Zwei Penner hatten sich in der Bushaltestelle an der Hornsgatan häuslich eingerichtet, Bierdosen und ein Brot zwischen sich, das sie mit den Händen in Stücke rissen. Vera saß auf der gegenüberliegenden Straßenseite bei laufendem Motor in ihrem Saab und ließ die Klimaanlage arbeiten. Eiskalte Luft strömte ins Wageninnere. Die Temperaturanzeige im Armaturenbrett zeigte zweiunddreißig Grad. Die Hitzewelle hatte Schweden weiterhin fest im Griff. Im Radio kam ein Bericht über die neue gesetzliche Regelung zum Schuldenerlass, die am 1. Juli in Kraft getreten war. Wie wohl ein Gerichtsvollzieher reagierte, wenn sie an seine Tür klopfte und um Hilfe bei ihrer Schuldentilgung bei Pål und seinen Bikerkumpels bäte, dachte Vera.
»Wie lange bleiben wir hier noch stehen?«, fragte Sigge, der ausgestreckt auf der Rückbank lag und eine Dose Oliven futterte.
Vera warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor drei.
»Nur noch zwanzig Minuten.«
»Das ist eine Ewigkeit«, maulte Sigge.
»Nein, zwanzig Minuten gehen ganz schnell um, Großer.«
»Der Sommer ist bald vorbei, und wir haben nichts Lustiges gemacht«, murrte Sigge weiter.
Eigentlich hatte Vera vorgehabt, nur einen kurzen Blick auf Tomas Wolfs Wohnung zu werfen. Die Hoffnung, dass Klara Wolf zu Hause wäre, hatte sie fast aufgegeben. Doch heute hatte sie tatsächlich die Silhouette einer Frau am Küchentisch sitzen sehen. Und eine Sekunde später war Wolf neben ihr erschienen. In der Hoffnung, sich ihm bei irgendeiner Unternehmung an die Fersen heften zu können, war sie geblieben.
Vera drehte den Zündschlüssel um, Motor und Klimaanlage erstarben. Die Penner im Bushäuschen schienen in Streit geraten zu sein. Der eine, der eine Texaco-Kappe trug, stand auf und musterte seinen Kumpel.
»Ich kann dich in zwei Minuten abmurksen«, sagte er dann.
»Träum weiter. Ich hab mal einen einbeinigen Rumänen vermöbelt, und da reden wir von einem Kampf auf Leben und Tod.«
In diesem Moment ging Wolfs Wohnungstür auf, und er kam heraus. Eine Minute später fuhr er in seinem Volvo in Richtung Hornstull davon.
Vera wartete zwei Minuten für den Fall, dass er drehen und in die Gegenrichtung fahren würde, dann stieg sie aus.
»Ich bin gleich wieder da, Großer. Wenn es dir im Auto zu heiß wird, kannst du die Tür aufmachen.«
Sie überquerte die Hornsgatan und stieg die Treppe zum Laubengang hinauf.
Klara Wolf öffnete ihr mit verärgerter Miene die Tür.
»Tomas ist nicht da«, sagte sie.
Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, und das weiße Trägertop, das sie trug, machte sie blass, als wäre die Sonne nicht imstande, auf ihrer Haut Fuß zu fassen.
»Ich möchte nicht zu Ihrem Mann.«
Klara Wolf sah sie forschend an. Dann trat sie zur Seite und ließ sie herein.
Vera setzte sich an den Küchentisch. Klara Wolf schenkte ihnen aus einer Thermoskanne Kaffee ein und seufzte vernehmlich, als sie keine Milch im Kühlschrank fand. Die Lamellen waren heruntergelassen. Im Raum war es stickig, und ein leichter Abfallgeruch hing in der Luft. Klara Wolf ließ sich schwer auf den anderen Küchenstuhl sinken.
»Werde ich dieses Gespräch bereuen?«
Sie strich mit der Hand über die orange Wachstuchtischdecke, griff nach einer Serviette und fingerte zerstreut daran herum.
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Vera.
»Dann bringen wir es hinter uns.«
Vera bekam das Gefühl, auch Klara Wolf suchte nach Antworten, die ihren Mann betrafen.
»Wissen Sie, ob Ihr Mann in Kürze wieder nach Hause kommt?«
»Nein, er bleibt länger weg. Er wollte sich mit einem Kollegen in der Stadt treffen.«
»Ich habe eigentlich drei Fragen. Und alle drei betreffen Ihren Mann.«
»Warum fragen Sie nicht ihn?«
»Er will mir keine Antworten geben.«
Klara Wolf presste die Lippen aufeinander und hob die Augenbrauen.
»Das klingt ganz nach ihm.«
»Erinnern Sie sich an den fünften Juni dieses Jahres?«
Klara Wolf drehte sich zum Kühlschrank und betrachtete den Kalender, der daran hing. Das Kästchen des fünften Juni war leer, das Kästchen des Folgetags enthielt einen Eintrag: Bank 10 Uhr.
»Ja«, sagte sie.
»Erinnern Sie sich, wo Ihr Mann am Abend und in der Nacht war?«
»Nein.«
»Sie erinnern sich nicht?«
»Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich, dass er müde war und sich am nächsten Tag sonderbar verhalten hat. Nach unserem Banktermin hat er im Auto einen Aussetzer bekommen. Ich habe ihn in der Nacht davor nicht nach Hause kommen hören. Ich dachte, er wäre bei der Arbeit. Aber ich habe ihn nicht gefragt, was genau er gemacht hat.«
Vera zog ihr Notizbuch hervor und notierte, dass Tomas Wolf für den Mord an Nadija Alihodzic kein Alibi zu haben schien, es sei denn, ein Kollege konnte bezeugen, wo er gewesen war. Das würde sie überprüfen.
Sie fragte Klara Wolf, ob sie mitbekommen hätte, wann ihr Mann in der Nacht auf den elften Juni in Rättvik eingetroffen war.
»Ich hatte keine Ahnung, dass er kommen wollte. Als ich aufgewacht bin, war er plötzlich da, schien aber selbst nicht zu wissen, wie er hergekommen war.«
Also hatte Wolf kein Alibi für den Mord an Carmen Diaz. Vera nahm Witterung auf.
»Sie wussten nicht, dass Ihr Mann nach Rättvik kommen würde?«
»Nein, und ich hatte den Eindruck, dass er es genauso wenig wusste. Er hatte kein Gepäck dabei. Warum stellen Sie diese Fragen? Was hat Tomas gemacht?«
Klara Wolf schien mit ihren Kräften am Ende zu sein. Ihre blauen Augen flackerten umher, fanden nirgends Halt, als seien sie auf der Flucht.
Vera begriff, dass sie etwas Entscheidendem auf der Spur war.
»Ich kenne ihn nicht mehr.« Klara Wolf vergrub das Gesicht in den Händen.
Unten auf der Hornsgatan klingelte ein Eiswagen. Als sie Vera wieder ansah, hatte sie Tränen in den Augen.
Klara Wolfs Abwehrmechanismen waren zusammengebrochen. Vera hatte das schon häufiger bei Menschen erlebt, die sie interviewte und die eine Last mit sich herumtrugen, die ihre Kräfte überstieg. Das Gefühl, dass jemand zuhörte, war das Einzige, was nötig war, damit sie zu reden begannen. Falls Klara Wolf etwas wusste, würde sie die Wahrheit sagen. Jedenfalls so lange, wie Vera ihr keine Angst machte.
Sie sah Klara Wolf mitfühlend an, schwieg aber. Wenn sie sie zu sehr drängte, würde sie sich verschließen.
»Nicht, seit er von seinem Kriegseinsatz zurückgekommen ist«, fuhr Klara fort.
»Hat Ihr Mann sich verändert? Inwiefern?«
»Es geht schneller, wenn ich die Punkte aufzähle, in denen er sich nicht verändert hat. Er ist nicht mehr der Mann, den ich geheiratet habe. Und ich glaube, dass er unter Gedächtnislücken leidet.«
»Warum glauben Sie das?«
»Das ist nur so ein Gefühl. Manchmal, wenn ich ihn frage, wo er gewesen ist oder was er gemacht hat, sieht er mich mit vollkommen leerem Blick an, als würde er nicht verstehen, was ich meine, oder sich nicht erinnern können. Und dann tischt er mir irgendeine Erklärung auf, die keinen Sinn ergibt. Einmal habe ich ihm zwei Tage hintereinander dieselbe Frage gestellt, um ihn auf die Probe zu stellen, und habe gefragt: An welchem Fall arbeitest du gerade? Er hat mir zwei verschiedene Antworten gegeben.«
»Haben Sie ihn darauf angesprochen?«
Klara Wolf begann erneut zu weinen.
»Ich habe mich nicht getraut. Aus Angst, die Antwort nicht zu verkraften. Wenn ich mich irre und Tomas nicht vergisst, sondern mich bewusst belügt, dann … Ich habe das Gefühl, dass er ein Verhältnis hat.«
Vera erwog, nach der muslimischen Frau zu fragen, von der Tomas Wolfs Brüder gesprochen hatten, doch damit riskierte sie, dass Klara Wolf sich verschloss. Außerdem wusste sie nicht, wie das Gespräch der Brüder gemeint gewesen war. Ob sie von einer Affäre oder einem Übergriff gesprochen hatten.
»Gibt es dafür irgendwelche Anzeichen?«, fragte sie stattdessen.
»Wir haben neulich ein Kaufangebot für ein Haus abgegeben. Für ein hübsches Reihenhaus, das unseres werden sollte. Aber als wir mit der Bank gesprochen haben, stellte sich heraus, dass unser Geld nicht mal für die Anzahlung reicht, und die Bank wollte uns keinen Kredit mehr bewilligen. Das war ein Schock für mich. Ich hatte geglaubt, wir hätten Ersparnisse und würden jeden Monat einen kleinen Betrag auf die hohe Kante legen. Aber es kam heraus, dass Tomas überhaupt kein Geld angespart hat.«
»Was hat er mit dem Geld gemacht?«
»Als ich unsere Konten durchgegangen bin, habe ich festgestellt, dass er seit Jahren jeden Monat zweitausend Kronen abhebt.«
»Auch während der Zeit, in der er in Bosnien gewesen ist?«
»Nein, aber direkt davor hat er eine große Summe abgehoben. Zwölftausend Kronen. Und er war sechs Monate weg. Es scheint irgendeine Art Abzahlung gewesen zu sein, oder … ich weiß nicht, als hätte er jemand anderen. Das habe ich jedenfalls gedacht.«
»Sie haben ihn nicht gefragt, was er mit dem Geld gemacht hat?«
Unwirsch wischte sich Klara mit der Serviette die Tränen aus dem Gesicht, was ihre verweinten Augen noch röter machte.
»Doch. Er hat gesagt, er hätte es … einem Ausländer gegeben.«
»Einer Frau oder einem Mann?«
Klara Wolf runzelte die Stirn. Eine neue Erklärung schien ihr in den Sinn zu kommen. Eine Erklärung, die sie nicht wahrhaben wollte.
»Er sagte, es sei ein Mann. Ich habe ihm geglaubt. Ich will ihm glauben. Aber ich bin mir nicht mehr sicher.«
»Wer ist dieser Mann?«
»Tomas sagte, es sei jemand, den er und sein älterer Bruder Kristian vor vielen Jahren misshandelt haben. Tomas war früher Skinhead. Er sagte, Kristian hätte die Frau des Mannes belästigt. Als der Mann Kristian angegriffen hat, hat Tomas ihn zusammengetreten. Der Mann sitzt heute im Rollstuhl. Kristian und Tomas sind beide ungeschoren aus der Sache rausgekommen.«
»Erkauft er sich mit dem Geld Schweigen?«
»Er sagt, er macht es aus schlechtem Gewissen.«
»Glauben Sie ihm?«
Klara Wolf holte tief Luft.
»Ich weiß gar nichts mehr. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir sagen, was los ist. Deshalb habe ich Sie reingelassen.«
Vera lächelte gequält.
»Ich wünschte, ich könnte es. Aber ich habe keine Antwort. Noch nicht. Vielleicht kann ich Ihnen eine Antwort geben, wenn ich herausfinde, wie alles miteinander zusammenhängt. Wenn es das überhaupt tut.«
»Wie was miteinander zusammenhängt?«
Vera senkte den Blick auf den Tisch. Ein bohrendes Gefühl, auf dem Holzweg zu sein, ergriff von ihr Besitz. Was, wenn am Ende alles darauf hinauslief, dass Tomas Wolf lediglich einen Haufen Geheimnisse aus seiner Vergangenheit mit sich herumtrug? Seltsames Verhalten war nicht ungewöhnlich, wenn man von alten Geistern heimgesucht wurde. Das musste nicht bedeuten, dass Wolf ein Mörder war oder versuchte, seine Brüder vor den Konsequenzen eines Mordes zu schützen. Gott weiß, dass meine Vergangenheit mich noch immer straft, dachte sie.
Aber warum war er ohne Gepäck in Rättvik aufgetaucht?
»Darf ich diese Frage vorerst überspringen? Ich möchte keine Behauptungen aufstellen, für die ich keine Beweise habe. Was ich sagen kann, ist, dass Ihr Mann und ich demselben Verbrechen nachgehen. Und ich habe einige Bedenken hinsichtlich der Art und Weise, wie Ihr Mann seine Arbeit verrichtet.«
»Etwas Ernsteres steckt nicht dahinter?«
»Möglicherweise. Aber wie gesagt, ich weiß es noch nicht.«
Sie wirkt fast enttäuscht, dachte Vera. Sie will Bestätigung, dass ihr Mann eine Affäre hat oder etwas, das dem zumindest gleichkommt. Die Erleichterung spüren, endlich eine Antwort zu haben.
»Wir haben uns getrennt. Deshalb stinkt es hier so. Es ist erst zwei Tage her, und schon lässt er die Wohnung verkommen.«
»Das tut mir leid.«
»Es muss Ihnen nicht leidtun. Es ist am besten so. Ich kann kaum darüber sprechen. Tomas war betrunken oder stand unter Drogen, als er mit den Kindern alleine war. Als ich nach Hause gekommen bin, hat Ebba mit Tomas’ Dienstwaffe auf Alexander gezielt. Tomas hat im Bett gelegen und geschlafen. Er hatte sich im Schlafzimmer eingeschlossen.«
Klara Wolf wandte den Blick ab. Sie schluckte krampfhaft.
»Ich bin nur hier, um ein paar Sachen für mich und die Kinder zu holen. Ich muss gleich wieder los. Meine Freundin passt gerade auf sie auf. Ich will sie nicht noch mehr belasten. Ich habe ohnehin schon ein schlechtes Gewissen, weil wir bei ihr wohnen müssen.«
»Ich verstehe. Nur noch eine letzte Frage. Wann ist Ihr Mann aus Bosnien zurückgekommen?«
Klara Wolf stand auf, ging zum Kühlschrank und blätterte im Kalender.
»Im März. Am siebten«, sagte sie dann.
Ein Gefühl der Leere erfasste Vera. Sie war tatsächlich auf dem Holzweg gewesen. Der Überfall auf Mersiha Selimovic hatte sich am sechsten März ereignet. Da war Tomas Wolf vermutlich gerade mit letzten Vorbereitungen für seinen Rückflug nach Stockholm beschäftigt gewesen.
»Haben Sie irgendetwas, was das beweist? Einen Beleg oder etwas Ähnliches?«, fragte sie trotzdem.
»Ja, vielleicht.« Klara Wolf verließ die Küche.
Als sie zurückkam, hielt sie ein Blatt Papier in der Hand, das sie Vera reichte. Eine Gehaltsabrechnung. Vera überflog die Seite, entdeckte aber keinen Eintrag zum siebten März.
»Hier steht, dass er seinen Sold bis einschließlich fünfundzwanzigsten Februar bezogen hat. Ist Ihr Mann nach Beendigung seiner Dienstzeit noch ein paar Tage länger in Bosnien geblieben?«
»Nein, aber jetzt, wo Sie es sagen. Das hatte ich völlig vergessen. Er ist nicht sofort nach Hause gekommen.«
Veras Energie kehrte schlagartig zurück.
»Warum ist er nicht gleich nach Schweden zurückgekehrt?«
»Er sagte, er wolle sich Europa ansehen, und hat den Bus genommen. Er musste mehrmals umsteigen. Von Deutschland aus hat er eine Fähre genommen und ist von Malmö aus mit dem Zug weitergefahren.«
»Er war also in Malmö?«
»Ja, er hat da übernachtet und am nächsten Morgen den Frühzug nach Stockholm genommen. Das weiß ich noch, weil ich ihn mit dem Auto aus Malmö abholen wollte, damit wir zusammen über Nacht zurückfahren. Aber Tomas wollte das nicht. Ich war maßlos enttäuscht und habe mich gefragt, warum er mich nach der langen Trennung nicht vermisst.«
Was Klara Wolf da sagte, war von entscheidender Bedeutung. Es hieß, dass Tomas Wolf für keinen der drei Überfälle ein Alibi besaß. Und er war nicht nur in der Nacht, in der Carmen Diaz ermordet worden war, durch Falun gefahren, sondern er hatte sich obendrein zu dem Zeitpunkt, an dem Mersiha Selimovic vergewaltigt worden war, in Malmö aufgehalten.
»Und Sie sind sich sicher, dass Ihr Mann am sechsten März in Malmö übernachtet hat?«
»Ja.«
Klara Wolf nahm eine Streichholzschachtel von der Dunstabzugshaube und gab sie Vera.
»In diesem Hotel hat er gewohnt.«
Vera las den Aufdruck. Hotel Kramer. Und eine Telefonnummer. Das zu überprüfen war ein Kinderspiel.
»Ich kam mir so dämlich vor. Ich hatte rote Spitzenunterwäsche gekauft. Stay ups. Mir vorgestellt, wie ich ihn nur mit Slip und BH bekleidet am Bahnhof abhole. Und dann wollte er mich nicht mal treffen.«
»Sie waren und sind nicht dämlich.« Vera legte Klara Wolf eine Hand auf den Arm. »Darf ich mir die Gehaltsabrechnung ausleihen? Sie bekommen sie zurück, sobald ich eine Kopie davon gemacht habe.«
»Wenn Sie versprechen, mir zu erzählen, was Sie herausfinden.«
»Versprochen. Aber jetzt will ich Sie nicht weiter behelligen.«
Bevor Vera die Küche verließ, legte sie Klara die Hand auf die Schulter, dann ging sie hinaus in den Laubengang, klaute eine Zigarette aus der Schachtel Prince, die im Blumentopf auf dem Tisch lag, und inhalierte ein paar tiefe Züge.
Im Grunde ist es gar nicht Tomas Wolf, den ich jage, dachte sie, als sie die Zigarette am Balkongeländer ausdrückte und hinunter zum Auto ging, um mit Sigge ins Freibad zu fahren. Sondern Männer, die ihre Nächsten im Stich lassen. Die ihr eigenes Leben führen. Ohne Rücksicht auf andere. Tomas Wolf und Jonny unterschieden sich nicht groß voneinander. Ihren Vater konnte sie ebenfalls zu dieser Sorte Mann hinzuzählen. Sie logen und betrogen. Traten andere Menschen mit Füßen.
Vera umklammerte die Streichholzschachtel, die Klara Wolf ihr gegeben hatte. Bald habe ich dich, du Schwein, dachte sie und schob die Schachtel in die Brusttasche ihres Hemdes.
Eine lateinamerikanische Sieben-Mann-Combo mit Federschmuck auf dem Kopf sorgte in der Fußgängerzone vor dem Kaufhaus Åhléns für Stimmung. Tomas und Zingo liefen die Drottninggatan weiter Richtung PUB entlang. Die Außenbereiche der Restaurants und Parks waren von Schwedentrikots, Wikingerhelmen oder Pippi-Langstrumpf-Perücken tragenden Fußballfans bevölkert. Etliche davon mit gelb-blauer Gesichtsbemalung. Auf dem Pflaster boten fliegende Händler ihre auf Decken ausgebreitete Ware an, Haarreifen, Zöpfe, Kupferschmuck, Sandalen und Kassetten. In nicht einmal einer Viertelstunde traf Schweden im Cotton Bowl Stadium in Dallas im Achtelfinale auf Saudi-Arabien. Anders als bei den Gruppenspielen war der Anstoß für zwölf Uhr mittags Ortszeit anberaumt, sodass das Spiel in Schweden um fünf Uhr nachmittags begann. Die schwedischen Sportexperten orakelten, die drückende Hitze, die über dem Fußballstadion lag, könnte den Saudis einen Vorteil verschaffen. Auch in Schweden hielt die Hitze unverändert an.
Es war zwei Tage her, dass Ebba mit seiner Dienstwaffe auf Alexander gezielt hatte. Bei dem Gedanken daran brach Tomas jedes Mal der kalte Schweiß aus. Er zwang das Bild beiseite und versuchte, an Azra zu denken. Er hatte mehrmals in der Flüchtlingsunterkunft angerufen, doch der Leiter hatte ihm ausgerichtet, dass Azra nicht mit ihm sprechen wollte. Von den Kollegen in Hallstahammar hatte er erfahren, dass sie sich nicht an den Überfall erinnerte und keinen Hinweis auf den Täter geben konnte.
Die Jagd nach dem Mann, der Carmen Diaz und Nadija Alihodzic erdrosselt hatte, mit seinem Mordversuch an Mersiha Selimovic jedoch gescheitert war, ging nicht voran. Mit Zingo hatte er sich der trostlosen Aufgabe gewidmet, die Gästelisten sämtlicher Hotels und Pensionen in der Nähe der drei Tatorte durchzugehen. Aber sie hatten keine einzige Namensgleichheit entdeckt. Zum zweiten Mal binnen einer Woche hatten sie beschlossen, wieder bei null anzufangen oder zumindest einen anderen Kurs einzuschlagen. Zingo hatte, obwohl heute Sonntag war und sie beide freihatten, einen Spaziergang durch die Stadt vorgeschlagen, um neue Ansatzpunkte und Ideen zu diskutieren. Als Tomas gefragt hatte, wo er spazieren gehen wollte, hatte seine Antwort Drottninggatan gelautet. Bisher aber hatte ihre Diskussion sie keinen Schritt weitergebracht, und Tomas registrierte, dass Zingo zunehmend durstigere Blicke auf die schattigen Außenbereiche der Restaurants warf.
»Wir suchen also einen Nomaden. Einen Nomaden mit Sehbeeinträchtigung, der weder im Hotel noch in einer Pension absteigt«, sagte Zingo.
»Vielleicht ist er Lkw-Fahrer wie Jörgen Waltz, oder er kehrt im Anschluss an die Taten mit dem eigenen Pkw nach Hause zurück«, erwiderte Tomas. »Von den Flüchtlingsunterkünften könnte er auch aus den Medien erfahren haben.«
Zingo hob die Schultern.
»Was diese Kontaktlinse angeht, konnten uns die Malmöer Kollegen ja leider nicht mit weiterführenden Informationen dienen«, fuhr Tomas fort.
Als er heute Morgen trotz seines freien Tages ins Büro gefahren war, hatte auf seinem Anrufbeantworter eine Nachricht geblinkt, in der ihm ein Malmöer Kollege lapidar mitteilte, die Analyse der Kontaktlinse, die nach dem Überfall auf Mersiha Selimovic sichergestellt worden war, habe – abgesehen davon, dass die Kontaktlinse aus Glas und ihr Träger kurzsichtig sei – keine weiteren Erkenntnisse erbracht.
Zingo wollte gerade antworten, als ihn ein sturzbetrunkener Fußballfan in die Seite rempelte. Tomas bezweifelte, dass der Mann, der mit nichts als einer schwedischen Fahne als Lendenschurz bekleidet war, den Anstoß bei Bewusstsein erleben würde. Sie liefen an einem verrammelten Kino vorbei. Die Filmplakate warben für Schindlers Liste und Free Willy . Unweigerlich dachte er an Micael Bratt, der weiterhin verschwunden blieb. Wieder einmal beschlich ihn das Gefühl, etwas zu sehen, ohne es zu verstehen. Sie überquerten die Kungsgatan. Eine Gruppe betrunkener Fans mit Gesichtsbemalungen in den schwedischen Nationalfarben grölte »Wenn wir in den USA nach Gold graben«. Nachdenklich blickte Tomas zurück auf die Kinoplakate. Zingo ging weiter. Tomas griff nach seinem Notizbuch, stellte jedoch fest, dass er es nicht bei sich hatte. Er holte Zingo ein, der verwirrt nach ihm Ausschau hielt.
»Wo warst du?«
»Wenn du irgendwo einkehren willst, ist das okay«, sagte Tomas. »Da drüben ist ein freier Tisch.«
Zingo grinste.
»Fast, als stünde mein Name darauf.«
Sie kämpften sich zu dem Tisch durch. Verwundert stellte Tomas fest, dass er auf den Namen Lars Johansson reserviert war.
»Also deshalb wolltest du unbedingt in die Drottninggatan?«
»Ja, oder jedenfalls nicht wegen der Panflötenspieler«, erwiderte Zingo. »Ich geh rein und bestell uns ein paar Bier. Der Besitzer ist ein alter Trabrennkumpel von mir. Es kommt günstiger, wenn ich es mache.«
»Kannst du ihn auch um Papier und Bleistift bitten?«, fragte Tomas und zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor.
Von seinem Platz aus hatte er die Frontansicht des Kinos im Blick. Der Gedanke, der am Rand seines Bewusstseins schwebte, nahm feste Gestalt an, schob sich in sein Blickfeld und schoss geradewegs auf ihn zu. Dreharbeiten und Theaterinszenierungen. Das war der gemeinsame Nenner, der die Fälle miteinander verband. In Malmö war es eine Theateraufführung gewesen. In Märsta ein Bier-Werbespot fürs Fernsehen. In Falun die Dreharbeiten zum Film Die Jagd . Daran war eigentlich nichts Neues, Micael Bratt hatte bei sämtlichen Produktionen mitgewirkt. Trotzdem … Tomas’ Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Sie hatten die Namen der Hotelgäste in Erfahrung gebracht und verglichen, jetzt mussten sie herausfinden, wer alles an den Produktionen beteiligt gewesen war.
Der Geräuschpegel um ihn herum schwoll immer weiter an.
Zingo kam zurück, im Schlepptau eine Kellnerin im Schwedentrikot und mit einem Tablett mit vier Biergläsern. Zingo setzte sich, die Kellnerin stellte die Biergläser auf den Tisch und nahm Papier und Stift aus ihrer Schürzentasche.
»Mein tüchtiger kleiner Junge will etwas malen«, sagte Zingo und deutete auf Tomas.
Die Kellnerin lächelte höflich und entfernte sich. Tomas beugte sich über den Tisch, damit Zingo ihn verstehen konnte.
»Mir ist eine Idee gekommen, die ich gerne mit dir durchspielen möchte. Du hast unseren unbekannten Täter als Nomaden bezeichnet. Wir haben sämtliche Hotels abgeklappert, ohne Erfolg. Aber an allen Tatorten haben, soweit wir wissen, Dreharbeiten stattgefunden, oder, in Malmö, eine Theaterinszenierung.«
Zingo nickte und leerte sein erstes Glas in großen Zügen. Bier rann seine Mundwinkel herunter und tropfte auf sein Hawaiihemd. Auch wenn er es nicht zeigte, Tomas war sicher, dass er konzentriert zuhörte.
»Vielleicht haben wir das Pferd am falschen Ende aufgezäumt«, fuhr er fort. »Vielleicht steht sein Name nicht auf den Gästelisten, weil die Produktionsgesellschaften die Übernachtungen unter ihrem Namen buchen.«
Zingo stellte sein Glas auf dem Tisch ab.
»Du hast recht«, sagte er und deutete mit dem Finger auf ihn. »Aber du machst das Ganze komplizierter, als es ist. Wir müssen nur die Namen der Film- und Theaterleute überprüfen, die bei den Produktionen mitgearbeitet haben, und sie abgleichen. Es muss doch Gehaltsnachweise geben.«
»Wie finden wir diesen Personenkreis heraus?«
»Bei dem Filmdreh in Falun müsste uns das Schwedische Filminstitut weiterhelfen können. Was diesen Bierwerbespot angeht, solltest du die Brauerei anrufen. War es nicht Falcon? Irgendjemand da wird schon Bescheid wissen.«
»Und dann wäre da noch das Malmöer Stadttheater«, sagte Tomas.
Er wollte keine Zeit mehr verlieren. Bis zum Anstoß waren es noch fünfundvierzig Minuten. Und zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass er ihn nicht verpassen wollte.
»Gibt es hier drin ein Telefon?«
»Ja. Glaubst du, ich schleppe dich in irgendwelche Spelunken?«
Tomas stand auf. Der Gastraum war genauso brechend voll wie der Außenbereich. Neben der Toilettentür hing ein Münzfernsprecher an der Wand. Er drängte sich an den Fußballfans, denen die Blase drückte, vorbei, schlug das Telefonbuch auf, das neben dem Apparat lag, suchte die Nummer des Schwedischen Filminstituts heraus, schob Kleingeld in den Schlitz und wählte. Doch niemand meldete sich. Er wählte die Nummer ein zweites Mal, mit dem gleichen Ergebnis. Dann suchte er die Nummer von Falcon heraus, aber auch in der Brauerei nahm niemand ab. Im Malmöer Stadttheater versuchte er es gar nicht erst. Vermutlich war das ganze Land, er ausgenommen, mit den Gedanken gerade beim bevorstehenden Achtelfinale.
Tomas hängte den Hörer ein und wollte gerade zu Zingo zurückgehen, als er innehielt.
Diese Kontaktlinse. Den Malmöer Kollegen zufolge war sie aus Glas. Wie weitverbreitet war diese Art Kontaktlinsen eigentlich?
Tomas schlug die Gelben Seiten auf und fuhr mit dem Finger die Liste der Optiker entlang. Er entdeckte ein Brillengeschäft im Sveavägen und rief an. Auch dort nahm niemand ab, aber ein Anrufbeantworter teilte ihm mit, dass der Laden bis siebzehn Uhr geöffnet war. Tomas hastete auf die Drottninggatan, beugte sich über das Geländer des Außenbereichs und rief Zingo zu, er sei gleich wieder da.
Die Schlange vor dem Eingang des Vanadis-Bads war bestimmt fünfzig Meter lang. Vermutlich standen an die hundert Leute vor ihnen, dachte Vera.
»Da kommen wir nie rein«, quengelte Sigge.
Er trug sein Lieblingsschwedentrikot mit Tomas Brolins Namen auf dem Rücken und hatte seine Jurassic-Park-Kappe aufgesetzt. Badesachen steckten in seinem Rucksack. Vera widerstand dem Impuls, an seiner sonnenwarmen Haut zu schnuppern.
»Soll ich dir einen Trick zeigen?«, fragte sie stattdessen.
»Du kannst überhaupt keine Tricks.«
»Du wirst schon sehen.«
Vera nahm ihn bei der Hand. Gemeinsam verließen sie ihren Platz am Schlusslicht der Schlange und spazierten, vorbei an unzähligen Familien mit Kindern, die in der Hitze dahinflossen, schnurstracks zur Kasse.
Im Augenwinkel entdeckte Vera etwas, das sie beunruhigte. Ihr Gehirn hatte ein Gesicht registriert, das ihr vage bekannt vorkam. Doch als sie sich umdrehte, war der Mann verschwunden. Was sollte sie tun, wenn Jonnys Bikergang ihr wieder im Nacken saß? Instinktiv zog sie Sigge dicht an sich heran. Sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden.
Als sie die beiden Halbwüchsigen an der Spitze der Schlange erreichten, schob Vera sich demonstrativ an ihnen vorbei. Eine korpulente Frau mit drei Sprösslingen, die ebenso breit wie hoch waren, schüttelte erbost den Kopf über das dreiste Vordrängelmanöver.
»Manche Leute haben kein Benehmen«, keifte sie.
Vera ignorierte sie und suchte mit den Augen erneut die Umgebung ab.
Hatte sie sich das Gesicht nur eingebildet?
Doch dann entdeckte sie den Mann. Er stand, ganz in Weiß gekleidet, im Schatten der Stefanskirche. Er kam ihr unverändert bekannt vor, doch er schien weder an ihr noch an Sigge interessiert zu sein. Vielleicht hatte sie ihn irgendwann einmal interviewt, oder es war ein Schauspieler, den sie mal im Fernsehen gesehen hatte?
Sie atmete auf. Ihre Paranoia war vermutlich nur eine Folge der Unterhaltung mit Klara Wolf. Ihr Verdacht gegen Tomas Wolf ließ sie überall Gefahren wittern.
»Der Nächste«, blaffte der Kassierer.
Vera trat an den Tresen und wurde von einem wütenden Mittvierziger im Schwedentrikot abgekanzelt.
»Ich habe gesehen, was Sie gemacht haben, Lady. Die Schlange endet an der Kirche.«
»Mein Name ist Vera Berg, und ich komme von der Kvällsposten . Wir machen eine Reportage über die besten Freibäder dieses Sommers. Aber vielleicht legen Sie keinen Wert darauf, daran teilzunehmen? Ich kann mich an Ihren Chef wenden, wenn Sie wollen?«
Sie hielt dem Mann ihren Presseausweis unter die Nase und legte Sigge den Arm um die Schultern.
»Und das hier ist unser Kinderreporter. Den müsst ihr überzeugen.«
Die Miene des Mannes hellte sich auf.
»Wenn das so ist.«
Unter seiner Oberlippe wölbte sich ein Snus-Beutelchen.
»Hereinspaziert. Ich organisiere zwei Sonnenliegen für euch. Und Eis.« Der Kassierer schob die klebrige braune Tabakmasse mit der Zunge nach oben.
Sigge drehte sich verblüfft um und blickte die lange Schlange entlang, an der sie sich vorbeigemogelt hatten. Die korpulente Frau starrte sie wütend an.
»Darf man das?« Er zupfte Vera am Kleid.
»Nein«, flüsterte sie und grinste verschwörerisch.
Der Kassierer verließ seinen Posten an der Kasse und holte zwei Sonnenliegen, die er unmittelbar am Pool aufstellte.
»Ist Ihnen der Platz recht?«
»Ja, vielen Dank«, sagte Vera.
Der Mann verschwand, und Sigge ließ seinen Rucksack zu Boden fallen.
»Darf ich vom Sprungturm springen?«
Er bebte förmlich vor Glück.
»Klar darfst du. Aber nur vom kleinen. Und nicht tauchen.«
»Versprochen. Ich übe nur meine Arschbombe.«
Sigge schlüpfte in seine Badehose, riss sich das Schwedentrikot vom Leib und rannte davon.
Vera zog ihren Bikini an, breitete Handtücher auf den Sonnenliegen aus und machte es sich bequem. Aus einem Transistorradio drangen die Nachmittagsnachrichten zu ihr herüber. Im spanischen Murcia war ein Hitzerekord gemessen worden: siebenundvierzig Grad im Schatten.
Sie nahm die Flasche Kokossonnenmilch aus ihrer Badetasche. Heute würde sie sich eine schöne Bräune zulegen. Als sie gerade begonnen hatte, sich einzucremen, klingelte ihr Handy. Mit klebrigen Händen griff sie danach.
»Hallo, hier ist Mersiha. Mersiha Selimovic«, sagte die Stimme am anderen Ende.
Für eine Sekunde blieb die Zeit stehen, dann kehrte die Wirklichkeit zurück.
»Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht«, erwiderte Vera atemlos. »Wo sind Sie gewesen?«
»Bei Freunden in Småland. Da leben viele Bosnier. Wie geht es Ihnen?«
»Gut. Es ist nur so verflucht heiß.«
Mersiha lachte.
»Das ist noch gar nichts. In Mostar steigen die Temperaturen im Sommer auf über vierzig Grad. Dann fühlt man sich, als hätte man einen Dauerschwips.«
Vera lächelte.
»Das klingt herrlich. Aber der Grund, warum ich Sie gebeten habe, mich zurückzurufen, ist der: Ihre Zeichnung ist weg. Sie wurde gestohlen. Es tut mir unendlich leid.«
»Das muss es nicht. Ich habe mehrere Zeichnungen. Ich wusste nicht, wohin mit meiner Wut, und habe sein Gesicht wieder und wieder gemalt.«
Mersiha Selimovic’ Stimme klang vollkommen neutral. Vielleicht liegt es am Krieg, dachte Vera. Wenn man alles verliert, lernt man womöglich, dass das Leben trotzdem weitergeht. Oder sie hatte einfach aufgegeben.
»Haben Sie die Möglichkeit, mir eine Zeichnung zu faxen?«, fragte sie.
»Ja, von der Flüchtlingsunterkunft aus. Die Leute da können mir helfen. Zu Hause habe ich kein Faxgerät.«
Vera stand auf und ging in Richtung Freibad-Café.
»Das ist nett von Ihnen. Warten Sie bitte einen Moment.«
Sie drängelte sich an den wartenden Kioskbesuchern vorbei, zeigte ihren Presseausweis vor, ließ sich die Faxnummer des Freibads geben und diktierte sie Mersiha Selimovic.
»Ich mache es sofort. Es dauert ungefähr eine Viertelstunde.«
»Danke, Mersiha. Ich werde alles tun, um dieses Schwein zu schnappen.«
Kurz darauf führte sie ein etwa zwanzigjähriger Schlaks mit Mittelscheitel in ein winziges Büro. Vera machte es sich in dem kühlen Raum bequem und starrte das Faxgerät an. Die Minuten krochen dahin. Der Stuhlsitz klebte an ihren nackten Oberschenkeln. Sie bemühte sich, ihre Hände von der klebrigen Sonnenmilch zu befreien.
Sie hatte sich Mersihas Zeichnung zwei-, vielleicht dreimal angesehen und sie dabei mit realen Personen verglichen. Das letzte Mal war über zwei Wochen her. Ihre Erinnerung an den Mann auf der Zeichnung war verblasst, die Konturen flossen auseinander, verschwammen.
Was, wenn das Faxgerät gleich tatsächlich Tomas Wolfs Gesicht ausspuckte? Was sollte sie dann tun?
Der Mittelscheiteltyp, der im Café an der Kasse arbeitete, gaffte sie ununterbrochen durch die geöffnete Tür an, zog sie förmlich mit seinen Blicken aus.
Schließlich hatte sie die Nase voll.
»Wie wär’s, wenn du dich verziehst und dir irgendwo einen runterholst? Dann kannst du dich hinterher vielleicht auch auf deine Arbeit konzentrieren.«
Im nächsten Moment klingelte das Faxgerät.
Vera hob den Hörer ab, und das Gerät erwachte zum Leben. Sie hielt den Atem an, während die Seite langsam zum Vorschein kam. Haare. Stirn. Augen. Nase. Gefolgt von Mund und Kinn. Am Ende war ein vollständiges Gesicht zu erkennen. Vera nahm das Blatt aus dem Gerät und betrachtete es. Die Tonertinte hatte die Kontraste und Schattierungen von Mersihas Bleistiftzeichnung verstärkt. Das Gesicht, das ihr entgegenstarrte, wirkte noch bedrohlicher, als sie es in Erinnerung gehabt hatte.
Der Mann, dessen tote Augen ihren Blick erwiderten, war nicht Tomas Wolf.
Vera nahm die Zeichnung mit hinaus ans Schwimmbecken, unschlüssig, wie sie weiter verfahren sollte. Sie hatte das Gefühl, wieder ganz am Anfang zu stehen.
Trotzdem stieß dieser Mann irgendetwas in ihrem Unterbewusstsein an. Sie war sich fast sicher, ihn schon einmal gesehen zu haben. Zum x-ten Mal kehrte das Gefühl zurück, dass sie etwas übersah.
Sie machte es sich auf der Liege bequem und hielt nach Sigge Ausschau. Er war nirgends zu sehen. Vera blickte zum Springturm. Auch da war er nicht.
Für einen besseren Überblick stieg sie auf die Liege. Ihr Herz klopfte wie wild, ihre Kehle schnürte sich zusammen.
Sie fand Sigge nirgendwo. Er war verschwunden.
Das Optikergeschäft lag nicht weit von der Stelle entfernt, an der acht Jahre zuvor Ministerpräsident Olof Palme erschossen worden war. Als Tomas dort ankam, schloss ein glatzköpfiger Mann mit runder Brille gerade das massive Eisengitter vor der Ladentür ab.
»Sind Sie der Inhaber?«, fragte Tomas.
Der Mann, der in den Fünfzigern zu sein schien und ungewöhnlich klein war, wandte sich um und musterte ihn.
»Ja. Aber ich habe geschlossen. Sie können gerne morgen wiederkommen.«
Amüsiert registrierte Tomas, dass der Mann unter seinem hellen Sommeranzug ein Schwedentrikot trug.
»Ich dachte, Sie hätten bis siebzehn Uhr geöffnet.«
»Normalerweise ja. Aber heute ist das Spiel.«
Auf dem Sveavägen fuhr ein alter Chevrolet vorbei. Aus dem Seitenfenster wehte eine große Schwedenfahne.
»Ich brauche jetzt Ihre Hilfe.« Tomas zückte seinen Dienstausweis. »Ich komme von der Stockholmer Mordkommission und habe einige Fragen, die nicht warten können. Spiel hin oder her.«
Das Gesicht des Mannes nahm einen gequälten Ausdruck an. Er schloss ab, steckte den Schlüssel in seine Aktentasche und stellte sie auf dem Bürgersteig ab.
»Ich würde gerne wissen, warum man Kontaktlinsen aus Glas einsetzt«, sagte Tomas.
»Das frage ich mich auch. Ich rate meinen Kunden zu modernen Hydrogel-Kontaktlinsen. Sie können besser Feuchtigkeit aufnehmen. Kontaktlinsen aus Glas reizen die Augen und können Brennen und Jucken verursachen.«
»Haben Kontaktlinsen aus Glas irgendwelche Vorteile oder Vorzüge?«
»Eigentlich nicht. Ich habe drei Kunden, die Kontaktlinsen aus Glas tragen. Allesamt ältere Semester. Vermutlich tragen sie sie aus Gewohnheit.«
»Gibt es Verzeichnisse darüber, welche Personen welche Art von Kontaktlinsen tragen?«
»Nein.«
Der Optiker sah auf die Uhr.
»Kontaktlinsen aus Glas sind heutzutage kaum noch erhältlich. Die Käufer bestellen sie per Post im Ausland.«
»Woher?«
»Überwiegend aus Deutschland.«
»Gibt es viele Hersteller?«
»Drei oder vier. Aber ich muss jetzt wirklich los. Ich will das Spiel nicht verpassen. Wir können es ins Viertelfinale schaffen. Sieht ganz danach aus, als würden wir da auf Argentinien treffen. Ich glaube, dass die Argentinier die Rumänen schlagen, auch ohne Maradona.«
»Warum? Spielt er nicht?«
Der Optiker sah Tomas an, als hätte er ihn beleidigt.
»Er ist wegen Dopings gesperrt. Haben Sie noch weitere Fragen?«
Tomas empfand fast Mitleid mit dem Mann. Sein nächstes Anliegen würde den im Fußballfieber befindlichen Optiker auf die Palme bringen.
»Ich benötige die Kontaktdaten dieser Hersteller.«
»Dann muss ich den Laden wieder aufschließen.«
»Danach lasse ich Sie sofort gehen«, versprach Tomas.
»Sicher?«
»Sicher.«
Der Optiker sah ihn durchdringend an, wie um festzustellen, ob er die Wahrheit sagte, dann griff er hastig nach seiner Aktentasche, nahm den Schlüssel heraus, schloss das Gitter auf, schob es hoch, riss die Ladentür auf und verschwand hinter dem Kassentresen. Tomas verzog amüsiert den Mund, als er hörte, wie der Mann fluchend in den unteren Regalen kramte.
»Hier habe ich sie.« Der Optiker schlug einen schwarzen Aktenordner auf. »Vier Hersteller. Zwei in Berlin, einer in Hamburg und einer in Stuttgart.«
Tomas beugte sich über die Anschriften.
»Hätten Sie …?«
Der Optiker griff unter den Tresen, riss ein Stück Papier ab und reichte Tomas einen Stift. Nachdem Tomas sich Namen und Telefonnummern der Hersteller notiert hatte, schubste der Optiker ihn regelrecht hinaus. Auf dem Bürgersteig ließ er nicht einmal das Gitter herunter, sondern begnügte sich damit, die Ladentür abzusperren.
»Wollen Sie nicht gründlich abschließen?«
»Ich glaube sowieso nicht, dass irgendwelche Diebe sich die Mühe machen, Brillen zu stehlen«, rief der Optiker im Davoneilen über die Schulter.
Tomas ging zurück. Als er in die Drottninggatan einbog, schallte ihm die Nationalhymne entgegen, sie kam von überallher, drang aus offenen Fenstern, aus den Restaurants und aus den Fernsehgeräten, die auf den umliegenden Balkons liefen. Hunderte Kehlen, vereinigt in einer schwermütigen Melodie zu Ehren einer Nation, deren Bedeutung in der Welt immer geringer wurde.
Tomas blieb stehen und nahm den Moment in sich auf.
Obwohl er spürte, dass er dem Täter dicht auf den Fersen war, dass er ihn so weit eingeholt hatte, dass er fast dessen fliehende Schritte hören konnte, erfasste ihn eine starke Wehmut. Er dachte an seine Kinder, die er im Stich ließ, an seine Frau, die er betrogen hatte, und an Azras reglose Gestalt im Krankenhaus in Köping.
Trotzdem machte er weiter und verfolgte den Täter. Einen Täter, der eine Bedrohung für junge, dunkelhaarige Frauen darstellte, indirekt aber auch für ihn selbst und die Menschen, die ihm nahestanden. Sind meine Motive wirklich so edel? Ist die Suche nach diesem Mann all das wert?
Um mich herum geht alles in die Brüche, was mir lieb und teuer ist, trotzdem bin ich nicht imstande, mich um meine Nächsten zu kümmern – weder um meine Familie noch um Azra –, bis die Jagd ein Ende hat. Ich werde nicht aufgeben. Ich werde diesen Dreckskerl weiter jagen, während die Welt in die Brüche geht und sich verändert, auch wenn es hinterher zu spät ist, das Zerbrochene zu kitten.
Er würde den Täter aufspüren, ihm in die Augen sehen, und erst dann würde er Befriedigung empfinden.
Ihn trieb kein edleres Motiv, als Gewissheit erhalten zu müssen.
Er tat es für niemand anders als sich selbst.
Er tat es, um eines Tages an einen Mörder zurückdenken zu können.
Vera drängte sich durch die Horden von Freibadbesuchern und hielt verzweifelt nach Sigge Ausschau. Überall waren Menschen, unmöglich, einen Überblick zu bekommen. Sie geriet zunehmend in Panik.
Vom Café schallte plötzlich frenetischer Jubel zu ihr herüber, breitete sich über die Liegewiese aus und schwoll immer weiter an. Vom Sveavägen antworteten Tausende Stimmen.
Schweden musste ein Tor geschossen haben.
Der Lärm und die Hitze machten Vera schwindelig. Sie hatte das ganze Freibad abgesucht, nur das Café, wo sie gewesen war, kurz bevor sie Sigges Verschwinden entdeckt hatte, hatte sie ausgespart. Sie konnte ihn beim Hinausgehen doch unmöglich übersehen haben?
Kurz entschlossen bahnte sie sich einen Weg durch das Gedränge. Draußen vor dem Café war ein Fernsehapparat aufgestellt worden, der das Epizentrum des Lärms, der Auslöser der fiebrigen Stimmung war, die das Freibad erfasst hatte. Das Achtelfinale gegen Saudi-Arabien lief erst wenige Minuten, und Schweden führte bereits mit eins zu null.
»Schwedens erster Vorstoß in den saudi-arabischen Strafraum endet mit einem Tor von Martin Dahlin«, schallte es aus dem Fernseher, wo die Wiederholung des Führungstreffers lief.
Vera ließ ihren Blick über die Außentische schweifen und kämpfte sich durch eine Mauer aus gelb gekleideten Fußballfans ins Innere des Cafés.
Sigge hockte in tropfnasser Badehose in der hintersten Ecke. Vera stürzte zu ihm hin, vor lauter Erleichterung war sie den Tränen nahe.
»Du darfst nicht einfach weglaufen.«
»Aber …«
Vera nahm ihn bei der Hand, atmete tief durch.
»Ist schon gut. Hauptsache, ich habe dich gefunden. Komm.«
Sie gingen hinaus auf die Liegewiese. Erst als sie das brechend volle Café verlassen hatten, bemerkte Vera das Softeis in Sigges Hand.
»Hast du das von dem Mann an der Kasse, der unsere Liegen aufgestellt hat?«
Sigge sah sie unsicher an.
»Sigge? Hat er dir das Eis gegeben?«
Sigge presste die Lippen aufeinander. Sein Blick flackerte, als überlege er, nicht die Wahrheit zu sagen.
»Nein«, murmelte er schließlich. »Ein anderer Mann hat es mir gegeben, aber er hat gesagt, dass er hier arbeitet.«
Veras Herz schlug bis zum Hals.
»Wo ist der Mann jetzt?«
Sigge zeigte zum Ausgang.
»Er ist nach Hause gegangen, glaube ich.«
Vera kniete sich vor ihn hin und fasste ihn bei den Schultern.
»Sigge. Du darfst nicht mit Fremden mitgehen. Hörst du? Das ist gefährlich.«
Der Junge starrte zu Boden, doch Vera sah, dass Tränen über seine Wangen kullerten. Eis tropfte sein Handgelenk herab.
»Ich wollte doch nur ein Eis, und du warst mal wieder nicht da. Es tut mir leid.«
Vera war wütend, aber es war nicht Sigges Schuld. Sie nahm ihn fest in die Arme.
»Wie sah der Mann aus?«
»Ich weiß es nicht.«
»Das ist wichtig, Sigge. Was hatte er an?«
»Eine weiße Hose. Und ein Hemd.«
Vera erstarrte.
»War das Hemd weiß?«
»Ja.«
»Pack deine Sachen. Wir müssen gehen.«
Das Gefühl, beobachtet zu werden, das sie seit Wochen verspürte, war berechtigt gewesen. Und jetzt wusste sie, wer sie beobachtete. Der weiß gekleidete Mann, der vorhin vor der Kirche gestanden hatte. Deshalb war er ihr bekannt vorgekommen.
Sie nahm ihr Handy aus der Badetasche und wählte Tomas Wolfs Nummer. Wolf ähnelte vielleicht nicht dem Mann auf Mersihas Zeichnung, aber irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Seit sie ihm begegnet war, häuften sich unerklärliche Ereignisse. Die Einbrüche bei ihr, ein Mann, der sie verfolgte, und die gestohlene Zeichnung. All das musste irgendwie miteinander zusammenhängen.
Tomas Wolf wusste, dass sie in seiner Vergangenheit stocherte und Geheimnisse zum Vorschein brachte, die er um jeden Preis unter Verschluss halten wollte. Die mysteriöse Frau aus der Flüchtlingsunterkunft in Hallstahammar, dass er sich nicht so weit aus der rechten Szene zurückgezogen hatte, wie er vorgab, dass er seine Brüder vor dem Arm des Gesetzes schützte und im Dienst Ausländer misshandelte; all diese Dinge kamen nun ans Licht – ihretwegen.
Wolf musste jemanden auf sie angesetzt haben. Niemand außer ihm hatte einen Grund, sie zu bewachen.
Er war vielleicht nicht der Mörder, den sie suchte. Aber konnte er mit dem Täter gemeinsame Sache machen, ihn decken?
Mit jedem verhallenden Klingelzeichen wuchs ihre Wut. Am liebsten hätte sie ihm in die Eier getreten. Am anderen Ende der Leitung sprang der Anrufbeantworter an.
Sie überlegte einen Moment, dann kam ihr eine Idee, wie sie Wolf anlocken konnte. Mit der Muslimin, die er seinen Brüdern zufolge gevögelt hatte.
»Hier ist Vera Berg. Wenn Sie sich nicht mit mir treffen, werde ich Ihrer Frau Ihr Geheimnis verraten«, sagte sie.