Es war der bislang heißeste Abend des Sommers. Vera Bergs Nachbarn, die noch in der Stadt waren, hatten sich auf dem begrünten Innenhof vor einem großen Fernsehapparat versammelt und verfolgten das Viertelfinale gegen Rumänien. Die zweite Halbzeit hatte gerade begonnen, und die Stimmen der Kommentatoren und das Raunen der Stadionmenge hallten zwischen den Häuserfassaden wider.
Tomas und Vera saßen ein Stück abseits an einem Gartentisch, mit Listen und der Zeichnung des unbekannten Täters befasst, die inzwischen den Kern der Ermittlung bildeten. Tomas war überzeugt, dass die Lösung vor ihnen lag. Doch trotz mehrtägiger Anstrengungen war es ihm nicht gelungen, einen Durchbruch zu erzielen. Er brauchte jemanden, mit dem er seine Ideen diskutieren konnte, aber Zingo schien sich mal wieder in einer seiner dunklen und feuchten Phasen zu befinden.
Deshalb hatte er Vera Berg angerufen und sie gebeten, einen frischen Blick auf das Material zu werfen. Neben ihm war sie die Person, die dem Täter am dichtesten auf die Spur gekommen war. Vielleicht war es von Vorteil, dass sie das Material nicht mit Polizisten-, sondern mit Journalistenblick betrachtete. Während der ersten Halbzeit hatten sie eine Chronologie der drei Überfälle erstellt und versucht, Muster zu erkennen, jedoch ohne Erfolg. Gerade gingen sie die Kundenliste des deutschen Kontaktlinsenherstellers Jansen & Koch durch. Tomas war sich sicher, irgendetwas übersehen zu haben.
»Er ist hier. Zwischen diesen Zeilen. Was aber nicht heißt, dass sein Name schwarz auf weiß da stehen muss.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Vera Berg.
Tomas drehte sein Pepsi-Glas in der Hand. Die Eiswürfel waren geschmolzen, und die Cola schmeckte wässrig.
»Ich meine … Ich habe keinen Schimmer, was ich meine.«
Er verstummte, nahm einen neuen Anlauf.
»Wie ich schon in der Kneipe sagte, gehe ich davon aus, dass die Kontaktlinse vom Täter stammt«, sagte er und deutete auf die Zeichnung. »Ich meine, wir müssen davon ausgehen, oder nicht?«
Vera Berg nickte.
»Außerdem haben wir allen Grund zu der Annahme, dass er in irgendeiner Form an den Dreharbeiten in Märsta und Falun und an der Theaterinszenierung in Malmö beteiligt war. Aber er hält sich verborgen. Aus irgendeinem Grund können wir ihn nicht sehen. Mein Kollege hat ihn als Nomaden bezeichnet, und …«
Tomas verstummte erneut. Das Wort Nomade stieß irgendetwas in ihm an. Vera Berg musterte ihn forschend.
»Freistoß, das ist verflucht noch mal ein Freistoß!«, brüllte einer der Nachbarn vor dem Fernseher.
Aus Frust, den Gedanken nicht zu fassen zu bekommen, schlug Tomas mit der Faust auf den Tisch. Desinteressiert blickte er zum Fernseher, wo Schweden einen Freistoß im offensiven Mittelfeld erhalten hatte. Die Rumänen waren dabei, ihre Mauer zu organisieren. Seufzend legte er den Kopf in den Nacken und blickte in den hellen Abendhimmel empor. Er rieb sich die Augen.
»Man braucht keine zwei Mann, um einen Strafstoß auszuführen«, ereiferte sich ein Mann, von dem Tomas nur den Rücken sehen konnte. »Rein mit einem von euch in den Strafraum!«
Im nächsten Moment zerschnitt ein Freudenjubel den Abend, und die um den Fernseher versammelten Nachbarn sprangen auf, hüpften auf und ab und fielen sich im kollektiven Begeisterungstaumel in die Arme. Tomas und Vera standen auf, um einen Blick auf das Spielgeschehen zu werfen. Brolin rannte, gefolgt von seinen Mannschaftskameraden, über den Rasen, die Faust in die kalifornische Sonne gereckt. Dann vollführte er seinen inzwischen patentierten Torjubel, der seit Wochen die Fernsehbilder dominierte und die Titelseiten der Zeitungen schmückte.
Sie kehrten zurück an ihren Tisch, und Tomas sah auf die Uhr. Halb neun. Er ließ seinen Blick durch den Innenhof schweifen, dann blickte er auf seine Unterlagen. Der Mann auf der Skizze grinste ihn höhnisch an. Zingos Bemerkung, der Täter sei ein Nomade, ging ihm nicht aus dem Sinn.
Schweigend verfolgten sie eine Weile das Match.
»Sie sagten, Micael Bratt wurde mit einer Vergiftung ins Krankenhaus eingeliefert, nachdem er einen Briefumschlag angeleckt hatte?«, fragte Tomas schließlich.
»Ja.«
»Wie war der Brief adressiert? Wurde er direkt zu ihm nach Hause geschickt?«
»Nein. Bratt hat ein Postfach in der Hornsgatan.«
Sie sahen sich an. Dann blickten sie auf die Listen, die vor ihnen lagen.
»Ich glaube, ich habe einen Kunden gesehen, dessen Post an ein Postfach geht«, stieß Tomas hervor. »Irgendwo auf Södermalm. Das muss nichts heißen, aber …«
»Ich habe auch einen gesehen«, fiel Vera Berg ihm ins Wort.
Sie griffen sich jeder eine Kundenliste der deutschen Kontaktlinsenhersteller. Tomas fuhr mit dem Finger die Adressen entlang, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Eine Frau namens Johanna Grönborg besaß ein Postfach in der Hornsgatan.
»Hier ist noch jemand!«, rief Vera Berg. »Ein Börje Gustavsson. Dieselbe Anschrift, aber ein anderes Postfach.«
Sie fanden auch noch einen dritten Kunden, der die Postfiliale in der Hornsgatan als Lieferadresse angegeben hatte.
Tomas griff sich die Gagenlisten des Filmdrehs in Falun. Sie hatten lediglich die Namen der Mitwirkenden erfragt, keine Anschriften oder Versandadressen. Dasselbe galt für die Crew des Falcon-Werbespots sowie für das Ensemble der Hamlet -Inszenierung des Malmöer Stadttheaters. Alles, was sie hatten, waren drei lange Spalten mit Namen von Leuten, denen Gagen und Gehälter ausbezahlt worden waren.
Er lehnte sich über den Tisch.
»Wir sind auf die Jagd gegangen, ohne zu wissen, wonach wir jagen. Wir suchen keinen Namen, wir suchen eine Adresse. Die Frage ist nicht, an wen die Gehaltsabrechnungen geschickt wurden, sondern wohin . Wir müssen morgen unverzüglich die Anschriften in Erfahrung bringen.«
Im selben Moment geschah in Kalifornien etwas, das die Zuschauer vor dem Fernsehapparat zuerst enttäuscht fluchen und dann in stumme Resignation verfallen ließ.
Zwei Minuten vor Ende der regulären Spielzeit glich Rumänien zum eins zu eins aus. Tomas stellte fest, dass der Torschütze die Nummer neun trug, nicht die Nummer elf oder zehn, vor denen der Barmann der Zinken Bar gewarnt hatte.
Das Spiel ging in die Verlängerung, und Tomas und Vera rückten ihre Stühle zu der Zuschauermenge vor dem Fernseher. Ein Nachbar reichte ihnen aus einer Kühltasche zwei eiskalte Biere. In Minute elf der Verlängerung erzielte der rumänische Spieler mit der Nummer neun ein weiteres Tor. Sechzig Sekunden später, als Schweden drauf und dran war, den Ausgleich zu erzwingen, musste der schwedische Mittelfeldspieler Stefan Schwartz nach einer zweiten Gelben Karte vom Platz. Die Stimmung im Innenhof sank. Alle waren davon überzeugt, dass die Weltmeisterschaft damit für Schweden beendet war.
»Das ist traurig«, murmelte der Mann, der Tomas das Bier spendiert hatte. »Das ist einfach traurig.«
Doch als der schwedische Stürmer Kennet Andersson sich im nächsten Moment in einem Kopfballduell in die Höhe schraubte, höher stieg als der rumänische Torwart und den Ball ins Tor nickte, brach wilder Jubel aus. Inmitten von Freudengebrüll, verschwitzten und glücklichen Menschen ertappte Tomas sich dabei, wie er Vera Berg umarmte.
Die Verlängerung wurde abgepfiffen. Das Elfmeterschießen begann mit einem schwedischen Patzer. Doch dann griff der viel gescholtene Torhüter Ravelli ins Geschehen ein und killte zwei rumänische Elfer. In der Sekunde, als er den letzten Ball wegfaustete, setzte Siegestaumel ein. Tomas dachte an Ebba und Alexander und fragte sich, was sie gerade machten. Ob sie ihre Schwedentrikots trugen?
Wenig später lief er zu Fuß durch die von feiernden Menschen bevölkerte Stockholmer Innenstadt nach Hause. Kneipen, Pubs und Restaurants waren zum Bersten voll. »Wenn wir in den USA nach Gold graben« schallte ringsum aus den Lautsprechern. Es war kurz vor Mitternacht, aber noch immer hell draußen. Autokorsos hupten. Fußballfans in Schwedentrikots zogen durch die Straßen, Fremde lagen sich in den Armen. Im Brunnen am Mariatorget badeten Leute.
Schweden stand im Halbfinale, wo der dreifache Weltmeister Brasilien wartete. Und Tomas war sich sicher, bevor die kommende Woche zu Ende ging, hätte er den Namen des Täters, den er jagte.