Sonntag, 17. Juli 1994

29

Tomas fuhr erneut durch die Straßen seiner Kindheit. Aus dem Autoradio strömte Kleiner blauer Vogel von Staffan Hellstrand. Mit jedem zurückgelegten Meter wuchs seine Gewissheit. Er war auf dem Weg in die Flüchtlingsunterkunft, um das zu bestätigen, was er bereits wusste. Er würde mit Azra sprechen. Auch wenn sie sich weiter weigerte, mit ihm zu reden, würde er die Antwort in ihrem Gesicht lesen können. Er parkte vor dem Eingang, angelte eine Zigarette hervor, zündete sie an und rauchte, den Ellbogen gegen die Innenseite der Fahrertür gestützt. Er versuchte, den Moment auszudehnen, die Entscheidung hinauszuzögern. Es war noch früh am Tag. Er hatte noch niemandem von seiner gestrigen Entdeckung in Hoffstens Postfach erzählt. Das würde er später tun, nachdem er den Videoladen aufgesucht hatte, der um elf Uhr öffnete. Die Bibliothek war sonntags geschlossen.

Tomas öffnete die Tür und stieg aus. Vor dem Eingang warf er die Kippe weg und ging den Flur hinunter. Aus den Zimmern drangen Stimmen, die in Sprachen redeten, die er nicht verstand.

Vor Azras Zimmer blieb er stehen, zupfte seinen Hemdkragen zurecht und klopfte an.

»Wer ist da?«

»Ich bin es, Tomas.«

Stille. Er wusste, dass Azra überlegte, ob sie ihn hereinlassen sollte. Einen Augenblick lang befürchtete er, sich geirrt zu haben. Vielleicht liebte sie ihn ganz einfach nicht mehr. Vielleicht gab es jemand anderen. Den Mann, der sie begleitet hatte, als er sie heimlich beobachtet hatte? Einen Landsmann? Jemanden, den sie im Supermarkt kennengelernt hatte, an irgendeinem der heißen Sommertage?

»Azra, ich muss mit dir reden«, sagte er.

Hinter ihm erklangen Kinderstimmen, und er drehte sich um. Ein Junge und ein Mädchen schoben ein verrostetes Fahrrad zwischen sich her und diskutierten eifrig auf Bosnisch. Tomas meinte zu verstehen, dass sie aushandelten, wer das Fahrrad zuerst haben dürfe, doch er war nicht sicher. Er klopfte ein zweites Mal.

»Azra, mach bitte die Tür auf.«

Ein Schlüssel wurde herumgedreht, und ihr Gesicht erschien im Türspalt. Sie trug ein gelbes Longshirt mit dem Logo der Supermarktkette ICA. Die Prellungen und Schwellungen waren fast verheilt, aber die Trauer in ihren Gesichtszügen war unverändert.

Tomas ging hinein. Das Zimmer war klein und stickig. Die Einrichtung bestand aus einem schmalen Bett, einem weißen IKEA-Kleiderschrank, einem kleinen Schreibtisch an der Wand am Fußende des Bettes und einem Stuhl. Ein Ventilator drehte müde seine Kreise. Azra ließ sich aufs Bett sinken, schlug die Beine übereinander und zog das T-Shirt über die Knie. Tomas griff nach dem Stuhl und stellte ihn so, dass er ihr direkt gegenübersaß.

»Ich verstehe, dass du nichts mehr mit mir zu tun haben willst«, sagte er. »Am Anfang habe ich es nicht verstanden. Ich war außer mir, bin immer noch am Boden zerstört. Aber es ist deine Entscheidung. Ich werde dich nicht unter Druck setzen, aber ich glaube, ich habe begriffen, wie es einen Sinn ergibt.«

Azra schwieg und starrte auf ihre Hände.

»Kannst du nicht irgendetwas sagen?«, bat er verzweifelt.

»Was willst du mich sagen hören, Tomas? Was soll ich deiner Meinung nach verflucht noch mal sagen?«

Azra sprach leise, aber mit deutlich unterdrückter Wut. Der bosnische Akzent in ihrem Englisch wurde stärker, wenn sie aufgebracht war. Tomas konnte sich nicht daran erinnern, sie schon einmal fluchen gehört zu haben.

»Ich weiß es nicht. Irgendwas. Irgendwas, das bewirkt, dass ich das hier durchstehe.«

Azra wandte den Blick zum Fenster. Ein fetter Brummer summte an der Scheibe. Draußen wuchs ein Hagebuttenstrauch, über dem ein paar Hundert Meter entfernt das schwarze Dach einer Sporthalle aufragte.

»Fahr nach Hause zu deiner Frau und deinen Kindern. Denn wie ich dich kenne, hast du ihnen noch nicht von mir erzählt.«

Tomas wartete auf eine Fortsetzung, die nicht kam. Azra stand auf, öffnete das Fenster und ließ den Brummer hinaus.

»Hat er dich bedroht?«, fragte Tomas.

»Was spielt das für eine Rolle?«

Azra setzte sich wieder aufs Bett.

»Ich muss es wissen, ich muss es verstehen.«

»Weil du Polizist bist oder weil du mich liebst?«

»Muss das eine das andere ausschließen?«

Sie sah ihm geradewegs in die Augen.

»Ich will es wissen, weil ich glaube, dass einer meiner Brüder dich zusammengeschlagen hat. Einer meiner Brüder hat dich so sehr misshandelt, dass er unser Kind getötet hat, Azra. Aber nicht nur das. Er hat auch uns beide getötet. Sieh uns doch nur an, hör uns zu.«

Für einen kurzen, intensiven Augenblick erwachte etwas in ihr, und Tomas sah einen Schimmer des Blicks, mit dem sie ihn früher stets angesehen hatte. Er fragte sich, ob sie ihn jemals wieder auf diese Weise ansehen würde. Ob ihn jemals wieder irgendjemand auf diese Weise ansehen würde.

»Ich muss wissen, welcher meiner Brüder es war«, beharrte er. »Er wird dich niemals wieder verletzen. Das verspreche ich dir. War er älter oder jünger als ich?«

Azra blickte ihn trotzig an, doch dann schien sie mit einem Mal aufzugeben. Als sie zu reden begann, war ihre Stimme so leise, dass er sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen. Er nahm ihre Worte einen Moment lang in sich auf, dann erhob er sich und stellte den Stuhl zurück an den Schreibtisch. Wenn er sich früher von seiner Vergangenheit und seinen Brüdern befreit hätte, wäre das alles nie passiert.

»Es tut mir unendlich leid, dass es so gekommen ist«, sagte er. »Was geschehen ist, war meine Schuld. Ich hätte dich vor meiner Familie schützen müssen.«

Azra antwortete nicht.

Tomas öffnete die Tür, um zu gehen, Azra blieb mit gesenktem Kopf auf dem Bett sitzen.

»Ich bin mit einem anderen zusammen gewesen.«

Sie sah ihn an.

»Mit ihm«, fuhr sie fort. »Mit dem Mann, mit dem du mich gesehen hast, bevor du mich aufgesucht hast.«

Tomas ließ die Tür wieder ins Schloss gleiten. Er sagte nichts, bewegte sich nicht. Azra sah ihn abwartend an. Tomas nickte langsam, ohne ihren Blick zu erwidern.

»Sag was!«, stieß Azra hervor. »Willst du mich nicht fragen, warum? Willst du mir keine Vorwürfe machen?«

»Es ist mir egal, warum du es getan hast und dass es geschehen ist.«

Azra blickte ihn verständnislos an.

»Wir Menschen tun manchmal Dinge, ohne dass es einen Grund dafür gibt. Weil es uns in den Sinn kommt, weil wir es in dem Moment für das Richtige halten. Wir tun Dinge, weil wir Angst haben, traurig, wütend oder glücklich sind. Wenn du diesen Mann liebst, musst du mit ihm zusammen sein. Liebst du mich und kannst mir vergeben, dass ich unser Kind habe sterben lassen, möchte ich mit dir zusammen sein. Ganz gleich, ob du mit ihm geschlafen hast. Ganz gleich, ob du mit hundert anderen Männern geschlafen hast. Nichts, was du mit einem anderen Mann tun könntest, bewirkt, dass ich aufhöre, dich zu lieben. So funktioniert meine Liebe zu dir nicht. Sie bezieht sich nur auf dich, nicht auf andere.«

Tomas streckte die Hand aus, öffnete die Tür und ging in den Flur hinaus.

30

Um Viertel nach zwölf am Sonntagmittag betrat Vera die Zinken Bar. Sie setzte sich an einen Tisch mit Blick auf den Eingang und bestellte einen doppelten Whisky. Schaler Biergeruch hing in der Luft. Vermutlich waren reichlich rauchende Stammgäste nötig, um die Schankraum-Duftpalette in ein ausgewogeneres Gleichgewicht zu bringen, dachte sie. Doch die Trinker weilten noch nicht unter den Lebenden.

Sie steckte sich eine Zigarette an, nahm ihr Handy aus der Handtasche und rief Cornelia Bergman vom Jugendamt in Malmö an.

Nach einigen Höflichkeitsfloskeln über den Zeitungsartikel, für den sie Cornelia Bergman bei ihrer letzten Begegnung interviewt hatte, brachte Vera das Gespräch auf ihr eigentliches Anliegen.

»Ich wollte Sie fragen, wie Sie bei der Unterbringung von Kindern vorgehen. Angenommen, es geht um ein achtjähriges Mädchen. Der Vater ist kriminell. Die Mutter lebt nicht mehr, und das Mädchen hat keine anderen Verwandten. Aber die Lebensgefährtin des Vaters war in den letzten Jahren die feste Bezugsperson des Kindes. Wenn der Vater zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt wird, wie wahrscheinlich ist es, dass das Mädchen bei der Lebensgefährtin bleiben darf?«

Veras Mund war staubtrocken. Sie atmete tief ein, hatte aber trotzdem nicht das Gefühl, genug Luft zu bekommen.

»Fragen Sie für einen Artikel? Falls ja, dürfen Sie mich nicht zitieren. Das Verfahren variiert von Fall zu Fall.«

»Es ist ein reales Szenario. Nichts, worüber ich schreibe.«

»Geht es um jemanden aus Ihrem persönlichen Umfeld?«, hakte Cornelia Bergman nach.

»Ja.«

»Gut. Folgendes: Wir versuchen grundsätzlich, das Kind bei einer Vertrauensperson aus dem Umfeld zu platzieren. Das gibt dem Kind mehr Sicherheit, und für uns ist es, krass ausgedrückt, einfacher. Es gibt temporäre und dauerhafte Unterbringungen. Die Regeln dafür sind verschieden, aber in beiden Fällen kann das Kind zu Verwandten oder Freunden kommen. Vorausgesetzt natürlich, wir finden ein geeignetes Zuhause. Wir betrachten die Situation immer aus der Perspektive des Kindes heraus.«

»Glauben Sie, ich wäre eine geeignete Kandidatin?«

Vera hielt die Augen geschlossen, als sie die Worte aussprach.

»Die Frage habe ich fast erwartet. Wie Sie sicher verstehen, kann ich Ihnen nichts versprechen. Aber was die temporäre Unterbringung angeht, ist davon auszugehen, dass der Junge bei Ihnen bleibt. Und nach dem zu urteilen, was Sie erzählt haben, halte ich auch eine dauerhafte Unterbringung für möglich. Sitzt der Vater bereits im Gefängnis?«

»Nein, aber es wird nicht mehr lange dauern.«

»Gut. Dann haben Sie Zeit.«

»Was sollte ich als Nächstes tun?«

»Sobald Ihr Lebensgefährte in Polizeigewahrsam ist, wenden Sie sich an unser Jugendamt. Aber warten Sie, bis ich wieder im Büro bin. Ich bin in einer Woche aus dem Urlaub zurück.«

»Danke.« Vera umklammerte ihr Handy. »Ich danke Ihnen.«

Die Bedienung brachte den Whisky an ihren Tisch, und Vera nahm einen großen Schluck. Doch die Angst, die ihr seit dem Aufwachen wie ein Kabelbinder die Brust zuschnürte, ließ sich nicht mit Alkohol vertreiben.

Wie beendete man eine Beziehung?

In einer normalen Partnerschaft führte man eine Aussprache, umarmte sich, weinte und ging anschließend seiner Wege. Mit Jonny schien kein anderes Ende möglich zu sein als das, was sich gleich hier abspielen würde.

Vier Jahre lang hatte Jonny zu ihr gehört, und nun würde er für immer aus ihrem Leben verschwinden. Erst als sie sich heute Morgen schlaflos im Bett hin und her gewälzt hatte, war ihr aufgegangen, was passieren würde. Was sie im Begriff war zu tun. Jonny war für sie da gewesen, als ihr Vater begonnen hatte, sie für das, was geschehen war, zu strafen. Als ihre Mutter ihre Schwester gebeten hatte, Vera aus der Wohnung zu werfen, die sie in zweiter Hand von ihrer Tante mietete.

Sie war ein Wrack gewesen, als Jonny in ihr Leben getreten war, verschuldet und unglücklich. Und in dem verzweifelten Versuch, vor den schrecklichen Geschehnissen zu fliehen, hatte sie mit einer Leere in der Brust, die ausgefüllt werden musste, den Studienkredit und die Wohnungsmiete verfeiert.

Jonny hatte sie damals gerettet, ihr mit seinem treuseligen Augenaufschlag versprochen, die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Sie wieder ins Lot zu bringen.

Jetzt war er derjenige, der am Boden war.

Vera angelte eine neue Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an der Glut der alten an.

Sie hatte Jonny geliebt. Vielleicht liebte sie ihn noch immer. Aber es war eine in die Brüche gegangene Liebe, voll unheilbarer Wunden. Sein Welpenblick und sein unsicheres Lächeln konnten sie nicht wieder zusammenfügen.

Vera verspürte einen Druck hinter den Augen, kämpfte gegen die Tränen an und versuchte sich einzureden, dass die bevorstehenden Ereignisse geschehen mussten. Jonny war schuld, dass sie ihren Job bei der Kvällsposten verloren hatte. Er war unter Drogen und aggressiv nach Hause gekommen. Er hatte ihr Pål auf den Hals gehetzt.

Sie sah Sigge vor sich. In zwei Jahren. In fünf Jahren. In zehn Jahren.

Ich tue das Richtige, dachte sie. Ich tue verflucht noch mal das Richtige.

Als sie ihre Zigarette ausdrückte, näherte sich auf der Hornsgatan das widerhallende Röhren eines Motorrads ohne Schalldämpfer.

Ihr Pulsschlag beschleunigte sich, obwohl sie wie erstarrt dasaß.

Im selben Moment begann ihr Handy auf dem Tisch zu klingeln. Es wog schwer in ihrer Hand, als sie sich meldete.

»Passen Sie auf. Ich glaube, er ist gleich da«, informierte sie Tomas Wolfs Kollege Zingo.

»Ich behalte Sie in der Leitung.«

»Gut.«

Kurz darauf hörte Vera, wie das Motorrad abbremste und gleich darauf wieder beschleunigte.

»Er ist an der Kreuzung nach rechts abgebogen. Sie müssten ihn gleich sehen«, sagte Zingo.

Einen Moment später sah sie durch das Fenster zum Ringvägen, wie ein Motorrad auf den Bürgersteig fuhr und vor dem Außenbereich parkte.

Noch bevor der Fahrer den Helm absetzte, wusste sie, wen sie vor sich hatte.

»Das ist er«, bestätigte sie Zingo.

»Wir kommen, sobald er reingegangen ist.«

Zingo beendete das Gespräch, und Vera blieb mit dem Handy in der Hand sitzen.

Die Tür ging auf, und vor ihr stand Jonny, in helle Jeans und ein weißes T-Shirt gekleidet. Er sah gut aus. Nüchtern.

»Wo ist Sigge?«, fragte er.

Ein triumphierendes Grinsen lag auf seinem Gesicht, als hätte er sie bei etwas ertappt und wartete darauf, wie sie reagierte.

»Auf dem Klo«, antwortete sie.

Jonny kam an ihren Tisch.

»Du trinkst? Um diese Uhrzeit?«

»Ich musste mich stärken.«

Ihr Plan schien aufzugehen. Doch sie empfand nicht die erhoffte Genugtuung. Bloß ein bohrendes Loch in der Brust, das sekündlich größer wurde.

Jonny zuckte mit den Schultern und winkte die Bedienung herbei.

»Ein großes Bier mit vier Zentilitern Wodka.«

Er schaute Vera an und schien für einen Moment zu vergessen, warum er hier war.

»Hast du mich vermisst?«, fragte er.

»Ja«, antwortete Vera, von ihrer eigenen Aufrichtigkeit überrascht.

Sie trank ihren Whisky aus, brachte es nicht über sich, Jonny in die Augen zu sehen, und begann, an ihrer Nagelhaut herumzuknibbeln.

»Es hätte nicht so kommen müssen«, sagte Jonny leise.

»Nein.«

Für einen kurzen Moment verspürte Vera den Wunsch, das Ganze abzubrechen. Hinter Jonny aufs Motorrad zu springen, Sigge zu holen und nach Malmö zurückzukehren. In ihr altes, neues Leben. Sie drei gegen den Rest der Welt.

Dann blickte sie Jonny in die Augen. Sah die unberechenbare Wechselhaftigkeit, die sie so oft verletzt hatte und die Sigge mit jedem Jahr, das verging, mehr schaden würde.

Während sich hinter Jonny die Kneipentür auftat, brachte die Bedienung sein Bier. Er nahm es direkt in die Hand.

»Genieß es«, sagte Vera. »Nimm einen großen Schluck.«

Jonny sah sie verblüfft an, hob das Glas aber an den Mund und trank. Ein dünnes Rinnsal lief ihm übers Kinn und tropfte auf sein T-Shirt.

Dann ging alles sehr schnell. Zingo und zwei jüngere Beamte in Zivil rangen Jonny auf den Tisch nieder, das Bierglas fiel zu Boden. Die Polizisten legten Jonny Handschellen an und lasen ihm seine Rechte vor. Er leistete Widerstand, stieß beim Gerangel zwei Stühle um. Der Tisch, der im Boden verschraubt war, löste sich aus der Halterung.

Als die Polizisten Jonny wieder auf die Füße gezerrt hatten, warf er Vera einen flehenden Blick zu.

»Sigge soll das nicht mitkriegen. Bitte, sorg dafür, dass er auf dem Klo bleibt«, sagte er.

»Sigge ist gar nicht hier«, erwiderte sie. »Pass auf dich auf, Jonny.«

Die zwei jüngeren Polizeibeamten führten ihn ab. Das Letzte, was Vera von ihm sah, war sein Welpenblick, der besagte, dass in Wahrheit er das Opfer war. Dann fiel die Kneipentür hinter ihm zu.

Zingo reichte Vera eine Serviette. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie weinte.

Dann wandte sich der Polizist mit dem sonderbaren Vornamen an die Bedienung. Er sah müde und ausgelaugt aus, als würde ihm etwas fehlen.

»Wir brauchen zwei Drinks. Zwei Blue Ladys wären gut. Aber machen Sie den Ladys Beine.«

Die Bedienung blickte ihn verwirrt an.

»Heißt das, Sie wollen mehr Alkohol?«

»Oh ja.«

31

Noch vor zwölf Uhr mittags, zweieinhalb Stunden nach seinem Gespräch mit Azra, fuhr Tomas den Valhallavägen entlang. Er passierte die Technische Hochschule und die Musikhochschule, zu seiner Rechten erhob sich der rote Ziegelsteinklotz des Fältöversten. Er bog links in den Värtavägen ein, setzte am Straßenrand in eine freie Parklücke und ging in Richtung Videothek, die unten auf der Ecke in einem grauen Bauhausgebäude untergebracht war. Vor dem Eingang blieb er stehen und blickte durch die Schaufenster. Am Tresen bediente ein junges Mädchen mit grünen Haaren. Neben der Kasse stand ein Computer. Zwei Kunden stöberten in den Regalen. Tomas ging hinein und trat zu dem grünhaarigen Mädchen. Dem Namensschild auf ihrer Brust nach hieß sie Therese.

»Ich benötige Informationen über einen Kunden von euch. Sein Name ist Stig Hoffsten«, sagte er und zeigte ihr seinen Dienstausweis.

Das Mädchen bedachte ihn mit einem desinteressierten Blick.

»Was wollen Sie wissen?«

An ihrer Zungenspitze blitzte ein Piercing auf.

»Zuallererst, ob er noch eine andere Adresse angegeben hat als die, an die ihr seine Mahnungen schickt.«

»Stig Hoffsten, sagten Sie? Mit Doppel-F?«

»Ja.«

Sie begann, auf der Computertastatur herumzutippen.

»Nein, die einzige Adresse, die wir von ihm haben, ist ein Postfach. Box 104 in der Hornsgatan.«

Tomas nickte. Hoffsten verstand es, seine Spuren zu verwischen. Im Grunde hatte er keine andere Antwort erwartet.

»Können Sie bitte nachsehen, ob Sie unter Ihren Kunden einen Bruno Coppola haben?«

»Coppola? Wie der Regisseur?«

»Ich glaube schon.«

Das Mädchen wandte sich wieder der Computertastatur zu und schüttelte kurz darauf den Kopf.

Ein Räuspern zwang Tomas dazu, sich umzudrehen. Hinter ihm stand eine ältere Dame mit einer Videokassette in der Hand. Er ließ sie vor. Als sie den Laden verlassen hatte, trat er wieder an den Tresen.

»Kennen Sie Stig Hoffsten? Haben Sie ihn schon einmal gesehen?«

»Haben Sie ein Foto?«

Tomas zog ein zusammengefaltetes Foto von Hoffsten aus der Gesäßtasche, strich es glatt und legte es auf den Tresen. Das junge Mädchen beugte sich vor und betrachtete es.

»Ja, er kommt ziemlich regelmäßig.«

»Haben Sie ihn bedient, als er das letzte Mal hier war?«

»Ich glaube, ja.«

»Wie würden Sie ihn beschreiben?«

»Sein Aussehen?«

»Nein, als Person, als Mensch.«

Sie dachte einen Moment nach.

»Ich kenne ihn nicht näher. Aber er ist schweigsam. Kauzig, irgendwie ein Sonderling. Auf mich macht er immer einen ziemlich einsamen Eindruck.«

»Ist es schon mal vorgekommen, dass er Filme zu spät zurückgegeben hat?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

»Nicht dass ich wüsste.«

Das muss bedeuten, dass er sich in die Enge getrieben fühlt und sich verborgen hält, dachte Tomas. Aber er liebt Filme. Früher oder später wird er auftauchen. Hier oder anderswo, wo er Filme ausleihen kann. Er kann nicht ewig untätig in seiner Wohnung hocken und in Dauerschleife Basic Instinct oder Bodyguard gucken. Hier werden wir ihn schnappen. Irgendwann taucht er hier auf, und dann sind wir bereit.

»Wissen Sie, in welche Richtung er geht, wenn er die Videothek verlässt?«

Sie dachte wieder einen Augenblick nach.

»In Richtung Gärdet«, sagte sie dann.

»Geht er zu Fuß?«

»Nein, er kommt mit dem Fahrrad. Er lehnt es immer da draußen an den Laternenpfahl.« Sie deutete zum Fenster.

Tomas drehte sich um und betrachtete den Laternenpfahl auf dem Bürgersteig.

»Ich möchte, dass Sie diese Unterhaltung für sich behalten. Sie dürfen auf keinen Fall jemandem erzählen, dass ich hier gewesen bin.«

Tomas rechnete mit den üblichen Gegenfragen – warum er sich nach dem Mann erkundigte und was er verbrochen hatte.

»Soll ich irgendeine Telefonnummer anrufen, wenn er hier auftaucht?«, wollte das Mädchen stattdessen wissen.

»Nein, das ist nicht nötig«, erwiderte er.

Nachdem Tomas die Videothek verlassen hatte und wieder im Wagen saß, griff er zum Autotelefon und wählte Vera Bergs Nummer.

»Wir lassen die Videothek im Valhallavägen ab sofort observieren«, sagte er.