Samstag, 16. Juli 1994

27

Zur Halbzeit des Sommers ließ das heiße Wetter kein Anzeichen von Erbarmen erkennen. Tomas fiel in der stickigen, leeren Wohnung die Decke auf den Kopf, und er war den ganzen Samstagnachmittag auf Södermalm spazieren gegangen. Zuerst unten in Hornstull, wo Junkies und Säufer die einzigen Lebewesen zu sein schienen, die während des Sommers nicht aus der Stadt geflohen waren. Dann war er der Hornsgatan bis hinunter nach Slussen gefolgt, wo er zwischen Horden von Touristen mit Stadtplänen in den Händen und Kameras um die Hälse auf Stockholms Skyline geblickt hatte.

Ich bin wie diese Leute, dachte er. Ich bin ein Tourist in meinem eigenen Leben, aber keine Karte der Welt kann mir helfen, den richtigen Weg zu finden.

Trotz des Versprechens, das er Zingo gegeben hatte, hatte er es noch nicht fertiggebracht, mit Klara zu reden. Zingos Geld dagegen hatte er angenommen und ans Maklerbüro überwiesen. Klara sollte endlich ihr Reihenhaus bekommen, er selbst würde nicht darin wohnen. Aus Richtung Slussen führte sein Heimweg an der Zinken Bar vorbei, und um nicht den ganzen Abend über alleine zu Hause zu hocken, ging er hinein und orderte ein Bier. Der fußballverrückte Barmann vom letzten Mal war nirgends zu sehen, stattdessen nahm ein junges Mädchen in schwarzem T-Shirt seine Bestellung mit gelangweilter Miene entgegen. Er entdeckte einen freien Tisch, setzte sich und nippte an seinem Glas.

Die innere Rastlosigkeit, die er seit Tagen verspürte, wollte sich nicht legen. Die Fahndung nach Stig Hoffsten verlief ergebnislos, ebenso wie die Versuche, Licht in Mia Gustavssons Verbleib zu bringen. Anhand einer Banküberweisung, die sie Mitte Juni ausgeführt hatte, war es ihnen gelungen, den Besitzer des Ferienhäuschens in Härjedalen ausfindig zu machen. Mia Gustavsson hatte die Hütte am vereinbarten Abreisetag verlassen und die Schlüssel wie abgesprochen in den Briefkasten geworfen. Zeugen hatten sie außerdem in einem Zug nach Stockholm gesehen. Doch am Stockholmer Hauptbahnhof verlor sich ihre Spur. Tomas, Zingo und die anderen Beamten, die inzwischen in dem Fall ermittelten, waren sich darin einig, dass Stig Hoffsten in ihr Verschwinden involviert war.

Tomas stand auf, ging zum Münztelefon an der Wand, steckte Kleingeld hinein und wählte die Nummer der Flüchtlingsunterkunft in Hallstahammar. Als Kim Malm sich meldete, bat er darum, mit Azra zu sprechen, erhielt wie üblich die Auskunft, dass sie nicht zu sprechen sei, und legte auf.

Weitere Kneipenbesucher strömten zur Tür herein, und Tomas erfuhr, dass Schweden heute Abend gegen Bulgarien um Bronze spielte. Er reihte sich in die Schlange vor dem Tresen, um ein frisches Bier zu bestellen, als das Mädchen einem Mann in einem abgetragenen Siebzigerjahre-Sakko zurief: »Nimm heute gefälligst endlich deine Post mit, Uno!«

Der Angesprochene schlurfte heran und nahm einen Stapel Briefe entgegen. Auf dem obersten prangte das Amtssiegel eines Gerichtsvollziehers. Der Mann blätterte den Packen durch, fragte nach dem Papierkorb und ließ die Briefe ungeöffnet hineinsegeln.

Plötzlich wurde Tomas bewusst, dass seit Montag niemand mehr Stig Hoffstens Postfach überprüft hatte. Seither konnte neue Post eingetroffen sein, die ihnen helfen könnte, Hoffsten ausfindig zu machen. Die Postfiliale hatte längst geschlossen, doch die Sache duldete keinen Aufschub. Hastig ging er zum Münztelefon, zog sein Notizbuch aus der Gesäßtasche und suchte darin nach der Nummer von Stig Hoffstens Chefin. Als er sie nicht finden konnte, schlug er das Telefonbuch auf. Die Frau hieß Carina Feldman. Es gab zwei Personen dieses Namens in Stockholm. Die eine wohnte in Hässelby, die andere im Strandvägen. Er wählte die Nummer in Hässelby. Als sich am anderen Ende eine Männerstimme meldete, bat er darum, mit Carina zu sprechen, und erklärte ihr, dass er unverzüglich in die Postfiliale müsse.

»Kann das nicht bis morgen warten?«, entgegnete sie.

»Leider nein«, beharrte er.

Carina Feldman seufzte.

»Ich brauche eine Stunde. Ich habe meinen Samstags-Grog getrunken und muss die U-Bahn nehmen.«

Tomas lächelte.

»Ich warte draußen vor der Filiale.«

Sie beendeten das Gespräch. Tomas beglich seine Zeche, und in dem Moment, als er die Bar verließ, pfiff der Schiedsrichter das Spiel an.

28

Als Tomas vor der Postfiliale ankam, brach in den umliegenden Restaurants und auf den Balkonen infernalischer Jubel aus. Er überquerte die Straße zum Bysistorget und stellte sich in die geöffnete Tür eines Pubs.

»Wer hat das Tor geschossen?«, erkundigte er sich bei einem Mann, der alleine an einem Tisch hockte.

»Brolin, wer sonst?«

Er würde noch eine Weile auf Carina Feldman warten müssen. Tomas bestellte ein Mineralwasser und gesellte sich mit Blick auf den Eingang der Postfiliale zum Mann an den Tisch. Die schwedische Mannschaft spielte überragend. Beim Halbzeitpfiff führten sie mit vier zu null.

»Wenn wir so gegen Brasilien gespielt hätten, wären wir im Finale«, seufzte sein Tischgenosse.

»Da haben Sie vermutlich recht, auch wenn ich das Spiel verpasst habe«, erwiderte Tomas.

»Sie haben unser Halbfinalspiel gegen Brasilien verpasst?«, fragte der Mann ungläubig. »Was sind Sie? Ein sowjetischer Agent?«

Tomas wollte gerade antworten, als er Carina Feldman vor der Postfiliale entdeckte. Sie trug ein Schwedentrikot und lief ungeduldig auf dem Bürgersteig auf und ab.

Er ließ einen menschenleeren Bus passieren, dann überquerte er die Hornsgatan, gab Carina Feldman die Hand und dankte ihr für ihr Kommen. Sie schloss die Tür auf, schaltete die Alarmanlage ab, nahm die Briefe aus Stig Hoffstens Postfach, steckte sie in eine blaue Plastiktüte und händigte sie Tomas aus.

»Ist das alles, was Sie brauchen?«, fragte sie.

»Ja.«

Sie verließen die Filiale, Carina Feldman sperrte die Tür ab und hastete im Laufschritt in Richtung U-Bahn-Station davon.

Tomas machte es sich auf einer der Bänke vor dem geschlossenen Imbiss am Bysistorget bequem und inspizierte die Tüte. Zwei Filmzeitschriften, eine US-amerikanische und eine schwedische. Drei Briefe. Zwei davon waren an Bruno Coppola adressiert. Ein erwartungsvolles Kribbeln lief ihm über den Rücken, als er die Umschläge näher betrachtete. Auf einmal glaubte er, Stig Hoffsten so nah zu sein wie noch nie seit Beginn der Ermittlungen. Fast meinte er, ihn leibhaftig vor sich stehen zu sehen. Vorsichtig, mit einem Gefühl von Feierlichkeit, öffnete er den ersten Brief. Eine Stromrechnung für die Wohnung am Gullmarsplan. Tomas legte sie beiseite. Der zweite Umschlag enthielt eine Mahnung für zwei Filme, die Hoffsten in einer Videothek im Valhallavägen entliehen hatte. Bodyguard und Basic Instinct . Beide Filme hätten vor drei Tagen zurückgegeben werden müssen.

Irgendwo ging ein Fenster auf. Laute Musik drang heraus. Im ersten Moment dachte er, es wäre Jolene von Dolly Parton, doch dann ging ihm auf, dass es eine schwedische Coverversion war und die Interpretin im Refrain Brolin sang.

Grinsend wandte er sich wieder den Briefen zu. Der Valhallavägen war die längste Straße der Innenstadt und erstreckte sich drei Kilometer lang zwischen Roslagstull und Gärdet, auf der anderen Seite von Stockholm. Ob Hoffsten dort irgendwo wohnte?

Der letzte Brief war an Stig Hoffsten adressiert und ein weiteres Mahnschreiben wegen Überschreitung einer Leihfrist, diesmal für vier Bücher aus der Bibliothek am Fältöversten. Dem Anschein nach ausnahmslos Titel zum Thema Filmgeschichte, deren Leihfrist am zehnten Juli geendet hatte. Die Bibliothek lag ebenfalls am Valhallavägen. Tomas’ Gefühl, dass Stig Hoffsten entweder auf Gärdet oder Östermalm untergetaucht war, verstärkte sich.

Er stand auf und war im Begriff, die Filmzeitschriften in den Mülleimer zu werfen, als er innehielt. Auf der anderen Straßenseite zog eine Gruppe grölender Fußballfans entlang. Ein Taxi fuhr vorbei. Tomas betrachtete die Cover, dann rollte er die Zeitschriften zusammen und steckte sie zurück in die Tüte.

Morgen würde er sich im Videoladen und in der Bibliothek erkundigen, ob Filme und Bücher noch immer nicht zurückgegeben worden waren, und vor den Filialen verdeckte Ermittler postieren, für den Fall, dass Stig Hoffsten sich dort blicken ließ.

Er näherte sich, davon war er überzeugt.

Während er durch eine Stadt, die den dritten WM-Platz der Fußballnationalmannschaft feierte, nach Hause in eine leere und verlassene Wohnung lief, kreisten seine Gedanken um seine Familie. Er hatte sie verloren. Das wusste er. Und er konnte nur hoffen, dass Verlust und Trauer leichter zu tragen sein würden, sobald der Frauenmörder Stig Hoffsten nur noch eine Erinnerung war. Er dachte an Azra und an die Kluft, die sich zwischen ihnen aufgetan hatte. Jede Sekunde ließ den Abgrund tiefer und unüberwindlicher werden. Warum kam er nicht dahinter? Irgendetwas übersah er, irgendetwas an der Peripherie des Überfalls, das er nicht begriff.

Zu Hause nahm er eine Dose Bier aus dem Kühlschrank und ging damit in den Laubengang hinaus. Unten auf der Hornsgatan hupte ein Autokorso. Er stellte sich an die Brüstung und blickte auf den kollektiven Freudentaumel hinab. Eine Erkenntnis stieg in ihm auf, wuchs und reifte zu einem Gedankengang, der ihn vollständig aus der Bahn warf. Er zwang sich dazu, den Überfall auf Azra aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Nicht als Angehöriger, sondern als Polizist. Während sich die Nacht auf die feiernde Stadt senkte, wurde ihm mit einem Mal klar, wie sich die Puzzlestücke ineinanderfügten. Eins nach dem anderen fielen sie an ihren Platz. Der Überfall. Azras Schweigen. Ihre Angst. All das hing miteinander zusammen. Als Tomas den letzten Schluck lauwarmen Biers trank, beschloss er, den Täter nicht als Repräsentant des Rechtsstaats zu strafen, sondern als ein Vater, der sein Kind verloren hatte.