dachte er. Aber die Kollegen, die ihren Dienst in Hallstahammar verrichteten, betrachteten die Kleinstadt häufig als Sprungbrett zu etwas Größerem. Sie blieben selten länger als ein paar Jahre, ehe sie sich auf attraktivere Posten versetzen ließen.
»Ich arbeite bei der Stockholmer Mordkommission«, fuhr er fort, weil er wusste, dass das ihre Kooperationsbereitschaft steigern würde.
Tomas zog sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche und zückte seinen Dienstausweis.
»Erzählt mir, was vorgefallen ist«, sagte er, klappte das Portemonnaie wieder zu und schob es zurück an seinen Platz.
Der Größere der zwei nickte eifrig.
»Eine Familie hat sie gefunden«, berichtete er. »Sie war übel zugerichtet. Nicht ansprechbar. Aber sie hatte Glück im Unglück. Der Vater hatte ein Handy dabei und hat den Notruf alarmiert.«
»Wo wurde sie gefunden?«
»Am Skantzsjön, wenn Ihnen das was sagt.«
Tomas’ Herz hämmerte in der Brust.
»Ich weiß, wo der See liegt.«
Er dachte daran, wie Azra und er am Ufer spazieren gegangen waren, und zwang sich in die Wirklichkeit zurück.
»Ich schätze, es gibt noch keinen Verdächtigen?«
»Nein. Sie hat eine ganze Weile dagelegen. Arme Frau. Vielleicht war es ein Skinhead. Davon haben wir eine Menge in Hallstahammar. Wütende und brutale Typen. Klar darf man über Ausländer seine Meinung haben. Der eine oder andere Krawallmacher sollte mit dem erstbesten Flugzeug in die Heimat zurückbefördert werden. Aber eine Frau derart zuzurichten, das ist unbegreiflich. Woher kennen Sie sie?«
Tomas ignorierte die Frage. Die beiden Beamten wussten derzeit nicht viel mehr als er selbst. Mit einem Mal wollte er nichts anderes als allein sein.
»Ich will euch nicht länger aufhalten«, sagte er. »Ihr seid bestimmt hier, um mit dem behandelnden Arzt zu sprechen. Aber ich wäre euch dankbar, wenn ihr mich über den Stand der Ermittlung auf dem Laufenden hieltet. Schreibt euch meine Telefonnummer auf und teilt mir jeden noch so kleinen Fortschritt mit.«
Der Größere zog einen Notizblock hervor, und Tomas diktierte ihm sowohl seine Durchwahl im Präsidium als auch seine private Festnetznummer. Als sie sich voneinander verabschiedet hatten, rief er ihnen nach und holte sie noch einmal ein.
»Ich nehme an, ihr kennt Micael Bratt, den Schauspieler?«
»Klar, den kennt doch jeder.«
»Er war nicht zufällig kürzlich in Hallstahammar?«
Seine beiden Kollegen starrten ihn verblüfft an. Ihm war klar, dass sie die Frage für einen Scherz hielten.
»Warum hätte er in Hallstahammar sein sollen?«
»Keine Ahnung.«
»Uns ist jedenfalls nichts dergleichen bekannt.«
Tomas verabschiedete sich erneut und ging zum Café unten am Eingang, um sich etwas zu trinken zu kaufen, während die beiden Polizeibeamten Azras Zimmer betraten und mit dem Arzt sprachen. Das Café hatte geschlossen. Tomas setzte sich auf eine Bank. Eigentlich sollte er Klara anrufen, aber er wollte sie nicht anlügen, wo er gerade war. Erneut ging ihm der Gedanke durch den Kopf, der Überfall auf Azra könnte mit der laufenden Ermittlung zusammenhängen. War es ein gegen ihn gerichteter Racheakt? Eine Warnung? Doch das würde bedeuten, dass der Täter von seiner Beziehung zu Azra wusste. Das ergab keinen Sinn.
Er fragte sich, wo Micael Bratt steckte. Er würde Bratts Agenten anrufen und eine Liste von Bratts Engagements anfordern. Falls Dreharbeiten zu einem neuen Film bevorstanden, konnte Bratt sich nicht ewig verstecken. Irgendein Punkt in seinen Grübeleien um den Schauspieler ließ ihm keine Ruhe. Irgendein Detail an der äußersten Peripherie, das er nicht klar erkennen konnte, die Umrisse waren verschwommen und nicht greifbar.
Nach einer halben Stunde gab er auf und kehrte mit schweren Schritten zu Azras Zimmer zurück. Vorsichtig öffnete er die Tür. Der Arzt und die beiden Polizisten waren nicht mehr da. Er ging hinein.
»Nein, nein!«
Er stürzte ans Bett.
»Nein. Nein. Nein.«
Auf dem Laken unter Azra breitete sich ein großer roter Fleck aus. Mit zitternder Hand beugte Tomas sich vor, riss ihr die Decke vom Körper und berührte das Blut, das aus ihrem Unterleib strömte. Alle Kraft wich aus ihm, und er sank neben der Bettkante auf die Knie, während er das warme Blut auf seinen Fingerspitzen anstarrte.