Um neun Uhr am Dienstagmorgen brach die Sonne durch die Wolkendecke, und ganz allmählich verabschiedete sich die stickige Luft. Die Temperaturen waren in der Nacht kaum gesunken. Eine tropische Schwüle hing über Furusund, als Vera auf das Deck der Autofähre M/S Yxlan fuhr.
Sie drückte ihre Zigarette aus und faltete ihre neu erworbene Straßenkarte der Schäreninsel Yxlan auseinander. Micael Bratts Haus im Hälsingshamnsvägen 63 konnte nicht mehr als ein paar Hundert Meter vom Anleger entfernt sein.
Vier Minuten später legte die Fähre auf Yxlan an. Vera fuhr an einem kleinen Krämerladen mit mintgrüner Fassade vorbei und bog nach rechts in den Köpmanholmsvägen ein. Verblühte Fliederbüsche und Holzhäuschen säumten den Straßenrand, und kurz darauf bog sie auch schon nach rechts in den Hälsinghamnsvägen.
Auf dem Beifahrersitz klingelte ihr Handy, sie nahm ab.
»Spreche ich mit Vera Berg?«
»Am Apparat.«
Der Mann am anderen Ende klang so selbstgefällig, wie es nur Verwaltungsangestellte taten.
»Mein Name ist Kent Forsberg, und ich arbeite bei Aqua-cool.«
»Ja?«
»Sind Sie die Erziehungsberechtigte von Sigge Möller?«
Vera zögerte.
»Nein, aber ich bin die Lebensgefährtin seines Vaters.«
»Dann möchte ich Sie davon in Kenntnis setzen, dass wir dem Jugendamt einen Verdacht auf Kindeswohlgefährdung gemeldet haben.«
»Wie bitte?«
»Ja. Sigge hätte am vergangenen Wochenende einen Schwimmkurs bei uns beginnen sollen. Weil wir seinen Vater nicht erreichen konnten, haben wir heute das Jugendamt informiert. Das ist in solchen Fällen Praxis. Aber dann haben wir einen Vermerk entdeckt, dass Sie ebenfalls als Kontaktperson eingetragen sind. Deshalb rufe ich an.«
Alle Kraft wich aus Veras Körper. Den Schwimmkurs, dessen Anmeldebestätigung sie am Morgen ihrer Abreise aus Malmö mit einem Messer am Küchentisch festgenagelt hatte, hatte sie vollkommen vergessen. Wenn das Jugendamt Jonny erreichte, flog ihr Geheimnis auf. Er würde erfahren, dass Sigge sich nicht in Obhut des Jugendamtes befand.
»Es besteht kein Grund zur Sorge. Sigge geht es ausgezeichnet. Jonny und ich haben wohl aneinander vorbei kommuniziert. Ich dachte, der Schwimmkurs fängt nächstes Wochenende an. Würden Sie die Anzeige bitte zurückziehen?«
»Das überlassen wir den Behörden. Das ist ebenfalls Praxis. Ich wollte Sie nur davon in Kenntnis setzen und Sie daran erinnern, dass die Kursgebühr noch beglichen werden muss. Momentan nimmt Sigge anderen Kindern den Platz weg. Einen neuen Überweisungsträger inklusive Mahngebühr erhalten Sie mit der Post. Ich danke für das Gespräch!«
An ihrem Ohr tutete es unheilvoll, nachdem die Verbindung beendet worden war. Sie würde das Jugendamt anrufen und die Sache regeln, sobald sie mit Bratt geredet hatte.
Mit dem Gefühl, dass ihr das Leben aus den Händen glitt, fuhr sie weiter. Den ganzen Sommer über hatte sie Brände gelöscht, die andere entfacht hatten. Wie lange würde es dauern, bis dieses Feuer sich zu einem unkontrollierbaren Flächenbrand auswuchs? Ihr Handy hatte begonnen, ihr Angst einzujagen. Jedes Mal, wenn es klingelte, war irgendeine Katastrophe eingetreten.
Ein paar Minuten später erreichte sie ein rotes Holzhaus mit Strandlage. Auf dem Briefkasten stand die Nummer 63. Sie parkte am Straßenrand und betrat das Grundstück. Hinter dem Haus ragte eine Finnlandfähre empor. Ein obszöner Vergnügungskoloss, der auf dem Weg hinaus ins offene Meer den engen Sund zerteilte. Ohne zu wissen, weshalb, verstimmte sie der Anblick des Schiffes.
Mit einem Mal erschien es ihr falsch, hergekommen zu sein. Sie hätte Tomas Wolf anrufen sollen. Wenn Micael Bratt und Stig Hoffsten gemeinsame Sache machten, würde Bratt nicht zögern, sie anzugreifen. Aber für einen Rückzieher war es nun zu spät.
Sie umrundete einen Schuppen und erreichte das Holzhaus, das zwei Stockwerke umfasste und vor der Jahrhundertwende gebaut worden zu sein schien. Vera schlich näher heran, stellte sich vor einem Fenster auf die Zehenspitzen und spähte durch eine nachlässig zugezogene Gardine ins Innere des Hauses. An den Wänden hingen verblichene Mustertapeten. Auf einem Tisch stand ein Weinglas mit eingetrockneten Rotweinflecken. Micael Bratt war nirgends zu sehen.
Vera ging auf die Rückseite des Hauses, wo eine verglaste Veranda mit Sprossenfenstern angebaut worden war. Die Verandatür stand offen. Sie ging die Stufen hinauf und drückte die Klinke nach unten. Die Tür war unverschlossen.
Sie ließ ihren Blick über das Grundstück wandern. Die Fähre war vorbeigefahren, der Sund lag spiegelblank da. Vor dem Haus stand kein Auto, und Vera konnte sich kaum vorstellen, dass Bratt mit dem Bus angereist war, wenn er vorgehabt hatte, unterzutauchen. Alles sprach dafür, dass das Haus leer war. Vielleicht entdeckte sie dort Spuren, die sie weiterbrachten.
Behutsam drückte sie die Klinke herunter, und die Tür schwang knarrend auf. Um nicht mehr Geräusche als nötig zu verursachen, ließ sie sie offen stehen und schlich den Flur entlang. Die Holzdielen knarrten unter ihren Stoffturnschuhen.
Am Ende des Flurs lag die Küche. Irgendetwas stimmte nicht. Im ersten Moment konnte sie nicht den Finger darauf legen, was sie stutzig machte. Der Geruch, dachte sie dann. In der Luft hing ein leichter Kaffeeduft.
Vera ging zur Arbeitsfläche und legte die Hand an die Kaffeemaschine. Sie war weder warm noch kalt. Dann beugte sie sich vor und schnupperte. Der Kaffee war nicht sauer. Sie öffnete den Filter, kein Schimmel. Vor nicht allzu langer Zeit musste jemand im Haus gewesen sein. Bei dieser Hitze bildete sich Schimmel schnell.
Ihr mulmiges Gefühl verstärkte sich. Sie vernahm ihre eigenen Atemzüge. Das Knarzen der Holzdielen klang wie Pistolenschüsse. Sie steckte den Finger in den Kaffeesatz. Er war noch feucht.
Scheiße.
Im selben Moment hörte sie vom Flur her ein Geräusch, das ihr Gehirn nicht zuordnen konnte. Die Tür? Das Fenster hinter der Spüle stand auf Kipp. War die Tür vom Luftzug zugefallen?
Doch dann folgte ein Klicken. Ein metallisches Klicken. Wie von einem Schloss oder einer Klinke.
Jemand war im Haus. Nur Meter von ihr entfernt. Panisch blickte sie sich nach einem Gegenstand um, mit dem sie sich verteidigen könnte. Ein Messer oder ein Nudelholz, was auch immer. Doch sie entdeckte nichts.
»Die Tür ist abgeschlossen. Du kommst hier nicht raus«, sagte eine Stimme im Flur.
Vera griff nach der Kaffeekanne, wich zum Tisch zurück und duckte sich hinter eine Bank. Vielleicht konnte sie aus der Hintertür fliehen. Gebückt schlich sie darauf zu.
Doch es war zu spät.
»Ich kann dich sehen«, sagte die Stimme.
Vera hielt mitten in der Bewegung inne, unschlüssig, was sie tun sollte. Dann richtete sie sich auf, bereit, ihrem Angreifer die Kaffeekanne entgegenzuschleudern, sollte die Situation eskalieren.
Als sie aufblickte, sah sie Micael Bratt. Sein Brustkorb hob und senkte sich. In der Hand hielt er eine Axt.
Tomas und Zingo parkten auf einer Wiese im Stadtzentrum von Norrtälje, wo gerade die Dreharbeiten zum beliebten Kinderferienprogramm »Nichts verschwindet, alles bleibt« beendet worden waren. Tomas erkannte die beiden Moderatoren sofort, die, mit ihren typischen Baseballkappen auf dem Kopf, im Schatten unter einem Baum saßen. Alexander und Ebba verpassten keine Folge der Umweltserie und hockten jeden Morgen gebannt vor dem Fernseher. Sie fragten nach Lisette Rolfsdotter und wurden an eine hochgewachsene Frau verwiesen, die am Fuß eines Kamerakrans mit einem Kameramann sprach. Rolfsdotter beendete ihre Unterhaltung und führte sie ein Stück beiseite.
»Ich möchte nicht, dass mein Team davon erfährt«, sagte sie, während sie den Kai des kleinen Jachthafens hinunterliefen.
»Wir sind Ihnen dankbar, dass Sie sich die Zeit nehmen, mit uns zu sprechen«, erwiderte Tomas.
Lisette Rolfsdotter war für eine Frau außergewöhnlich groß, bestimmt über eins achtzig, und ihre hohen Absätze machten sie noch größer. Sie hatte einen blassen Teint und ernste Gesichtszüge.
»Sollen wir uns einen Moment setzen?«
Sie deutete auf eine Bank mit Blick auf die Bootsstege. Sie setzten sich. Zwei Segler trugen Taschen auf ein kleines Boot, ein Kioskbetreiber öffnete seinen Stand, ansonsten war der Hafen wie ausgestorben.
»Sie haben Stig Hoffsten 1991 wegen Belästigung angezeigt«, begann Tomas. »Möchten Sie uns erzählen, was damals genau vorgefallen ist?«
Lisette Rolfsdotter schaute ausdruckslos auf die auf den Wellen schaukelnden Boote.
»Ja, das ist korrekt. Ich arbeite als Casting-Agentin, und …«
»Was macht eine Casting-Agentin?«, warf Zingo ein.
»Man besetzt im Auftrag von Film- und Theaterproduktionen Rollen mit den passenden Gesichtern. Die Schauspieler sprechen mit vorgegebenen Passagen aus den Drehbüchern vor. Das ist für die Schauspieler natürlich belastend. Aber für uns Agenten ist es auch nicht leicht, weil wir den meisten Kandidatinnen und Kandidaten natürlich eine Absage erteilen müssen.«
Sie verstummte.
»Erzählen Sie bitte weiter«, bat Tomas. »Stig Hoffsten.«
Lisette Rolfsdotter nickte.
»Er hat für eine Rolle vorgesprochen, aber es war das reinste Desaster. Er verhaspelte sich permanent und war ungeheuer nervös. Womöglich der nervöseste Kandidat, der jemals bei mir vorgesprochen hat. Ich … ich schäme mich dafür, aber am Ende habe ich angefangen zu lachen. Es wurde einfach zu komisch. Er hat gestottert und gurgelnd versucht, Worte zu artikulieren. Und ich … ich musste einfach lachen.«
Tomas und Zingo sahen sie an und warteten auf die Fortsetzung. Sie fuhr sich mit den Fingernägeln durch ihre Kurzhaarfrisur, als riefe die Erinnerung einen Juckreiz hervor.
»Daraufhin hat er mich mit einer Abscheu angesehen, die mir schon damals eine Todesangst eingejagt hat. Ich halte mich nicht für einen Menschen, der leicht zu ängstigen ist, aber dieser Blick war so voller Hass, dass ich wusste, ich hatte mir einen Feind fürs Leben gemacht.«
»Wie ging es weiter?«, fragte Tomas.
»Er ist gegangen.«
»Er hat nichts gesagt?«
Lisette Rolfsdotter schüttelte den Kopf.
»Nein.«
Sie legte die Hände in den Schoß und sah sie an.
»Einige Tage später wurden meine Autoreifen zerstochen. Es war ein Oktoberabend und dunkel draußen. Ich bekam ein mulmiges Gefühl und war überzeugt, dass mich jemand beobachtete. Als ich mich umsah, stand Hoffsten in einiger Entfernung und hat gelacht. Es war ein geisteskrankes Lachen.«
»Aber er hat Sie nicht körperlich angegangen?«, fragte Tomas.
»Nein.«
»Und das war alles? Danach ist nichts mehr vorgefallen?«
Lisette Rolfsdotter sah auf ihre Armbanduhr, ein silberfarbenes Omega-Damenmodell. Tomas fragte sich, wie viel Produzenten von Kinderserien eigentlich verdienten.
»Ich habe nicht mehr an Stig Hoffsten gedacht, seit ich dieses Expressen -Interview mit Micael Bratt gelesen habe.«
Tomas spürte, wie Zingo sich neben ihm anspannte.
»Welches Expressen -Interview?«, fragte er.
»Wann mag das gewesen sein? Irgendwann im Herbst. Es ging um dieses Theaterstück Bildnis eines Sommers , das abgesetzt wurde«, antwortete Lisette Rolfsdotter, als müssten Tomas und Zingo wissen, wovon sie sprach.
»Können Sie das bitte genauer erläutern?«
Sie setzte sich aufrecht hin. Der Kioskbetreiber stellte eine winkende Langnese-Werbefigur auf das Rasenstück neben seinem Stand.
»Wie war das noch gleich? Bildnis eines Sommers sollte im Frühjahr 1990 im Stadttheater Göteborg laufen. Micael Bratt hatte die Hauptrolle bekommen, Hoffsten eine kleine, aber bedeutende Nebenrolle. Doch nur eine Woche vor der Premiere ist Bratt abgesprungen. Er war für irgendeinen Film gecastet worden, und die Dreharbeiten überschnitten sich mit dem Spielplan des Theaters. Bratt reiste von jetzt auf gleich ab, und der Regisseur beschloss, Hoffsten die Hauptrolle zu übertragen. Das war natürlich die Chance seines Lebens, ein Sprungbrett für weitere Hauptrollen.«
»Was ist passiert?«
»Das Stück wurde von den Kritikern zerrissen. Sie waren einstimmig der Meinung, dass Hoffsten die Hauptursache des Flops war. Die Rezensionen waren vernichtend. Am Ende wurde das Stück nach nur zwei Vorstellungen abgesetzt.«
Dieses Expressen -Interview mit Bratt mussten sie sich genauer ansehen, dachte Tomas. Er würde im Präsidium anrufen und jemanden bitten, ins Zeitungsarchiv zu fahren.
»Rückblickend wurde mir klar, dass er sich deshalb nicht als Stig Hoffsten bei dem Vorsprechen angemeldet hatte, von dem ich Ihnen erzählt habe«, fuhr Rolfsdotter fort.
Tomas sah sie fragend an.
»Er hat sich als Bruno vorgestellt«, lachte sie. »Bruno Coppola.«
Tomas nickte langsam. Stig Hoffsten hatte seine Namensänderung erst im vergangenen Jahr offiziell registrieren lassen, doch begonnen hatte seine Verwandlung schon kurz nach Scheitern dieses Theaterstücks. Er hatte noch einmal ganz von vorn anfangen wollen.
Zingos Handy klingelte und riss ihn aus seinen Überlegungen. Zingo stand auf und entfernte sich ein Stück.
»Ich glaube, es gibt noch mehr Frauen«, sagte Lisette Rolfsdotter unvermittelt.
Sie drehte sich zu ihm, ihre Miene war ernst.
»Die er belästigt oder denen er noch weitaus Schlimmeres angetan hat. Auch wenn diese Frauen sich nicht getraut haben, Strafanzeige zu erstatten.«
»Das werden wir untersuchen«, sagte Tomas.
»Aber das werfen Sie ihm doch vor? Deswegen sind Sie doch hier? Oder etwa nicht?«
Tomas räusperte sich.
»Darauf darf ich momentan nicht näher eingehen.«
Rolfsdotter ließ ihren Blick über das Wasser schweifen.
»Kann ich gehen, oder haben Sie noch weitere Fragen?«
»Sie können gehen. Aber sollte Ihnen noch etwas einfallen, würde ich Sie bitten, sich bei uns zu melden.«
Sie stand auf und entfernte sich. Tomas blieb auf der Bank sitzen und sah ihr nach. Dann schaute er zu Zingo hinüber, der telefonierend auf und ab lief. Schließlich legte er auf, schob das Handy in die Hosentasche und kam zurück.
Er ließ sich auf die Bank sinken und schlug die Beine übereinander.
»Die Kollegen haben Micael Bratts Wagen gefunden«, sagte er und zündete sich eine Zigarette an. »Mit drei Damenslips, die mit den Slips der Opfer übereinstimmen. Ich habe sie abfotografieren lassen und die Kollegen instruiert, die Bilder nach Malmö zu schicken, damit Mersiha Selimovic bestätigen kann, dass einer der Slips ihr gehört.«
Tomas sah Zingo verständnislos an.
»Was zum Teufel bedeutet das?«, fragte er.
»Ich habe keinen Schimmer«, antwortete Zingo resigniert. »Das wirft zweifellos eine ganze Reihe von Fragen auf. Und eine davon lautet, ob Bratt und Hoffsten gemeinsame Sache machen.«
Bratt hielt die Axt auf Hüfthöhe, zum Ausholen bereit. Vera starrte ihn an. Dann ließ sie ihren Blick zur Hintertür wandern, die Kaffeekanne mit festem Griff drohend zur Waffe erhoben.
»Wie gesagt, die Tür ist abgeschlossen«, sagte Bratt.
Er ging einen Schritt auf Vera zu und hob die Axt höher. Im Zurückweichen stieß Vera unsanft gegen die Kante der Arbeitsfläche. Der Schmerz fuhr ihr von der Lendengegend in die Beine, als Bratt ihr unvermittelt den Rücken zuwandte und die Axt beiseitelegte.
»Sind Sie etwa hier und klauen Kaffee?«, fragte er.
Dann begann er zu lachen und nahm Vera die Kanne aus der Hand.
»Sie hätten Ihr Gesicht sehen sollen«, wieherte er. »Ich dachte, Sie wären ein Einbrecher.«
Vera schoss das Blut ins Gesicht, als ihre Angst in Scham umschlug. Bratt hörte nicht auf zu lachen.
»Was zum Teufel machen Sie hier?«, fragte er, während er die Kaffeekanne ausspülte und frisches Pulver in den Filter füllte.
»Es geht um Stig Hoffsten«, antwortete Vera schließlich mit belegter Stimme.
»Stig … Was ist mit ihm? Ist der Mistkerl abgekratzt, oder was?«
Vera atmete tief durch und versuchte sich zu fokussieren. Die nächsten Minuten wären entscheidend. Jetzt würde sie erfahren, ob Bratt ein Mörder war. Oder ein Opfer.
»Er steht unter Mordverdacht.«
Vera forschte nach Anzeichen von Nervosität in Bratts Gesicht, konnte jedoch keine Reaktion ablesen. Aber Bratt war ein geschickter Schauspieler.
»Das kann nicht stimmen, oder? Der Kerl besitzt null Courage.«
Bratt schob die Kaffeekanne auf die Wärmeplatte, klappte den Filter zu und stellte die Maschine an.
»Die Indizien sprechen dafür«, erwiderte Vera. »Es sind dieselben Morde, die man Ihnen anlastet.«
Bratt erstarrte und drehte sich zu ihr um. Er sah aufrichtig überrascht aus. Dann blickte er stirnrunzelnd aus dem Fenster.
»Sie scheinen über etwas nachzudenken«, sagte Vera.
»Nein«, gab Bratt abwesend zurück. »Nein.«
Zerstreut stellte er zwei Becher auf Untertassen.
»Sie waren zusammen auf der Schauspielschule, oder?«
»Ja.«
»Was für eine Beziehung hatten Sie damals zueinander?«
»Ja, wie soll ich das beschreiben? Eine Weile waren wir wohl Freunde. Aber solche Dinge ändern sich rasch, wenn man jung ist. Wir waren beide ziemlich selbstverliebt. Am Ende haben wir kein Wort mehr miteinander gesprochen.«
»Waren Sie Konkurrenten?«
Micael Bratt grinste schief.
»Als Konkurrenten konnte man uns kaum bezeichnen. Ich habe jedes Mal gewonnen. Obwohl Stig als Schauspielergenie gehandelt wurde.«
Die Maschine war durchgelaufen. Ohne Vera zu fragen, ob sie einen Kaffee trinken wollte, schenkte Bratt zwei Tassen ein und stellte sie auf den Küchentisch. Sie setzten sich einander gegenüber.
»Warum hat Ihre Freundschaft nicht gehalten?«
»Aus dem ältesten Grund der Welt: einer Frau. Das hübscheste Mädchen in unserer Klasse. Mia … Gustavsson hieß sie, glaube ich. Unglaubliche Brüste. Und sie war mit Stig zusammen. Damit kam mein Ego absolut nicht klar. Und eines Abends im letzten Semester haben wir bei ihr eine Fete gefeiert. Unsere Klasse ist geschlossen zu ihrer Gartenlaube auf Kungsholmen gezogen, aber aus irgendeinem Grund war Stig nicht mit dabei. Irgendwann habe ich vorgeschlagen, eine Szene aus unserem Abschlussstück zu spielen. Sie war einverstanden.«
Bratt lächelte.
»Stig und ich waren darin Rivalen und Mia die Frau, um die wir buhlten. Ich habe natürlich eine Szene ausgewählt, in der ein Kuss vorkam. Alle haben gejubelt, als ich mit ihr rumgemacht habe. Dann habe ich ihre Hand genommen und sie ins Schlafzimmer geführt. Sie kam mit. So stand es im Drehbuch. Ein paar Minuten später kniete sie vor mir.«
»Hat Hoffsten davon erfahren?«
»Dazu wollte ich gerade kommen. Als wir fertig waren, habe ich ihren Slip genommen, ihn einfach in die Tasche gesteckt. Es war eine spontane Eingebung. Und am nächsten Tag habe ich in der Maske damit vor Stig herumgewedelt und ihn gefragt, ob Mia ihre Unterwäsche vermisst hätte, als sie gestern nach Hause gekommen sei.«
»Wie einfühlsam.«
»Das war kein schöner Zug, ich weiß. Aber die zwei haben sich so verflucht überlegen aufgeführt. Geglaubt, sie würden Stars werden. Stig stammt aus einer Schauspielerfamilie. Er schien zu glauben, es genüge, Kunst mit der Muttermilch aufzusaugen, um ein Superstar zu werden. Er hatte nicht kapiert, dass das Aussehen die eine Hälfte ausmacht und die andere zu gleichen Teilen aus Arbeit und Glück besteht. Damals war mir das genauso wenig klar. Ich fühlte mich unterlegen, weil ich keine Schauspielervorfahren hatte, die seit Generationen auf der Bühne standen.«
»Wie hat Hoffsten reagiert?«
»Er hat keinen Ton gesagt. Und kurz darauf ist er nicht mehr zum Unterricht gekommen. Ich glaube, das hat ihm den Rest gegeben. Er spielte in unserem Abschlussstück eigentlich die Hauptrolle. Am Ende habe ich sie bekommen und er irgendeine Nebenrolle.«
Offensichtlich gefiel es Bratt nicht, dass die Geschichte ihn in ein schlechtes Licht rückte. Was für ihn spricht, dachte Vera. Er schien vorauszusetzen, dass sie ihm glaubte. Entweder er war ein Psychopath, oder er sagte tatsächlich die Wahrheit, wenn er seine Beteiligung an den Überfällen abstritt.
»Haben Sie Hoffsten später noch einmal getroffen?«, fragte sie, um zu testen, ob Bratt zugeben würde, in Falun mit Hoffsten gedreht zu haben.
»Scheiße, ja. Irgendwann haben wir sogar zusammen gearbeitet, vor … drei, vier Jahren, ungefähr.«
»Vor drei, vier Jahren?«
Darauf war sie bei ihren Recherchen nicht gestoßen.
»Bei einem Stück im Stadttheater Göteborg. Ich hatte die Hauptrolle und Stig eine ziemlich große Nebenrolle. Ich glaube, er dachte, das würde sein Durchbruch werden. In der Branche war allgemein bekannt, dass er unter Lampenfieber litt und deswegen bei den Vorsprechen oft leer ausging. Dann wurde ich für einen Film gecastet, der sich mit dem Theaterstück überschnitt. Ich konnte nicht ablehnen, die Rolle war zu gut bezahlt. Also bin ich abgesprungen, und Stig übernahm die Hauptrolle.«
»Wie ging es weiter?«
Bratt lachte.
»Ich habe das Stück nie gesehen. Aber nach allem, was ich gehört habe, war es ein Fiasko. Während der Proben ging alles gut. Stig ist im Grunde kein schlechter Schauspieler. Aber bei der Premiere bekam er einen kompletten Blackout, vergaß seinen Text, fing an zu stottern oder schwieg. Einmal hat er dreimal hintereinander denselben Satz wiederholt. Wie Sie sich denken können, waren die Kritiker in ihren Rezensionen nicht gnädig. Ich glaube, das Stück wurde fast unmittelbar abgesetzt.«
»Glauben Sie, Hoffsten macht Sie für sein Versagen verantwortlich?«
Micael Bratt antwortete nicht, er schien mit seinen Gedanken woanders zu sein. Ein leichtes Zusammenziehen der Augenbrauen verriet, dass ihm etwas durch den Kopf ging.
»Vielleicht«, sagte er.
Dann verfiel er wieder in Schweigen.
»Ich habe einmal einen Brief bekommen«, fuhr er nach einer Weile fort.
»Den vergifteten?«
»Woher wissen Sie davon?«
Bratt sah sie misstrauisch an. Vera wurde klar, dass sie Lindwalls Vertrauen enttäuschen musste, um Bratts zu gewinnen.
»Ihr Agent hat mich engagiert, um Beweise für Ihre Unschuld zu finden. Er hat mir die Geschichte erzählt.«
»Ach so.«
»Was wollten Sie über diesen Brief sagen?«, hakte sie nach, als Bratt erneut in Gedanken zu versinken schien.
»Keine Ahnung. Es fiel mir nur ein. Was, wenn es Stig war?«
»Sie meinen, Stig könnte Ihnen den Brief geschickt haben?«
»Ja. Der Gedanke ist mir nie gekommen. Aber der Brief kam im Sommer 1990. Da bin ich sicher. Es war mitten während der WM. Schweden hat gespielt, als ich im Krankenhaus lag. Und in dem Sommer hätte das Stück laufen sollen. Die Premiere war Anfang Juni. Vielleicht wollte er sich an mir rächen?«
Bratt lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, der unter seinem Gewicht knarrte, und blickte wieder aus dem Fenster. Vera glaubte, Bratt vertrauen zu können, aber sie hatte im Lauf ihrer Recherchen viele falsche Entscheidungen getroffen und traute ihrem Bauchgefühl nicht hundertprozentig über den Weg.
In ihrem Hinterkopf rumorte irgendein Detail, das sie übersehen hatte. Eine Frage, die sie vergessen hatte zu stellen.
»Sie schienen auf irgendetwas zu reagieren, als ich sagte, Hoffsten stehe wegen der Morde unter Verdacht. Aber auf meine Nachfrage meinten Sie, es wäre nichts«, sagte sie schließlich.
»Ich weiß nicht … Ich habe dem Expressen im Herbst ein Interview gegeben, in dem ich ziemlich über dieses Stück hergezogen bin. Der Gedanke lässt mich nicht los. Es mag eitel klingen, aber ich finde es seltsam, dass der Mörder die Slips der Opfer mitnimmt. Die Polizei hat mich im Verhör danach gefragt. Als Sie Stigs Namen nannten, habe ich gleich an Mia gedacht und wie ich Stig ihren Slip unter die Nase gehalten habe. Vielleicht hat er in der Branche auch von dem Gerücht gehört, dass ich die Unterwäsche meiner Eroberungen sammele.«
»Sie meinen …?«
»Ja.«
Bratt sah sie mit klarem Blick an. Ein scharfer Ausdruck trat in seine blauen Augen.
»Stig will, dass es so aussieht, als wäre ich der Täter.«
Dann zuckte er mit den Schultern.
»Vielleicht bin ich einfach nur paranoid.«
Er stand auf, um ihnen Kaffee nachzuschenken.
»Mit Schuss?«, fragte er.
»Schuss?«
»Ein stärkender Tropfen. Whisky oder so.«
»Ja, warum nicht.«
Bratt goss je einen Schluck Hochprozentiges in ihre Tassen, kehrte zum Tisch zurück und lachte.
»Ich war draußen im Schuppen, als Sie gekommen sind. Wollte mir was zu trinken holen. Ich bekam eine scheiß Angst und hab Ihr Auto durchsucht, bevor ich ins Haus gegangen bin, um nachzusehen, was für ein Typ mich hier drinnen erwartet. Als ich gesehen habe, was in Ihrem Kofferraum liegt, habe ich beschlossen, die Axt mitzunehmen. Ich dachte, Sie hätten den Supermarkt ausgeraubt.«
»Sie meinen die Konserven?«
»Ja. Warum fahren Sie damit durch die Gegend?«
Vera seufzte.
»Wegen Jonny. Dem Vater meines Sohnes. Oder eigentlich ist er nicht mein Sohn, aber … Egal. Ich hoffe, dass er bei mir bleiben darf. Diese Konserven waren sozusagen Jonnys Abschiedsgeschenk. Die Reste einer seiner vielen missglückten Raubüberfälle. Er und seine Kumpel wollten mit Automatikgewehren einen Lastwagen überfallen, der auf dem Weg in ein Expert-Warenlager war. Blöderweise haben sie den falschen Lastwagen erwischt und statt Fernsehern Katzenfutter und Oliven erbeutet.«
Bratt grinste.
»Ihr Freund wäre eine optimale Besetzung für einen meiner Fernsehkrimis. Die Gangster darin sind genauso hoffnungslos wie die Drehbücher.«
»Der Unterschied ist nur, dass Filmbanditen gefasst werden. Im wirklichen Leben muss ich mich mit Jonny rumschlagen. Wobei es das Beste für meinen Jungen wäre, wenn sein Vater in den Knast wanderte. Wenn Jonny nicht bald ins Gefängnis kommt, verliere ich ihn.«
Bratt schaute sie verständnislos an.
»Warum sorgen Sie nicht dafür, dass die Bullen Ihren Freund drankriegen?«, fragte er.
Vera runzelte die Stirn.
»Wie meinen Sie das?«
Micael Bratt sah sie an, als wäre sie eine Idiotin.
»Sie haben einen ganzen Kofferraum voll Beweismaterial. Und wenn es ein bewaffneter Überfall war, sind Sie den Kerl für mindestens fünf Jahre los. Vielleicht zehn.«
Vera blickte ihn verblüfft an. Für jemanden, der seinen Kaffee schon vor zwölf Uhr mittags mit Whisky anreicherte, waren Bratts graue Zellen erstaunlich auf Zack.
»Man lernt so einiges, wenn man einen Kommissar spielt«, sagte er und leerte seine Tasse.
Als Vera ausgetrunken hatte, verabschiedeten sie sich. Sie instruierte Bratt, im Sommerhaus zu bleiben, sich nicht in der Öffentlichkeit blicken zu lassen, und versprach, ihn anzurufen, sobald sie etwas Neues in Erfahrung gebracht hätte. Erstaunlicherweise schien er ihre Anweisungen zu akzeptieren.
Im Auto wählte sie Tomas Wolfs Nummer.
»Ich kann Ihnen Micael Bratt ausliefern, ich habe ihn gefunden.«
Wolf erwiderte nichts. Sie hatte seine Aufmerksamkeit.
»Aber ich fordere eine Gegenleistung«, fuhr sie fort.
Sie wusste, dass Wolf der Ansicht war, sie pushe ihre Karriere auf Kosten des Unglücks anderer. Aber was tat er selbst?
»Wo ist Bratt?«
»Eigentlich fordere ich zwei Dinge.«
»Was wollen Sie haben?«
»Ich will vollen Zugang zu der Ermittlung, bei allen Einsätzen dabei sein und Einblick in sämtliche Unterlagen erhalten. Ich verspreche, keinen Artikel zu veröffentlichen, bevor Sie den Täter gefasst haben. Und Sie genießen vollständigen Quellenschutz.«
In der Leitung blieb es einen Moment lang still.
»Okay.«
»Und dann möchte ich Sie um einen Gefallen bitten. Es geht um Sigge. Angenommen, sein Vater hätte eine Straftat begangen, auf die Gefängnis steht, und ich könnte der Polizei anonym Informationen darüber zuspielen, inklusive Beweisen, die ihn mit der Tat in Verbindung bringen. Könntet ihr ihn dann festnehmen?«
»Kann ich mich darauf verlassen, dass die Beweise nicht fingiert sind?«
»Ja.«
»Ein Kollege namens Zingo wird Sie anrufen. Haben Sie alles parat.«
Als Vera aufs Deck der M/S Yxlan fuhr, kam ihr der Gedanke, dass sie zum dritten Mal in diesem Sommer überzeugt war, den Täter entlarvt zu haben. Die Frage, die ihr Sorgen bereitete, war, wie lange es diesmal dauern würde, bis sie einsah, dass sie wieder falschlag.