Es war kurz vor vier Uhr nachmittags, und die schwedische Fußballnationalmannschaft war vor zwei Stunden gelandet. Große Teile der Stockholmer Innenstadt waren zu Ehren der Spieler, die in einem Autokorso zum Rålambshovspark geleitet werden sollten, abgesperrt. Zehn Oldtimer würden sich in wenigen Minuten von Norrtull aus in Bewegung setzen und langsam durch die Stadt rollen. Ein Großaufgebot der Polizei mit Hunderten Beamten begleitete das Ganze. Doch die Bronzehelden wurden nicht nur am Boden geehrt. Vor einer Weile war am Himmel das Dröhnen zweier Richtung Süden fliegender Viggen-Kampfjets zu hören gewesen, die gestartet waren, um die Boeing 767 der Nationalmannschaft das letzte Stück zum Flughafen Arlanda zu eskortieren.
Aber auch im östlichsten und wohlhabendsten Stadtteil Stockholms, auf Södermalm, fand seit gestern ein Polizeieinsatz statt, wenn auch in deutlich geringerem Umfang.
Tomas und Zingo standen auf der Fußgängerbrücke zwischen Fältöversten und Tessinpark, direkt oberhalb des Valhallavägen. Unauffällig deutete Tomas auf die Positionen der Wagen der observierenden Beamten.
»Wenn er hier auftaucht, haben wir ihn«, sagte er. »Er hat keine Chance.«
»Ich hoffe, du hast recht«, erwiderte Zingo.
Vera Berg war ebenfalls vor Ort, in ihrem Saab, so, wie Tomas es ihr versprochen hatte. Zusätzlich zu ihrem Exklusivartikel über die langwierige und denkwürdige Mörderjagd sollte sie Stig Hoffstens Festnahme auf Zelluloid festhalten.
Unter ihnen strömten Menschenmassen in Richtung Innenstadt, ein nahezu einfarbiges Meer aus gelben Schwedentrikots. Tomas und Zingo liefen die Stufen hinunter und gingen am U-Bahn-Eingang vorbei. Tomas öffnete die Fahrertür des zivilen Streifenwagens, von dem aus sie den Eingang der Videothek im Blick hatten. Eine erwartungsvolle Spannung erfasste ihn. Doch Zingo schien mit seinen Gedanken woanders zu sein.
»Ist irgendwas?«, fragte Tomas.
»Es ist so verflucht schade, dass es vorbei ist.«
»Die WM, meinst du?«
»Nicht nur die WM. Hast du nicht den Wetterbericht gehört? Das Hoch, das seit sechs Wochen wie eine Glocke über uns liegt, wandert ab. Es ist vorbei. Bald heißt es wieder Regen und Dunkelheit und Ermittlungen in tristen Mietwohnungen von kürzlich geschiedenen Selbstmördern. Ein Sommer wie dieser kommt kein zweites Mal.«
Zingo drehte sich um und blickte hinüber zum Tessinpark, wo in den feinen Wassertropfen der Springbrunnenfontäne ein Regenbogen schimmerte.
»Heute ist erst der 18. Juli«, wandte Tomas ein.
»Der schwedische Sommer wird niemals alt, er stirbt immer jung«, erwiderte Zingo. »Ich habe mir im September ein paar Tage freigenommen. Ich fahre nach Tallinn. Mit dem Schiff.«
»Tallinn?«
»Ja, die Hauptstadt von Estland. Ich habe mir vorhin das hier geholt.« Zingo zog ein Fährticket aus seiner Brusttasche. Estonia, las Tomas. Ein schöner Name für eine Fähre, dachte er. Er gab Zingo das Ticket zurück und sah ein paar mit selbst gebastelten Schildern und Schwedenfahnen ausgestatteten Jugendlichen hinterher.
Er teilte Zingos optimistisches Urteil über den vergangenen Sommer nicht. Er dachte an die heißen Junitage in Falun, an den dunklen Schatten von Mattias Flinks Irrsinnstat. An seine eigene Orientierungslosigkeit und seinen Anteil am endgültigen Zerfall seiner Familie. An die Streitereien mit Klara. An die gewaltsamen Zusammenstöße zwischen Neonazis und jugendlichen Migranten am Kungsträdgården. Die Polizeikolonnen. Die panische Angst in Peters Augen, als er ihn am Skinnarviksberget über die Klippenkante gehalten hatte. Die aufgefundenen Frauenleichen. Den Mörder Stig Hoffsten, den sie noch immer jagten. Die hellen, langen und einsamen Nächte im stickigen Schlafzimmer in der Hornsgatan. Er dachte an Azra. Daran, als sie sich geliebt hatten, als hätten sie nur noch eine Minute zu leben. An das düstere Krankenzimmer im Krankenhaus von Köping. Die Blutflecken zwischen ihren Beinen. An Ebba, wie sie mit seiner Dienstwaffe auf Alexander zielte.
Es war ein ereignisreicher Sommer gewesen, der ihm auf ewig in Erinnerung bleiben würde, jedoch nicht in lichten Farben. Er würde sich vor allem an die Schwärze und die Trauer erinnern, die er in sich gehabt hatte während des heißesten und hellsten Sommers, den Schweden je erlebt hatte.
Alles erschien ihm so unendlich nah und gleichzeitig so unendlich weit weg.
Inmitten seines Gefühlschaos aus Emotionen und Erinnerungen fiel sein Blick auf einen Mann auf einem grünen Fahrrad. Er kam aus Richtung Gärdesfältet, überquerte auf Höhe Värtavägen die Straße, stieg vom Rad, schob es einige Meter, lehnte es vor der Videothek an den Laternenpfahl und ging hinein.
»Mist!«, fluchte Vera.
Sie hatte zu spät reagiert, als der Mann die Videothek betreten hatte. Sie hatte ihre Kamera mit Teleobjektiv vom Armaturenbrett gerissen, doch ehe sie den Objektivdeckel entfernt hatte, war Stig Hoffsten im schummrigen Laden verschwunden. Ein weißes Rechteck auf dunklem Hintergrund, dann war die Tür hinter ihm zugefallen.
Vera blickte zu dem zivilen Streifenwagen auf der anderen Straßenseite, in dem Tomas Wolf saß, und schlug mit der Hand aufs Lenkrad.
»Verfluchter Mist.«
Wolf, dessen Position einen besseren Überblick bot, hatte versprochen, sie anzurufen, wenn Stig Hoffsten sich näherte. Er hatte sein Versprechen nicht eingelöst und sie die Chance verpasst, die letzten Schritte des Serienmörders Stig Hoffsten in Freiheit abzulichten. Ein historisches Zeitungsbild, das niemals eine Titelseite schmücken würde.
»Was glaubst du, was Papa grade macht?«, fragte Sigge vom Rücksitz.
Vera hatte ihm noch nicht erzählt, dass Jonny festgenommen worden war. Doch das unumgängliche Gespräch rückte Tag für Tag näher.
»Ich glaube, er ist im Freibad und schwimmt«, antwortete Vera abwesend.
Sie richtete das Objektiv auf den Eingang der Videothek, schaute durch den Sucher und machte sich bereit. Dieses Mal würde sie den Moment nicht verpassen. Solange die Polizei nicht zu schnell mit der Tür ins Haus fiel, würde sie zwei oder drei gute Schüsse bekommen. Ein Ganzkörperbild und zwei Nahaufnahmen. Hoffstens Gesichtsausdruck, wenn ihm aufging, was als Nächstes geschehen würde, und die eigentliche Festnahme.
»Papa kann nicht gut schwimmen. Er liegt wahrscheinlich im Schatten und trinkt Bier«, überlegte Sigge.
»Ja, bestimmt. Aber Großer, ich muss mich jetzt konzentrieren.«
Auf der Rückbank ertönte ein tiefer Seufzer. Zwei Füße traten trotzig gegen ihren Sitz, und Veras Oberkörper schnellte nach vorne, wobei die Kamera aufs Lenkrad prallte. Birgitta hatte versprochen, als Babysitterin einzuspringen, aber Migräne bekommen. Vera hegte jedoch den leisen Verdacht, dass es sich bei der Migräne eher um einen Kater handelte. Sie versuchte sich einzureden, dass Sigge nicht in Gefahr war. Was sollte mit einem Dutzend Polizisten im Umkreis von zehn Metern schon passieren?
»Ich habe einen Job für dich. Einen echten Polizistenjob«, sagte sie.
Den Blick auf den Eingang der Videothek gerichtet, hörte sie, wie Sigge sich aufsetzte. Sie machte zwei Aufnahmen von Stig Hoffstens Fahrrad und versuchte dann, ihn durch das Schaufenster hindurch zu fotografieren.
»Behalt den Polizisten in dem schwarzen Auto auf der anderen Straßenseite im Auge. Wenn er losfährt, müssen wir ihm folgen. Dann sagst du mir Bescheid.«
»Auf wen warten wir eigentlich?«, fragte Sigge.
»Auf einen Mörder.«
Sigge schnappte nach Luft, gleichermaßen verängstigt wie begeistert.
»Ich wünschte, Papa wäre jetzt hier.«
Aus dem Polizeifunk drang lautes Stimmengewirr. Tomas musste um Ruhe bitten, um sich Gehör zu verschaffen und seine Anweisungen erteilen zu können.
»Das Zielobjekt trägt einen weißen Kapuzenpulli, hellblaue Jeans und eine Brille. Haben ihn alle identifiziert?«
»Ja.«
»Ja.«
»Ja.«
Stig Hoffsten lief in der Videothek zwischen den Regalen entlang und nahm einen Film heraus.
»An alle Einheiten«, sagte Tomas. »Denkt dran. Der Zugriff erfolgt nicht hier. Hoffsten hat mit größter Wahrscheinlichkeit eine Frau in seiner Gewalt. Wir müssen abwarten und darauf hoffen, dass er uns zu seinem Versteck führt. Wir nehmen ihn im Treppenhaus fest, falls es eins gibt. Wir wollen auf gar keinen Fall, dass er in die Wohnung gelangt und es zu einer Geiselsituation kommt. Verstanden?«
»Verstanden.«
»Verstanden.«
»Verstanden.«
Tomas drückte die Sprechtaste.
»Jeder auf seine Position. Team vier, seid ihr in der Gyllenstiernsgatan? Er wird auf dem Rückweg vermutlich an euch vorbeikommen.«
»Wir sind bereit.«
Ein zweiköpfiges Ermittlerteam am Ende des Valhallavägen würde Hoffstens Verfolgung mit dem Fahrrad aufnehmen.
»Team vier? Habt ihr ihn auf dem Hinweg vorbeifahren sehen?«
»Nein.«
Das wunderte Tomas. Konnte Hoffsten aus einer anderen Richtung gekommen sein? Hatte er eine Abkürzung über den Schulhof der Gärdesskolan genommen? Oder war er den Strandvägen entlang und durch den Gustav-Adolfs-Park gefahren? Doch er schob seine Überlegungen beiseite. In dieser Phase spielte es keine Rolle, welchen Weg Hoffsten genommen hatte. Sie durften ihn nicht mehr aus den Augen verlieren, darauf kam es an. Und acht Personen würden dafür sorgen, dass das nicht geschah. Das sollte mehr als ausreichend sein. Tomas wischte sich den Schweiß von der Stirn und kurbelte das Fenster herunter. Obwohl der Wagen im Schatten stand, wurde es allmählich heiß.
Fünf Minuten später kam Stig Hoffsten mit einer Tüte in der Hand aus der Videothek, klemmte sie auf den Gepäckträger und sah sich um. Dann schob er sein Fahrrad in Richtung Värtavägen und Gärdesfältet und stieg auf. Doch anstatt nach Gärdet abzubiegen, radelte er in Richtung Karlaplan.
Tomas und Zingo sahen sich erstaunt an. Zingo faltete eine Straßenkarte auseinander. Tomas beugte sich darüber und erteilte über Funk neue Anweisungen.
»Zielobjekt fährt auf Värtavägen Richtung Karlaplan. Team zwei. Nehmt die Verfolgung auf. Sorgt dafür, dass er nicht die Wittstocksgatan nimmt. Team vier, ihr müsst euch neu positionieren. Begebt euch sofort zum Strandvägen.«
»Verstanden.«
»Verstanden.«
Tomas drehte sich zu Zingo. Er sah die Absperrungen in der Innenstadt vor sich. Das gelbe Menschenmeer, das die Gehwege blockierte, und bezwang das Gefühl aufsteigender Panik. Wenn Hoffsten in die Innenstadt fuhr, würden sie ihn in der Menschenmenge verlieren. Er sah auf seine Armbanduhr. Zwanzig nach vier. Der Oldtimer-Korso mit den Spielern befand sich wahrscheinlich irgendwo auf dem Sveavägen.
»Was zum Teufel machen wir?«, fragte er.
»Wir passen uns an. Oder willst du die Aktion abblasen, nach Hause fahren und auf einen Tag warten, an dem sich unser Mörder nach unseren Plänen richtet? In dem Fall gehe ich gerne zum Rålambshovspark.«
Tomas ließ den Motor an und lenkte den Wagen auf den Valhallavägen, erst nach gut zweihundert Metern fand er eine Möglichkeit, nach links abzubiegen. Er griff zum Funkgerät.
»Wie ist die Lage, Team zwei.«
»Karlavägen.«
»Welche Richtung?«
»Humlegården.«
»Verdammt!«, fluchte Tomas.
Er warf einen Blick auf die Straßenkarte, auf der Zingos Zeigefinger Stig Hoffstens Route nachzeichnete. Tomas bremste abrupt, als ein Bus vor ihnen anhielt. Zingo, der keinen Gurt angelegt hatte, wurde gegen die Windschutzscheibe geschleudert.
»Bist du in Ordnung?«
Zingo verzog das Gesicht und griff wieder nach der Straßenkarte.
»Dreh um. Wir müssen in die andere Richtung.«
Tomas gab Gas, überholte den Bus, bog am Värtavägen erneut links ab, beschleunigte und befolgte Zingos Anweisungen. Im Rückspiegel sah er, dass Vera Berg dicht hinter ihnen war.
»Positionen?«, funkte er die Kollegen an, während Zingo sich anschnallte.
»Team zwei. Karlavägen. Zielobjekt passiert in diesem Moment Östra Real.«
»Team drei. Unmittelbar hinter Team zwei. Biegen gleich in Richtung Östermalmstorg ab.«
»Team vier. Fahren auf Strandvägen Richtung Nybrokajen.«
»Verstanden. Danke.«
Tomas warf Zingo einen Seitenblick zu.
»Irgendwelche Einwände?«
»Nein.«
Tomas fuhr auf dem Valhallavägen mit hundertzehn Sachen über eine rote Ampel. Ein paar Meter hinter ihnen folgte Vera Berg seinem Beispiel. In Höhe Sturegatan vollführte er ein verbotenes Wendemanöver über beide Fahrbahnen.
»Hat er uns gesehen?«
»Weiß der Teufel.« Zingo rieb sich die Stirn.
Tomas raste am Sturepark vorbei. Als er sich dem Humlegården näherte, drosselte er das Tempo. In dem Moment entdeckte er Stig Hoffstens Rücken. Er war vom Karlavägen abgebogen und fuhr in Richtung Stureplan. Die Menschenmenge auf den Gehsteigen wurde immer dichter, je näher sie der Innenstadt kamen.
»Team zwei hier. Zielobjekt ist vor Humlegården nach links abgebogen. Befindet sich jetzt auf Sturegatan, parallel zum Park.«
»Verstanden. Team vier, Position?«
»Haben Birger Jarlsgatan erreicht. Das Gedränge wird immer dichter. Überlegen, die Verfolgung zu Fuß fortzusetzen.«
»Macht, was ihr für das Beste haltet«, sagte Tomas.
Er wartete eine Lücke im Verkehr ab und bretterte dann über den Karlavägen.
»Die Kungsgatan ist ab dem Rigoletto für den Autoverkehr gesperrt«, sagte Zingo.
Tomas seufzte und bremste, als eine Gruppe Jugendlicher die Sturegatan überquerte.
»Wir fahren so weit wie möglich mit dem Auto, dann gehen wir zu Fuß weiter. Das ist ein Albtraum, ein verfluchter Albtraum.«
Vera stieg auf die Bremse, als Tomas Wolf auf der Humlegårdsgatan nach rechts abbog.
Was in aller Welt tat er?
Soweit sie es hatte erkennen können, war Hoffsten geradeaus die Sturegatan hinuntergefahren. Sie hatte ihn nicht abbiegen sehen, und inzwischen war er aus ihrem Blickfeld verschwunden.
An der Kreuzung krampften sich ihre Hände ums Lenkrad, sie musste eine Entscheidung treffen. Die Polizeibeamten waren zu acht und standen in Funkkontakt. Sie konnten mehrere Positionen abdecken. Wollte Wolf Hoffsten von der Birger Jarlsgatan aus den Weg abschneiden? Hatten sich Kollegen von ihm auf der Sturegatan positioniert?
Vera folgte ihrem Bauchgefühl, drückte das Gaspedal durch und überquerte die Humlegårdsgatan in Richtung Stureplan.
»Du verlierst den Polizisten!«, rief Sigge.
»Ich weiß.« Vera schaltete in den zweiten Gang.
Sie fuhr an der Sturecompagniet und am Svampen vorbei. An der Ampel an der Kreuzung Birger Jarlsgatan bremste sie und blickte zum Stureplan, konnte Stig Hoffsten jedoch nirgends entdecken.
Fieberhaft dachte sie nach. Wollte man untertauchen, tat man das am besten in einer Menschenmenge. Was in diesem Fall hieß: über die Kungsgatan mitten ins Gedränge hinein. Aber Hoffsten verhielt sich nicht wie ein Gejagter. Er schien die Polizeibeamten nicht bemerkt zu haben. Und dass er vom Karlavägen abgebogen war, ließ darauf schließen, dass er in südlicher oder westlicher Richtung unterwegs war. Was wiederum bedeutete, dass er hier nach links abgebogen sein musste.
Vera blinkte und riss das Lenkrad herum, als Sigge auf dem Rücksitz rief:
»Da ist er!«
»Der Polizist?«
»Nein, der Mörder. Direkt vor uns.«
Da entdeckte Vera Stig Hoffsten auf der anderen Straßenseite. Er war im Gedränge vom Rad gestiegen, schwang sich gerade wieder auf den Sattel und radelte langsam durch das Menschenmeer.
Vera riss abermals das Lenkrad herum und schaltete in den ersten Gang. Im selben Moment sprang die Ampel auf Rot. Sie drückte das Gaspedal durch. Der Motor heulte auf.
Von links kam ein Bus. Ein schrilles Hupen gellte über den Stureplan. Der Bus rammte die Stoßstange des Saab, der Wagen geriet ins Schlingern und rutschte auf die Menschenmassen in der Kungsgatan zu.
Tomas fuhr in der Humlegårdsgatan rechts ran, griff nach dem Funkgerät, und sie stiegen aus. Er hatte die Stadt noch nie so voller Menschen gesehen.
»Team zwei hier. Wir setzen die Verfolgung zu Fuß fort. Zielobjekt befindet sich auf Kungsgatan inmitten der Menschenmenge, bewegt sich in Richtung Sveavägen.«
»Verstanden«, meldete Tomas.
»Zielobjekt steigt auf Höhe Rigoletto vom Fahrrad ab.«
Vor der Burger-King-Filiale am Stureplan spielte eine Band. Beide großen Boulevardzeitungen waren vor Ort und verteilten Extrablätter, Fußbälle und – zu Ehren von Kennet Anderssons ikonischer Torjubelgeste – riesige Schaumstoffhandschuhe.
Auf der Suche nach Stig Hoffsten oder einem seiner Kollegen blickte Tomas hinüber zur Kungsgatan, wo die Menschenmenge dichter und dichter wurde.
»Siehst du was?«, fragte er.
»Nicht das Geringste«, antwortete Zingo.
Nach dem Zusammenstoß mit dem Bus hatte Vera die Kollision mit einem Laternenpfahl um Haaresbreite abwenden können. Jetzt fuhr sie im Schritttempo durch das Menschenmeer auf der Kungsgatan.
Vor dem Rigoletto torkelte ein Mann mit nacktem Oberkörper und Wikingerhelm auf dem Kopf vor ihr über die Straße. Sie machte eine Vollbremsung, lenkte den Saab auf die Gegenfahrbahn und wich einer jungen Frau im Bikini und mit blau-gelber Körperbemalung aus. Sigge wurde in seinem Gurt nach vorne geschleudert. Die Kamera rutschte vom Beifahrersitz in den Fußraum.
»Alles in Ordnung?«, rief Vera.
»Du fährst wie ein Henker«, kommentierte Sigge.
Sie lenkte den Wagen an den Straßenrand und streckte sich nach der Kamera. Die Reifen schrammten gegen den Bordstein, und sie zog die Handbremse an, um den Saab zum Stillstand zu bringen.
»Du bleibst hier«, instruierte sie Sigge, während sie rasch ihre Sachen zusammensuchte.
Vera stieg aus, lief die Kungsgatan in Richtung Sveavägen hoch und suchte das Menschenmeer ab. Stig Hoffsten war nirgends zu sehen.
Als sie die Absperrungen am Sveavägen fast erreicht hatte, hörte sie durch den Lärm der Menge eine Jungenstimme rufen. Augenblicklich wusste sie, dass es Sigge war. Panisch drehte sie sich um und sah, wie er einige Meter hinter ihr auf der Straße stand und wild gestikulierend auf etwas vor ihr deutete.
Sie wandte den Kopf wieder in Richtung Sveavägen, wo nichts als gelb gekleidete Menschen zu sehen waren. Vera hatte keine Ahnung, worauf Sigge zeigte.
Ein Mann rempelte sie im Gedränge an. Als sie das Gleichgewicht zurückerlangte, begriff sie, wovor Sigge sie warnen wollte.
Stig Hoffsten war vom Fahrrad abgestiegen und hatte seinen weißen Kapuzenpullover ausgezogen. Jetzt stand er in einem beigefarbenen Unterhemd nur wenige Meter von ihr entfernt und drehte sich langsam zu ihr um.
Sie kämpften sich zum Sveavägen vor; Tomas zuerst, Zingo ein paar Schritte hinter ihm. Sie liefen am Kino Rigoletto vorbei, unter den Brückenbogen hindurch und passierten das Saga-Kino. Das Gedränge wurde immer dichter, der Lärm intensiver. Plötzlich brach lautstarker Jubel aus und pflanzte sich wellenartig durch die Menschenmenge fort. Tomas erhaschte einen Blick auf den Oldtimer-Korso. Drei Spieler winkten vom Rücksitz eines prunkvollen roten Chevrolet. Sie trugen Cowboyhüte und Mannschaftstrikots. Der Abstand war so groß, dass Tomas nicht erkennen konnte, welche Spieler es waren. Hinter ihnen folgte der nächste Wagen. Eine Frau durchbrach die Absperrung und versuchte, sich dem Oldtimer zu nähern. Ein kurzer Tumult entstand, ehe es einem Sicherheitsbeamten gelang, die Frau abzuführen.
Tomas hob das Funkgerät an den Mund.
»Team zwei. Wo seid ihr? Wo befindet sich das Zielobjekt?«
Keine Antwort. Erneut drückte Tomas die Sprechtaste und wiederholte die Frage. Ein paar Meter vor sich entdeckte er Vera Berg. Sie starrte wie gebannt auf etwas in ihrer unmittelbaren Nähe. Tomas versuchte zu erkennen, was es war. Da entdeckte er Stig Hoffsten, der dem Autokorso den Rücken zuwandte und Vera Berg anblickte. Er hatte sie eindeutig erkannt.
»Scheiße«, fluchte Tomas.
Stig Hoffsten ließ sein Fahrrad zu Boden fallen und floh, weg von Vera Berg.
Einen Moment lang stand Tomas wie festgewachsen da, dann setzte er Hoffsten nach.
»Polizei!«, brüllte er. »Stehen bleiben!«
Stig Hoffsten war vom Sveavägen verschluckt worden. Von Norden her brandete Jubel durch die Menschenmassen, die die Straßen säumten. Kurz darauf rollte ein Oldtimer mit zwei Fußballhelden vorbei, die Vera nicht kannte.
Ein Stück entfernt entdeckte sie Tomas Wolf, der Funkkontakt zu seinen Kollegen aufzunehmen versuchte. Offensichtlich hatte auch die Polizei Hoffsten aus den Augen verloren.
Sigge kam zu ihr gerannt und warf sich in ihre Arme. Sie hob ihn hoch und drückte ihn fest an sich. Vor einer Minute war sie überzeugt gewesen, dass Hoffsten sie angreifen würde, dass das Spiel aus wäre. Dass er erst ihr und dann Sigge etwas antun würde. Doch stattdessen war er geflohen, hatte die gelbe Menschenmauer durchbrochen und war im Festzug verschwunden.
»Entschuldigung, dass ich gesagt habe, Papa soll hier sein«, schluchzte Sigge.
»Klar willst du, dass Papa hier ist«, sagte Vera. »Deswegen musst du dich nicht entschuldigen.«
»Ich dachte, der Mörder würde dich töten.«
»Ich sterbe nie, Großer.«
Vera vergrub das Gesicht in Sigges Haar. Dann zwang sie sich dazu, sich zusammenzureißen.
Sie blickte sich nach Tomas Wolf um, doch er war nicht mehr da. Sie musste sich ein eigenes Bild der Lage verschaffen.
Vera sah hinunter zum Stureplan. Hoffsten war verschwunden, aber vielleicht lieferte seine bisherige Route einen Hinweis darauf, wohin er unterwegs gewesen war. Sie war überzeugt, dass er nichts von der Verfolgungsjagd geahnt hatte, bevor er sie entdeckt und die Flucht ergriffen hatte. Bis zu dem Moment war er seinen gewohnten Weg gefahren. Die Straßen, die er bis hierher gewählt hatte, führten an sein Ziel, sie waren kein Täuschungsmanöver.
Der Sveavägen gehörte noch zu seiner üblichen Route.
Aber wie ging sie weiter?
Vera schloss die Augen und orientierte sich auf einem mentalen Stadtplan. Der Sveavägen führte in Richtung Norrtull. Hätte Hoffsten nach Norden gewollt, wäre er nicht so früh vom Karlavägen abgebogen, und weil der Sveavägen in Richtung Sergels torg gesperrt war, konnte er sich auch nicht nach links gewandt haben, nachdem er im Gedränge verschwunden war.
Es gab nur einen Weg, den er genommen haben konnte.
Vera öffnete die Augen, spürte, wie ihre Anspannung wuchs, und schob Sigge in Richtung Auto vor sich her. Hoffsten hatte den Sveavägen überqueren und die Kungsgatan nehmen wollen. Das war von vornherein sein Plan gewesen. Er war auf dem Weg nach Kungsholmen.
Doch was gab es da?
Sie durchforstete ihre Erinnerung, suchte nach Spuren in Stig Hoffstens Leben, die dorthin führten. Aber sie wusste zu wenig über ihn. Das Einzige, was ihr einfiel, war ihre eigene Wohnung in der Pilgatan.
Ein Gedanke schwebte unmittelbar an der Grenze ihres Bewusstseins. Sie wusste, dass er da war, bekam ihn aber nicht zu fassen.
Sie erreichten das Auto. Sigge öffnete die Tür auf der Beifahrerseite, klappte den Vordersitz zurück und kletterte auf die Rückbank. Vera setzte sich hinters Lenkrad. Ihr Blick fiel auf das Papierchaos im Fußraum des Beifahrersitzes. Ihre Recherchemappe war während der Verfolgungsjagd vom Sitz gerutscht, und die Seiten lagen auf dem Boden verteilt.
Wir nähern uns dem Endpunkt, dachte sie. Hoffsten ist entlarvt. Er ist verzweifelt. Wohin geht man da?
Sie holte tief Luft. Schloss die Augen.
An die Wurzel, dachte sie.
Zurück an den Anfang.
Mia Gustavsson.
Der Gedanke, der die ganze Zeit millimeterweit außer Reichweite geschwebt hatte, stand plötzlich glasklar vor ihr. Vera drehte den Zündschlüssel um. Der Motor sprang stotternd an, sie legte den ersten Gang ein und wendete.
Jetzt zählte jede Minute.
Um 17:16 Uhr am Sonntag, den 18. Juli, nahm Vera ihr Handy in die Hand und wählte Micael Bratts Nummer. Die Verbindung kam zustande, und er meldete sich nach dem vierten Klingeln. Im selben Moment bog Vera in die Birger Jarlsgatan ein, jede Sekunde überzeugter, dass sie wusste, wo Stig Hoffsten sich verborgen hielt.
Während Tomas sich durch die dicht gedrängte Menge zum Sveavägen vorkämpfte, funkte er seine Kollegen an.
»An alle Einheiten. Das Zielobjekt hat uns entdeckt und überquert in diesem Moment den Sveavägen.«
Er duckte sich unter der Absperrung hindurch und sprintete zwischen zwei Oldtimern über die Straße.
»Wir müssen ihn jetzt schnappen. Nehmt ihn unverzüglich fest, wenn sich die Möglichkeit bietet.«
Er hörte, dass die Teams antworteten, konnte jedoch nicht verstehen, was sie sagten.
Ein Sicherheitsbeamter versuchte, ihn aufzuhalten, doch es gelang ihm, die Absperrungen auf der anderen Straßenseite zu erreichen. Suchend blickte er sich nach Stig Hoffsten um, aber er war verschwunden, verschluckt vom gelben Menschenmeer. Er lief weiter in Richtung Hötorget, als ihm plötzlich jemand eine Hand auf die Schulter legte. Er fuhr herum und blickte in das rotverschwitzte Gesicht eines hünenhaften Sicherheitsbeamten.
»Ich bin Polizist!«, schrie Tomas, aber seine Worte gingen im ohrenbetäubenden Jubel unter.
Er stieß den Sicherheitsbeamten zur Seite, zückte seinen Dienstausweis und hielt ihn dem aufgebrachten Mann unter die Nase. Der Mann entschuldigte sich. Tomas wandte sich wortlos um, schob sich grob zwischen ein paar Fans hindurch, die ihn unflätig beschimpften, und hastete die Treppe zur U-Bahn-Station Hötorget hinunter, um sicherzugehen, dass Stig Hoffsten nicht dorthin geflüchtet war. Die unterirdischen Luftzüge kühlten angenehm auf der Haut.
Der Fahrkartenkontrolleur am Schalter, ein Mann mit dunklem Haarkranz auf dem Schädel, las in einer Ausgabe des Expressen .
»Ist ein Mann um die fünfzig in einem weißen Kapuzenpullover oder einem beigen Unterhemd hier durchgekommen?«, fragte er.
Der Fahrkartenkontrolleur sah ihn teilnahmslos an und zuckte mit den Schultern.
»Wenn, dann ist er über das Drehkreuz gesprungen.«
Tomas war im Begriff, die Kollegen anzufunken, damit einer von ihnen den Bahnsteig kontrollierte, als ihm einfiel, dass er hier unten keinen Empfang hatte. Er lief die Stufen wieder hinauf. Hitze schlug ihm entgegen. Unschlüssig blieb er auf der Straße stehen. Am Himmel kreiste ein Hubschrauber. Das Gedränge begann sich zu lichten. Der letzte Oldtimer musste vorbeigefahren sein. Die Fans zogen in Richtung Kungsholmen zu der großen Bühne im Rålambshovspark. Zählungen zufolge befanden sich fast hunderttausend Menschen in der Stadt. Und die Veranstalter rechneten mit zehntausend Fans, die die Fußballhelden im Park in Empfang nehmen würden.
Wenn Hoffsten geistesgegenwärtig genug war, sich bei einem der zahlreichen Verkäufer an den Straßenrändern ein Fußballtrikot zu kaufen, würden sie ihn nie finden. Er würde ihnen durch die Maschen schlüpfen, sich in sein Versteck zurückziehen, und dann würde es Tage, wenn nicht Wochen dauern, bis sich ihnen eine neue Chance böte.
Tomas verfluchte sich innerlich dafür, dass sie ihn nicht gefasst hatten. Sie waren so dicht dran gewesen. Jetzt war es zu spät.
»Alle Einheiten zum Rålambshovspark«, instruierte er. »Gebt Hoffstens Personenbeschreibung an jeden Kollegen weiter, den ihr unterwegs trefft. Team vier, seht zu, dass ihr ins Präsidium kommt. Wir brauchen Kopien von seinem Passfoto. Jeder Polizist, der heute in Stockholm auf den Beinen ist, bekommt ein Exemplar, um uns zu helfen. Habt ihr verstanden?«
Vera fuhr vor dem Riche über eine rote Ampel und bog rechts in die Hamngatan ein. Sie hatte vor, über Södermalm zu fahren und so die Absperrungen zu umgehen, die wegen des Autokorsos der Nationalmannschaft zum Rålambshovspark errichtet worden waren. Stig Hoffsten verbarg sich irgendwo auf Kungsholmen. Davon war sie überzeugt.
In der Leitung knisterte es.
»Wo haben Sie und Mia Gustavsson gevögelt?«, fragte sie Bratt ohne jede Vorrede.
Sie klemmte das Handy zwischen Schulter und Ohr und schaltete in den zweiten Gang. Im Rückspiegel sah sie, dass Sigge die Augenbrauen hochzog.
»Vera, sind Sie das?«, erwiderte Bratt. »Sie können doch nicht ernsthaft erwarten, dass ich auf Ihre Fragen antworte, nachdem Sie mich an die Bullen verpfiffen haben? Ich habe wegen Ihnen in Untersuchungshaft gesessen, verflucht noch mal.«
»Umarmen und versöhnen können wir uns später. Das hier ist wichtiger. Denken Sie nach, Micael. Wo haben Sie beide miteinander geschlafen?«
»Das ist zwanzig Jahre her. Wie zum Teufel soll ich mich an die Adresse erinnern?«
»In Ihrem Sommerhaus haben Sie mir erzählt, dass es in einer Gartenlaube gewesen ist. Lag diese Laube auf Kungsholmen?«
»Ja.«
Ihre Erinnerung hatte sie nicht im Stich gelassen. Sie fuhr auf einen der Busparkplätze am Schloss, nahm das Handy in die Hand und sprach den Gedanken, der ihr im Kopf herumspukte, zum ersten Mal laut aus.
»Alles deutet darauf hin, dass Hoffsten Mia entführt hat. Ich glaube, dass er sie in der Laube festhält. Ich muss sofort dahin. Versuchen Sie, sich an den Weg zu erinnern. Sie haben sich doch bestimmt währenddessen an ihr aufgegeilt. An irgendetwas müssen Sie sich erinnern.«
Sigge setzte seinen Kopfhörer auf und schaltete seinen Walkman an. Sein Gesicht war rot wie eine Tomate.
»Ja«, sagte Bratt zögernd.
Er schien nachzudenken.
Vera nahm einen Stockholm-Stadtplan aus dem Handschuhfach und breitete ihn auf dem Schoß aus.
»Stadshagen«, fuhr Bratt nach einer Weile fort. »Wir sind mit der blauen U-Bahn-Linie nach Stadshagen gefahren. Von da war es nicht mehr weit. Wir sind nur runter ans Wasser gegangen.«
Vera fuhr mit dem Finger über den Stadtplan. Am untersten Zipfel von Kungsholmen lag Hornsbergs Strand. Dort gab es ein Naherholungsgebiet, direkt unterhalb der U-Bahn-Station.
»Könnte es Hornsbergs Strand gewesen sein?«
»Ja, richtig. So hieß es.«
Mit dem Finger zeichnete sie den Weg nach, den Hoffsten gefahren war. Karlavägen, Sturegatan, Kungsgatan. Das war mit dem Rad die kürzeste Strecke von der Videothek zum Hornsbergs Strand. Das muss sein Ziel gewesen sein, dachte Vera. Die Frage war nur, ob er seinen Plan geändert hatte, nachdem er gemerkt hatte, dass sie ihm auf den Fersen waren. Und was würde jetzt mit Mia Gustavsson geschehen?
»Was ist mit der Laube. Wie finde ich die?«
»Was weiß ich, sie war gelb.«
»Erinnern Sie sich an irgendein auffälliges Detail?«
»Soweit ich weiß, war es die einzige gelbe Laube, und sie hatte zwei Zimmer. Die meisten Lauben sind nicht größer als ein Schuhkarton.«
»Danke.«
Vera legte auf und wählte die Nummer von Tomas Wolfs Autotelefon, doch dann ging ihr auf, dass er wohl kaum im Auto saß. Sie wählte die Handynummer seines Kollegen Zingo. Aber die Verbindung kam nicht zustande. Das Netz am Sveavägen musste überlastet sein.
Sie sah auf die Uhr. Es konnten nicht mehr als zehn Minuten vergangen sein, seit Hoffsten im Gedränge am Sveävägen untergetaucht war. Sein Fahrrad hatte er in der Kungsgatan zurückgelassen. Die Polizei war ihm auf den Fersen. Auf Kungsholmen wimmelte es von Beamten. Selbst mit einem gestohlenen Rad würde er mindestens zwanzig Minuten zur Schrebergartenkolonie brauchen. Sollte Hoffsten sie wirklich dort gefangen halten, war Mia Gustavsson momentan vermutlich alleine in der Laube.
Vera konnte sie noch immer retten.
Sie erwog, die 90 000 zu wählen. Aber was sollte sie sagen? Und wie lange würde es dauern, bis die Polizei aufgrund eines vagen Verdachts ausrückte?
Erneut wählte sie die Handynummer von Wolfs Kollegen Zingo. Danach Wolfs Anschluss im Präsidium. Mehrmals. Die Klingelzeichen schienen kein Ende zu nehmen. Dann sprang der Anrufbeantworter an.
»Scheiße.«
Vera sprach eine Nachricht aufs Band, informierte Wolf, wohin sie wollte und warum. Dann legte sie den ersten Gang ein und fuhr auf die Skeppsbron.
Sie musste vor Hoffsten in der Schrebergartenkolonie sein.
Tomas hatte am Rand des Rålambshovspark drei uniformierte Beamte um sich versammelt.
Ein Stück entfernt, am Riddarfjärden, lief Zingo mit dem Handy am Ohr wütend auf und ab.
Sie hatten die Operation in den Sand gesetzt. Jetzt galt es, das Fiasko in etwas Konstruktives umzumünzen und aus dem Polizeigroßaufgebot vor Ort Nutzen zu ziehen.
»Sie müssen jeden Moment hier sein«, informierte er die drei Beamten.
Auf der Bühne rief der Moderator Martin Dahlins Namen ins Mikrofon, der daraufhin an den Rand der Bühne tänzelte und den Frauen in der ersten Reihe Kusshände zuwarf.
In diesem Augenblick hielt neben ihnen ein Streifenwagen, ein Beamter kurbelte das Fenster herunter und reichte einen Stoß Kopien von Stig Hoffstens Passfoto heraus.
Tomas nahm den Stapel entgegen, teilte ihn in drei kleinere und reichte sie an die drei Polizisten weiter.
»Verteilt die Fotos an jeden Polizeibeamten und Ordner, der heute hier arbeitet, und weist sie darauf hin, dass Hoffstens Personenbeschreibung, die wir vorhin ausgegeben haben, nicht mehr stimmen muss. Er hat höchstwahrscheinlich die Kleidung gewechselt. Er muss unverzüglich festgenommen werden.«
Er wandte sich an eine junge Polizeibeamtin, die er nicht kannte, die aber einen kompetenten Eindruck machte.
»Ich möchte, dass Sie das Bild jedem Händler zeigen, der Schwedentrikots verkauft. Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass unser Täter ein Trikot gekauft oder gestohlen oder sich irgendeine andere Verkleidung zugelegt hat. Viele der Händler verkaufen gefälschte Ware. Machen Sie ihnen klar, dass uns das nicht interessiert. Sonst könnte es schwierig sein, Informationen von ihnen zu bekommen.«
Die Beamtin nickte.
»Und fragen Sie die Ordner, ob ein Fahrraddiebstahl gemeldet wurde. Falls ja, lassen Sie sich die Personenbeschreibung geben.«
Tomas klatschte in die Hände.
»Okay, an die Arbeit.«
Die Polizisten teilten sich auf und verschwanden im gelben Fanmeer.
Zingo kam mit hochrotem Gesicht zurück.
»Ich habe mit TV2 telefoniert. Sie haben unsere Pressestelle angerufen und wollten Informationen über den Mann, der am Sveavägen die Absperrungen durchbrochen hat. Aber als ich darum gebeten habe, ihre Kamerabilder zu sehen, um festzustellen, wohin Hoffsten verschwunden ist, hat man mir eine Abfuhr erteilt. Das sei ein ›Verstoß gegen die journalistische Integrität‹«, sagte er mit kindischem Unterton in den letzten Worten. »Wir müssen uns also bis zu den Spätnachrichten gedulden, wenn wir den Fluchtweg unseres Täters erfahren wollen.«
Tomas zwang das Gefühl der Erschöpfung beiseite, das sich in ihm ausbreitete.
»Hinter der Bühne steht ein Übertragungswagen von TV2«, fuhr Zingo fort. »Vielleicht können wir sie dazu bringen, uns die Aufnahmen zu zeigen. Und diese Reportertussi hat angerufen, aber dafür haben wir jetzt keine Zeit.«
Sie tauchten in die gelbe Menschenmasse ein, Tomas zuerst, Zingo hinterdrein. Zwei missmutige Männer im Freudenmeer.
Und irgendwo inmitten Tausender feiernder Menschen: ein Serienmörder auf verzweifelter Flucht.
Die gelbe Laube lag, umgeben von roten Schrebergartenhäuschen, am Ende eines begrünten Kieswegs.
Die Laube wirkte verlassen. Die Fensterläden waren geschlossen, der vertrocknete Rasen stand hoch. Die Beete waren verwildert. An der Hauswand schien ein in der Hitze verwelkter Rosenbusch kurz vor dem Zerfall zu sein.
Vera schaute über die Schulter den ausgestorbenen Kiesweg entlang. Hoffsten konnte jeden Augenblick zurückkommen. Sie hatte Sigge im Auto zurückgelassen, die halbe Rückbank zurückgeklappt, ihn dahinterkriechen lassen und ihm gesagt, er solle sich im Kofferraum verstecken. Doch jetzt war sie sich nicht mehr sicher, ob diese Vorsichtsmaßnahme ausreichte.
Sie musste sich beeilen.
Vera kletterte über den weißen Lattenzaun. Die Jeans kniffen im Schritt, und das T-Shirt klebte ihr am Rücken. Die Luft war heiß und stickig wie kompakter Rauch.
Vom Rålambshovspark schwappte wellenförmiger Jubel zu ihr herüber, gefolgt von einer durchdringenden Moderatorenstimme, deren Worte nicht zu verstehen waren. Die Bronzehelden mussten die Bühne betreten haben. Aufbrandende Hurrarufe ließen sie zusammenzucken.
Sie suchte im Gras nach Fußspuren. Vom Gartentor zur Vordertür der Laube verlief ein schmaler Trampelpfad.
Jemand war hier gewesen. Die Frage war nur, ob die Spuren entstanden waren, als Hoffsten die Laube verlassen hatte, oder ob er vor ihr zurückgekommen war.
Vorsichtig schlich sie zur Tür und drückte die Klinke herunter. Die Tür war abgeschlossen. Sie öffnete den Fensterladen neben der Vordertür und spähte ins Innere der Laube, konnte jedoch keine Bewegung ausmachen. Auf der Vordertreppe lag ein Stein, ein Türstopper, wie es schien. Er war mit einem Marienkäfer bemalt, dessen Farben im Lauf der Jahre abgeplatzt waren.
Neuer Jubel vom Rålambshovspark durchschnitt die Luft. Er schien kein Ende nehmen zu wollen, bis er im Intro von »Wenn wir in den USA nach Gold graben« unterging.
Vera schlug mit dem Stein die Fensterscheibe ein, entfernte die gröbsten Scherben vom Rahmen, griff um die Ecke und entriegelte die Vordertür. Als sie die Hand zurückzog, schnitt sie sich an einem Splitter. Blut tropfte über ihren Handrücken. Im Park begann die Band GES zu singen.
Vera öffnete die Tür und ging hinein. In der dunklen Laube war es, falls möglich, noch wärmer als draußen. Der saure Geruch eines menschlichen Körpers schlug ihr entgegen. Sie lauschte nach Geräuschen, hörte aber nur die Musik. Eine Wespe umschwirrte sie. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit.
Auf einmal hörte sie einen erstickten Jammerlaut und entdeckte die Frau, die in dem engen Raum gefesselt vor dem Sofa lag. Sie musste versucht haben, sich zu befreien, und dabei heruntergefallen sein. Ihr Blick war voller Panik, ihr Mund mit Klebeband verschlossen. Obwohl Vera sie nicht von dem Foto aus ihrer Schauspielschulzeit wiedererkannte, wusste sie, dass es Mia Gustavsson war.
Einen Moment lang stand sie wie erstarrt da, dann stürzte sie zu Mia, ging vor ihr in die Hocke und riss ihr das Klebeband von den Lippen.
»Alles wird gut«, sagte sie.
Wohl auch und vor allem zu ihrer eigenen Beruhigung.
Im selben Moment, als sie Mia Gustavsson eine Hand an die Wange legte, verdunkelte ein Schatten den Raum. Im nächsten Augenblick kehrte das Licht zurück. Mia Gustavssons verzweifelter Blick verriet Vera, was sich hinter ihr abspielte. Jemand hatte den Lichteinfall von der Tür blockiert.
Ihr Kopf schnellte herum, und sie musste sich am Sofa festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Hinter ihr stand ein Mann im Schwedentrikot. Er machte eine rasche Handbewegung, und etwas Helles blitzte im Dunkeln auf.
Vera begriff, dass er ein Küchenmesser von der Anrichte unweit der Tür genommen hatte.
Sie drehte sich um und versuchte, auf die Füße zu kommen, als der Mann einen Schritt auf sie zumachte und das Licht vom Fenster auf sein Gesicht fiel.
Zum ersten Mal schienen Stig Hoffstens tote Augen zum Leben zu erwachen.
Hoffsten hatte sie mühelos übermannt.
Mit dem Küchenmesser in der Hand hatte er ihr befohlen, sich bäuchlings auf den Fußboden zu legen, hatte ihr die Arme auf den Rücken gedreht und ihre Handgelenke mit Klebeband gefesselt, während Mia Gustavsson vor Panik geschrien hatte.
Das graue Isolierband schnitt ihr ins Fleisch, als Hoffsten sie auf die Füße zerrte und aufs Sofa stieß.
Im Fallen bogen sich ihre Arme nach hinten, und Vera spürte, wie es in ihrer Schulter gefährlich laut knackte. Der aufflammende Schmerz ging in ein Taubheitsgefühl über, als wäre ihr rechter Arm vom Körper abgetrennt.
Hoffsten ließ Mia Gustavsson am Boden liegen und begann, in der engen Laube rastlos auf und ab zu laufen. Vera sah, dass er Selbstgespräche führte. Seine schmalen Lippen bewegten sich unaufhörlich. Aber die Geräuschkulisse vom Rålambshovspark machte es unmöglich, zu verstehen, was er sagte.
Er schien irgendeinen Plan zu wiederholen, den er sich zurechtgelegt hatte.
Hatte Hoffsten ihr Auto entdeckt? Und Sigge in seinem Versteck? Sie konnte ihn schlecht fragen.
Suchend blickte sich Vera nach etwas um, mit dem sie sich befreien könnte. Doch sie wusste, dass es sinnlos war. Selbst wenn sie ein geeignetes Werkzeug in die Finger bekäme, würde Hoffsten ihren Versuch vereiteln. Das Klebeband war zu dick. Es zu zerschneiden würde bestimmt eine Minute dauern.
Sie richtete sich im Sofa ein wenig auf, versuchte, durch den geöffneten Fensterladen zu blicken.
Ihre einzige Hoffnung war, dass jemand vorbeikam und sie um Hilfe rufen konnte. Warum auch immer hatte Hoffsten ihr nicht den Mund zugeklebt.
Aber solange aus dem Rålambshovspark die Musik der Siegesfeier der Bronzehelden herüberdröhnte, würde niemand sie hören. Ihre Hilferufe würden mit dem Jubel, der über die Stadt gellte, verschmelzen.
Sie rieb ihre Handgelenke aneinander, um das Klebeband zu lockern.
»Sitz still«, blaffte Hoffsten, warf ihr einen gereizten Blick zu und wandte sich dann wieder ab. Er schien auf etwas zu horchen. Vera spürte seine Anspannung.
Sie schöpfte neue Hoffnung. Hielt sich ein Nachbar in der Nähe der Laube auf? Oder hatte Tomas Wolf sich endlich bequemt, ihr zu Hilfe zu kommen?
Sobald sie sicher war, dass jemand in der Nähe war, würde sie schreien. Sie hatte nur eine Chance. Sie würde sich auf den Bauch rollen und aus Leibeskräften schreien. Dann musste Hoffsten sie erst wieder auf den Rücken drehen, ehe er sie zum Schweigen bringen konnte.
Vera machte sich bereit. Wenn sie sich zu Boden warf, hätte Hoffsten noch mehr Mühe, sie wieder ruhigzustellen.
Hoffsten trat ans Fenster und spähte hinaus. Vera spannte die Beine an, wappnete sich und versuchte, einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Irgendetwas war dort draußen, aber sie konnte nicht erkennen, was.
Dann sah sie, dass Hoffsten lächelte.
Die Stufen der Vordertreppe knarrten.
Im selben Moment hörte sie eine vertraute Stimme.
»Vera? Hallo?«
Alles in ihrem Innern stürzte ein. Jeder Muskel gab auf. Sie sank im Sofa zusammen.
Im nächsten Moment tauchte Sigge im engen Flur auf. Er schob seine Jurassic-Park-Kappe aus der Stirn und blickte unsicher auf das Messer in Stig Hoffstens Hand.
»Wenn wir in den USA nach Gold graben« schallte über das wogende gelbe Menschenmeer. Aber Tomas hatte keinen Blick für Brolin, Dahlin, Ingesson, Ravelli und die anderen Spieler auf der Bühne. Er ging am Absperrgitter entlang, vorbei an den braun gebrannten jungen Leuten, die die Fußballhelden, die ihnen einen Sommer beschert hatten, an den sie sich ihr Leben lang erinnern würden, mit leuchtenden Augen anstrahlten. Doch mitten unter ihnen befand sich auch etwas anderes. Ein gefährlicher Mann, dessen Motiv noch immer im Dunkeln lag, der jedoch ermordete und zu Tode verängstigte Frauen, trauernde Familien und verzweifelte Eltern hinterließ. Tomas und Zingo begaben sich in die Fanmenge.
»Es sollen zwischen fünfundsechzig und achtzigtausend Menschen im Park sein«, sagte Zingo.
Tomas’ Resignation wuchs.
Es gab keine Möglichkeit, die Fahndung zu strukturieren. Sie bewegten sich auf gut Glück durch die Massen, in der Hoffnung, irgendwo Stig Hoffstens Gesicht zu entdecken. Das war inakzeptabel. Sie ließen sich vom Zufall leiten.
Er dachte an Vera Berg. Wo steckte sie? War sie auch hier im Park? Wann hatte er sie zuletzt gesehen? Das musste im Sveavägen gewesen sein, als Hoffsten zwischen den Oldtimern hindurch über die Straße gelaufen und entkommen war.
Er packte Zingo an der Schulter.
»Hast du dein Handy dabei?«, schrie er.
Zingo schüttelte den Kopf und machte ihm ein Zeichen, dass er ihn nicht verstanden hatte. Tomas formte mit der Hand einen Telefonhörer. Zingo griff in seine Hosentasche und gab ihm das Handy. Tomas wählte Vera Bergs Nummer, die er auswendig gelernt hatte, presste das Telefon ans Ohr und schirmte das andere mit der Hand ab. Er hörte nichts. Die Bässe ließen seinen Körper vibrieren.
»Ich gehe ein Stück weg«, schrie er Zingo zu.
»Was?«
»Ich muss hier weg. Ich kann hier nicht telefonieren«, schrie er und deutete in Richtung Västerbron.
Er kämpfte sich durch die Menschenmasse, die lichter wurde, je weiter er sich von der Bühne entfernte. Trotzdem spürte er Panik in sich aufsteigen. Er fasste sich an die Brust und stolperte weiter, runter ans Ufer, wo Kajaks aufgereiht am Strand lagen. Der Verleih hatte geschlossen, der Betreiber stand wahrscheinlich irgendwo in der jubelnden Menge. Zwei Luftballons schwebten am Himmel über Långholmen. Tomas versuchte, sich zu sammeln, und wählte erneut Vera Bergs Nummer. In der Leitung tutete es, ohne dass sie abnahm. Ihre Mailbox sprang an. Er sprach ihr eine gehetzte Nachricht aufs Band, der Druck auf seiner Brust verstärkte sich. Hatte er keine Tabletten dabei? Tomas tastete seine Taschen ab. Er musste sich beschäftigen, sich vom Abgrund fernhalten. Er griff wieder zum Telefon und wählte die Nummer seines Dienstanschlusses im Präsidium, um seinen Anrufbeantworter abzuhören. Er hatte eine neue Nachricht – von Vera Berg. Als er ihre Stimme hörte, presste er das Handy dichter ans Ohr, um zu verstehen, was sie sagte.
»… eine gelbe Laube in der Schrebergartenkolonie, vermutlich am Hornsbergs Strand. Ich fahre jetzt dahin.«
Fort. Er musste fort.
Tomas schloss die Augen, folgte einem mentalen Stockholmer Stadtplan. In Stadshagen gab es mehrere Schrebergartenkolonien. Die musste sie gemeint haben. Tomas blickte zurück zum Park und hielt nach Zingo Ausschau. Aber es war zwecklos. Er griff zum Funkgerät und funkte die Kollegen an, bekam jedoch keine Antwort. Niemand hörte ihn. Der Lärm war zu groß. Seine Unruhe wuchs. Irgendetwas hatte er übersehen. Nur was? Er fand keinen Zusammenhang. Hatte es mit Micael Bratt zu tun? Er glaubte es, war sich aber nicht sicher. Einen Moment lang blieb er unschlüssig stehen, dann wandte er sich um und lief zur Treppe, die auf die Lilla Västerbron hinaufführte. Abseits der Menschenmenge fiel ihm das Atmen leichter. Auf der Brücke begann er in Richtung Stadshagen zu laufen, die Bässe vom Rålambshovspark begleiteten ihn.
Auf Höhe des Sankt-Görans-Krankenhauses funkte er die Kollegen erneut an, bekam aber auch diesmal keine Antwort.
In der engen Laube war es unerträglich stickig. Veras Kehle fühlte sich so eng wie ein Strohhalm an. Unter dem T-Shirt brach ihr der kalte Schweiß aus.
Hoffsten hatte Sigge gezwungen, sich neben sie aufs Sofa zu setzen, hatte ihn an Händen und Fußgelenken mit einem Seil gefesselt und seinen Mund mit Klebeband verschlossen. Verzweifelt versuchte das Kind, durch die Nase zu atmen.
Hoffsten lehnte an der Küchenanrichte. Das Schwedentrikot war ihm zu groß und beulte an den Schultern aus. Auf Brust und Rücken leuchteten Schweißflecken. Er blickte auf die Mora-Standuhr an der Wand und schien nachzudenken.
Mia Gustavsson lag vor ihnen am Boden und schwebte von einer Ohnmacht in die nächste. Vera ahnte, dass Hoffsten sie unter Drogen gesetzt hatte.
»Wo sind deine Autoschlüssel?«, fragte er.
Als Vera keine Antwort gab, nahm er das Messer von der Anrichte und ging seelenruhig auf Sigge zu. Der Junge keuchte auf, als Hoffsten ihm die Klinge an die Wange hielt.
»Ich brauche die Schlüssel und dein Handy«, sagte er und sah sie durchdringend an.
Sigge drückte sich an sie, versuchte, so weit weg wie möglich vom Messer zu kommen.
Hoffsten presste die Spitze tiefer in seine Haut.
»Hören Sie auf«, flehte Vera.
»Die Schlüssel und das Handy. Wo sind sie?«
Vera deutete mit dem Kopf auf ihre Beine.
»Die Schlüssel sind in meiner Hosentasche. Das Handy liegt im Auto.«
Hoffsten schob die Hand in Veras Hosentasche, das Messer unverändert an Sigges Wange, und zog den Schlüssel des Saab hervor.
Dann nahm er die Messerspitze von Sigges Wange, der zusammensackte und sich fest an Vera schmiegte.
Hoffsten trat einen Schritt zurück und betrachtete sie.
»Die große Party im Rålambshovspark ist bald zu Ende. Ich wechsele die Nummernschilder an deinem Auto aus, lege den Jungen in den Kofferraum, und dann fahren wir. Wir sind auf der Autobahn, bevor sich die Blechlawinen bilden, und tauchen im Chaos unter.«
Sigge zitterte unkontrolliert an ihrer Schulter. Hoffsten hob eine kleine Sporttasche vom Boden auf und stellte sie auf die Küchenanrichte.
»Dich und Mia lasse ich hier. Von unterwegs rufe ich mit deinem Handy die Polizei an und sage ihnen, dass ich mich stellen will und wo ich bin. Wenn sie zur Laube kommen, sind wir schon halb in Södertälje. Die Bullen werden so damit beschäftigt sein, eure Leichen zu sichern, dass ihnen gar nicht auffällt, dass der Knirps auch hier war.«
Hoffsten warf ihr einen prüfenden Seitenblick zu, wie um die Wirkung seiner Worte zu testen. Dann nahm er einen Schraubenzieher aus einer Küchenschublade, steckte ihn zusammen mit dem Autoschlüssel in die Sporttasche und packte zwei Wasserflaschen dazu. Das Messer hatte er auf die Anrichte gelegt.
Vera wusste, dass sie Hoffsten dazu bringen musste, weiterzureden. Jedes Wort erhöhte die Chance, dass sie und Sigge überlebten. Tomas Wolf würde ihre Nachricht auf dem Anrufbeantworter abhören und herkommen. Die Frage war nur, wann. Und ob es dann zu spät wäre.
Sie wagte einen Schuss ins Blaue.
»Ich weiß, warum wir hier sind. Ich weiß von Micael und Mia. Was in dieser Laube zwischen ihnen geschehen ist.«
Jedes Wort, das ihren Mund verließ, war mit Angst behaftet. Sie hatte keine Ahnung, wie Hoffsten reagieren würde. Aber er hatte einen Fehler gemacht, als er ihr zu verstehen gegeben hatte, dass er Sigge auf seiner Flucht als Geisel benötigte. Jetzt wusste sie, dass er nicht vorhatte, ihm etwas anzutun. Zumindest nicht hier.
»Aber was ich nicht verstehe, ist, warum Sie zwanzig Jahre gewartet haben«, fuhr sie fort.
Hoffsten griff nach dem Messer und ging mit entschlossenen Schritten auf sie zu. Vera zuckte zusammen. Das Klebeband schnitt schmerzhaft in ihre Handgelenke. Ihre Arme bogen sich nach hinten, und ihr Schultergelenk knackte erneut.
Hoffsten schlug Sigge die Kappe vom Kopf und packte ihn bei den Haaren. Sigge schrie auf und trat um sich. Hoffstens Verhalten war erschreckend unberührt.
»Du weißt gar nichts«, sagte er und ließ Sigge los, der unsanft aufs Sofa zurückfiel.
Hoffsten wies mit der Messerspitze auf ihn. Veras krampfhaft beherrschte Miene zerbrach. Sie begann, hemmungslos zu weinen, hatte nichts mehr entgegenzusetzen.
»Warum tun Sie das?«, fragte sie verzweifelt.
Hoffsten schüttelte den Kopf und nahm das Messer herunter.
»Weißt du, wie es sich anfühlt, ausgelacht zu werden? Oder nicht einmal gesehen zu werden?«
Er begann, wieder auf und ab zu laufen.
»Leute von deiner Sorte gehen durchs Leben, ohne einen Schimmer davon zu haben, was für eine Macht ihr habt, und treten andere Leute mit Füßen. Leute wie mich.«
»Ich dachte, es geht um Micael Bratt«, presste Vera hervor.
Hoffsten schnaubte und sah sie an, als hätte sie rein gar nichts verstanden.
»Micael … Er hat mein Leben zerstört. Aber er spielt euer Spiel mit.«
»Unser Spiel?«
»Von euch Frauen. Ihr spielt die Opfer, obwohl ihr es seid, die bestimmen, wie die Welt aussieht. Männer wie Micael lasst ihr mit Diplomatenkennzeichen durchs Leben reisen, seht ihnen alles nach. Männer wie mich schaut ihr nicht mal an. Und wenn, dann mit Ekel im Blick.«
Vera versuchte, ihre Tränen an der Schulter zu trocknen. Sie musste Hoffstens Redefluss ausnutzen.
»Aber warum dann die Slips?«
»Die erste Frau habe ich in Västerås getötet. Das war ein Versehen. Ich wollte ihr nur die Kehle zudrücken, damit sie aufhört, sich zu wehren, aber plötzlich war sie tot.«
Veras Hoffnung bekam neue Nahrung. Sie musste Hoffsten am Reden halten, bis ihnen jemand zu Hilfe kam.
»Wie ging es weiter?«
»Ich geriet in Panik, bin zum Zug gelaufen. Habe mich auf der Toilette übergeben. Aber ich wusste gleich, dass ich es wieder tun würde. Irgendetwas in mir hatte sich geöffnet. Doch das Risiko, dass die Bullen mir auf die Schliche kommen würden, wurde täglich größer. Ich musste mich schützen.«
»Und da wollten Sie Micael drankriegen?«
»Nicht sofort. Zuerst wollte ich meine Spuren nur großräumig verteilen. Du weißt, dass die Polizei nicht über Bezirksgrenzen hinweg zusammenarbeitet, oder? Es ist ein Kinderspiel, ihnen durch die Maschen zu schlüpfen. Ich musste nur in Bewegung bleiben, mir meine Opfer in verschiedenen Landesteilen suchen. Niemand hat eins und eins zusammengezählt. Aber dann fiel mir Micael ein. Seit zwanzig Jahren wollte ich der Welt klarmachen, was für ein durch und durch widerliches Schwein er ist. Er wurde meine zusätzliche Sicherheit. Wenn jemand für meine Taten ins Gefängnis wanderte, dann er, und alle würden endlich sehen, was ich sah. Wer er in Wahrheit ist.«
Hoffsten erzählte, wie er damit begonnen hatte, sich in Filmen, in denen Micael die Hauptrolle spielte, unter falschem Namen als Statist zu bewerben, und wie Bratt ihn kaum bemerkt hatte. Nach den Dreharbeiten hatte er sich nachts das Gesicht mit Theaterschminke geschminkt, sich auf Frauenjagd begeben und die Slips seiner Opfer als Trophäen behalten, damit alles auf Bratt deutete, der, wie er wusste, die Unterwäsche seiner weiblichen Eroberungen sammelte.
»Der Plan war perfekt. Bis du aufgetaucht bist.«
Hoffsten beugte sich über sie. Vera kämpfte gegen einen Brechreiz an.
»Warum haben Sie Migrantinnen gewählt?«
Hoffsten zuckte mit den Schultern.
»Einfache Zielscheiben und schlechte Zeuginnen. Jeder hierzulande weiß, wer Micael Bratt ist, mit Ausnahme der Kanaken.«
Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
»Man könnte das hier als mein letztes Interview bezeichnen. Mein erstes und einziges.«
Vera hörte, wie Sigge neben ihr aufschluchzte.
»Wie viele Frauen waren es?«
»Vier.«
»Warum haben Sie die Frau in Malmö am Leben gelassen?«
»Ich dachte, sie wäre tot. Mein Fehler.«
Hoffsten zog einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und ließ ihn triumphierend vor Veras Augen baumeln.
»Du scheinst nicht auf deine Ersatzschlüssel zu achten. Als du diesen Artikel über Micael geschrieben und dich auf seine Seite geschlagen hast, wollte ich dir nur ein bisschen Angst einjagen. Aber dann habe ich die Zeichnung gefunden, und da wurde mir klar, dass sie lebt und du mir auf der Spur bist.«
Vera lief ein Schauder über den Rücken.
»Du schläfst nackt«, grinste Hoffsten.
Dann schoss sein Blick unvermittelt zur Standuhr. In seinen Augen ging eine kaum wahrnehmbare Veränderung vor. Es war, als würden sie dunkler werden, sich zusammenziehen.
»Oh«, sagte er abwesend. »Es ist Zeit.«
Er griff nach der Sporttasche und stellte sie in den Flur, bereitete den Aufbruch vor.
Nein. Nein. Wo zum Teufel bleibt Wolf?
Hoffsten hob das Messer, trat zu ihr hin und beugte sich so dicht zu ihr, dass sie seinen sauren Atem roch.
Vera rutschte auf dem Sofa zurück, versuchte, Sigge wie ein menschlicher Schild mit ihrem Körper zu schützen.
»Das Interview ist beendet«, sagte Hoffsten. »Steh auf.«
Die Schrebergartenkolonie am Hornsbergs Strand lag still und verlassen da. Doch bei dem Anblick, der sich ihm bot, sank Tomas’ Hoffnung, Vera Berg schnell zu finden. Die Häuschen waren allesamt gelb oder weiß. Sie müssen neu gestrichen worden sein, dachte er und spürte erneut Panik in sich aufsteigen. Die von einem braunen Lattenzaun umsäumte Schrebergartenkolonie umfasste mehrere Dutzend Lauben. Kalter Schweiß brach ihm aus, und er fuhr sich über die Stirn.
Dann öffnete er das quietschende Gartentor und zog es behutsam wieder hinter sich ins Schloss. Es war unerträglich heiß, und seine Zunge fühlte sich pelzig und geschwollen an. Lauschend blieb er stehen und horchte auf Geräusche. Irgendetwas stimmte nicht. Es war leise.
Viel zu leise. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich nach Stupni Do zurückversetzt. Er wischte seine Hand am Hosenbein ab und zog seine Dienstwaffe aus dem Holster. Das Metall war warm und fühlte sich fremd an. Tomas entsicherte die Sig Sauer und bewegte sich zwischen den Gärten hindurch. Die identischen Häuschen machten einen verlassenen Eindruck. Die Gärten waren gepflegt. Langsam schlich er zu den Lauben und spähte durch die Fenster, konnte jedoch nirgends ein Anzeichen von Leben erkennen. Vor einem gelben Häuschen mit weißen Giebeln und schwarzem Schrägdach, dessen Garten weniger umhegt wirkte als die anderen, blieb er stehen. Die Sträucher waren vertrockneter, die Zweige hingen schlaff herab, viele Blätter waren bereits verwelkt.
Ein niedriger Zaun umgab die kleine Parzelle. Tomas stieg darüber hinweg, duckte sich und lief mit vorgehaltener Waffe auf die Rückseite der Laube, um durch eines der hinteren Fenster zu spähen. Die Laube war leer. Aufatmend ließ er die Waffe sinken und lief so leise wie irgend möglich zum nächsten Häuschen. Es war ebenfalls leer. Ein Gefühl der Machtlosigkeit stieg in ihm auf. Er würde zu spät kommen.
Stig Hoffsten stellte einen Stuhl vor Vera hin, die wie eine Decke über Sigge lag, um jeden Zentimeter seines Körpers vor Hoffstens Messer zu schützen.
»Es ist so weit«, sagte er mit mechanischem Tonfall. »Ich habe viel zu tun.«
Sigge schloss die Augen. Er weinte nicht mehr, schien aufgegeben zu haben.
»Bitte«, flehte Vera.
Wolf musste bald hier sein.
»Steh auf«, befahl Hoffsten und presste ihr das Messer in den Nacken.
Vera gehorchte. Sie bewegte sich durch den Raum und stellte sich so, dass sie durch den geöffneten Fensterladen sehen konnte, suchte nach Zeichen von Leben, einem Nachbarn, der ihr zu Hilfe kommen könnte.
Doch es war niemand da.
»Lassen Sie wenigstens den Jungen frei.«
Hoffsten stieß sie in den Raum zurück. Vera zitterte.
»Ich brauche ihn. Er ist meine Versicherung, um von hier wegzukommen.«
Vera sah, dass Sigge sein Gesicht an den rauen Polsterbezügen rieb, um das Klebeband von seinem Mund zu lösen.
Sie machte einen Schritt auf Hoffsten zu. Sie musste ihn ablenken, damit er nicht zu Sigge blickte.
»Nehmen Sie mich mit«, flehte sie. »Und lassen Sie den Jungen gehen.«
Hoffsten trat mit erhobenem Messer auf sie zu und brachte sein Gesicht dicht an ihres heran. Eine neue Entschlossenheit war in seinen Blick getreten.
»Setz dich auf den Stuhl da«, sagte er mit Nachdruck.
Vera wich zurück, schluckte krampfhaft, stolperte und stieß gegen den wackligen Stuhl. Hoffsten packte sie am Ausschnitt ihres T-Shirts und presste ihr das Messer an den Hals.
»Das habe ich schon lange tun wollen«, sagte er. »Seit ich dir beim Schlafen zugesehen habe.«
Tomas suchte weiter die gelben Häuschen ab, als er plötzlich mitten in der Bewegung innehielt.
Es gab eine zweite Schrebergartenkolonie, hundert Meter weiter zum Wasser hin gelegen. Er war sich sicher. Kurz vor seinem Bosnieneinsatz hatte ein Mann in einer der Lauben bei einem Streit seine Frau erschlagen. Zingo hatte in dem Fall ermittelt. Tomas rannte den Kiesweg hinunter, sprang mit der Waffe in der Hand über den Zaun, lief einen kleinen Abhang hinunter und blieb stehen. Vor dem Eingang der zweiten Schrebergartenanlage parkte Vera Bergs verrosteter Saab. Er warf einen Blick auf das Chaos im Wageninneren, dann sah er sich um.
Er war klatschnass geschwitzt, und der Dauerlauf hatte ihn außer Atem gebracht. Rasch wischte er sich über die Stirn, damit ihm der Schweiß nicht in die Augen lief.
Zwischen identischen roten Häuschen leuchtete ein gelbes auf.
Im Näherkommen sah er, dass das Fenster neben der Eingangstür eingeschlagen war. Vera Berg musste dort drinnen sein. Möglicherweise auch Stig Hoffsten. Tomas duckte sich und schlich auf die Rückseite. Als er hinter einem Fenster eine Bewegung wahrnahm, warf er sich flach in ein Gemüsebeet, um nicht gesehen zu werden. Irgendetwas, vermutlich eine Wespe, stach ihn in den Unterarm. Er biss die Zähne zusammen, stand auf und schlich geduckt näher ans Fenster. Drei Meter von der Hauswand entfernt hörte er plötzlich eine Männerstimme. Die Stimme klang rau, und die Worte waren nicht zu verstehen.
Lauschend hielt er inne.
Die Stimme erklang wieder. Tomas horchte auf. Der Mann schien Selbstgespräche zu führen, jedenfalls antwortete niemand. Tomas hatte die Stimme noch nie gehört, trotzdem wusste er, dass sie Stig Hoffsten gehörte.
Warme, saure Atemluft schlug Vera entgegen. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass es Sigge gelungen war, sich von seinem Klebebandknebel zu befreien.
Blinzelnd versuchte sie, ihm ein Zeichen zu machen, dass er fliehen sollte, flehte ihn stumm an, nicht um Hilfe zu rufen, damit Hoffsten nicht bemerkte, was er getan hatte.
Vom Rålambshovspark drang die Nationalhymne herüber, zehntausend Stimmen, im Chor vereint.
Ich will leben, ich will sterben im Norden.
Vera sah den Jungen an, den sie ihren Sohn nannte. Das braune Haar, das ihm feucht in der Stirn klebte. Die Sommersprossen auf seiner Nase und seinen Wangen. Die leuchtend grünen Augen.
Das war das Letzte, was sie im Leben sehen würde. Und es gab nichts, was sie lieber gesehen hätte.
Sigge stand vorsichtig vom Sofa auf und hüpfte mit gefesselten Beinen in Richtung Tür. Hoffsten bemerkte es nicht. Der Gesang vom Rålambshovspark übertönte seine Bewegungen.
Vera schloss die Augen, spürte das Messer an ihrer Kehle und versuchte, das Bild von Sigge auf dem Weg in die Freiheit in sich zu bewahren.
Sobald Sigge außerhalb der Laube war, würde sie einen Mordstumult veranstalten, um ihm Zeit zur Flucht zu verschaffen. So sollte es enden. Das war okay. Solange Sigge entkam.
Vera atmete tief durch, bereitete sich darauf vor, zu sterben. Der Druck der Messerspitze an ihrem Hals ließ ein wenig nach. Sie ahnte, dass der tödliche Stich bald kommen würde. Ein dumpfer Aufprall erklang. Vera riss die Augen auf, ihr Puls schnellte in die Höhe, und kalte Schweißbäche tränkten ihr verschwitztes T-Shirt.
Hoffsten fuhr herum und entdeckte Sigge, der zu Boden gefallen war und panisch atmete. Sein Brustkorb hob und senkte sich unkontrolliert.
Hoffstens Augen wurden schwarz. Er packte Vera bei den Haaren und bohrte die Messerspitze tiefer in ihre Haut.
Gebückt lief Tomas dichter ans Fenster, um einen Blick auf Hoffsten zu erhaschen. Im nächsten Moment zerriss ein Schrei die Stille. Mit einem letzten Satz hechtete Tomas zum Fenster und blickte ins Dämmerlicht der Laube. Er blinzelte und versuchte zu verstehen, was er da sah.
Stig Hoffsten stand mit dem Rücken zu ihm, beugte sich über einen Stuhl, auf dem Vera Berg saß, und hielt ein großes Küchenmesser in der Hand. Vera Berg starrte voller Angst darauf, während sie verzweifelt versuchte, Hoffsten zur Vernunft zu bringen. Der Junge lag an Händen und Füßen gefesselt am Boden und schrie hilflos. Ihm blieb keine Zeit, um zur Vordertür zu laufen.
Wollte er schießen, musste er es von dieser Position aus tun. Insekten umschwirrten ihn, ohne Bewusstsein für das Drama, das sich in der Laube abspielte.
Im nächsten Moment knackte sein Funkgerät, jemand erstattete Meldung. Stig Hoffsten erstarrte und richtete sich langsam auf.
Tomas stützte die Unterarme auf den Fenstersims und zielte auf Hoffstens Rücken. Wieder dachte er an Stupni Do. Damals war er zu spät gekommen.
Diesmal war noch Zeit.
Diesmal gab es noch Leben, die gerettet werden konnten.
»Polizei! Lassen Sie das Messer fallen!«, rief er.
Die Messerspitze war nur Zentimeter von Vera Bergs Brustkorb entfernt. Verzweifelt presste sie sich an die Rückenlehne des Stuhls, um ihr zu entgehen.
Hoffsten machte keine Anstalten, das Messer fallen zu lassen.
»Lassen Sie das Messer fallen, Hoffsten, oder ich schieße!«, rief Tomas.
Im ersten Moment schien es, als würde er der Aufforderung nachkommen, doch ein kaum wahrnehmbares Zucken in Hoffstens Armmuskulatur ließ Tomas seine Waffe abfeuern.
Die Kugel traf Hoffsten zwischen die Schulterblätter, und er fiel vornüber, auf Vera Berg, die in wilder Panik aufschrie, als ihr Stuhl nach hinten kippte.
Der Schuss war aus dem Nichts gekommen. Danach war Totenstille eingetreten.
Vera lag am Boden, mit Stig Hoffsten über sich. Sie spürte einen Schmerz, konnte aber nicht sagen, ob sie von der Kugel getroffen worden war oder ob Hoffsten sie mit dem Messer verletzt hatte. Es tat weh, aber sie wusste nicht, wo.
In ihren Ohren herrschte ein einziges großes Rauschen.
Nahm ihr Leben jetzt ein Ende? Stand die Zeit deshalb still?
Vom Rålambshovspark war kein Laut mehr zu hören.
Sie drehte den Kopf, erhaschte einen Blick auf Sigge, der reglos am Boden lag.
Das Bild hallte durch Jahrzehnte. Erinnerungen zogen an ihrem inneren Auge vorüber. Sie war zurück in jener Nacht vor zwölf Jahren, in der Vincent, ihr kleiner Bruder, gestorben war. Sein regloser Körper. Ein Kind, das nie erwachsen werden durfte. Jetzt war es wieder geschehen.
Es war damals ihre Schuld gewesen. Und auch jetzt war es ihre Schuld.
Vera schluckte krampfhaft, spürte, wie die letzte Hoffnung sie verließ. Wieder hatte sie jemanden, den sie liebte, das Leben gekostet. Tränen liefen ihr über die Wangen. Ihr Vater hatte recht gehabt. Sie vernichtete alle, die ihren Weg kreuzten. Sie schloss die Augen. Und ließ los.
Tomas klingelten vom Schuss die Ohren. Er entfernte die restlichen Glassplitter, stützte sich auf dem Fenstersims ab und hievte sich in die Laube.
»Vera!«, rief er.
Benommen stolperte er durch den Raum, während das Pfeifen in seinen Ohren immer stärker wurde.
Sigge, der gefesselt am Boden lag, war verstummt und starrte voller Angst auf die reglos unter Stig Hoffsten liegende Vera Berg. Hoffstens Beine zuckten leicht. Das Blut, das aus dem Einschussloch in seinem Rücken floss, bildete einen immer größer werdenden roten Kreis auf seinem gelben Schwedentrikot. Tomas zerrte ihn unsanft von Vera Berg herunter und stellte erleichtert fest, dass sie, abgesehen von einer oberflächlichen Schnittwunde am Oberarm, unverletzt zu sein schien. Sie atmete keuchend. Tomas richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Stig Hoffsten, der unverändert auf dem Rücken lag. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein Kiefer bebte, und Tomas war klar, dass das Leben aus ihm heraussickerte.
Als Polizist war es seine Pflicht, lebensrettende Maßnahmen zu ergreifen, die Blutung zu stoppen, zu verhindern, dass der Tod sich Hoffstens Körpers bemächtigte. Aber er dachte an Mersiha Selimovic, Nadija Alihodzic und Carmen Diaz und brachte es nicht über sich.
Er würde ihn sterben lassen.
Stig Hoffstens schmale Lippen bewegten sich, er versuchte, etwas zu sagen, aber Tomas kontrollierte nur, dass das Messer in sicherer Entfernung von ihm lag, und kehrte ihm dann den Rücken zu.
»Sind Sie in Ordnung?«, fragte er Vera Berg und strich ihr eine Haarsträhne aus dem schweißüberströmten Gesicht.
Sie nickte keuchend.
Erst jetzt merkte er, wie entsetzlich warm es in der Laube war. Die Luft stand still, ließ sich kaum atmen. Tomas richtete den Stuhl auf, griff nach dem Messer und schnitt das Klebeband durch, mit dem Vera Bergs Hände auf den Rücken gefesselt waren. Als er ihr auf die Beine half, schlang sie die Arme um seinen Hals und presste sich zitternd an ihn. Tomas strich ihr beruhigend über den verschwitzten Rücken und spürte, wie ihm die Tränen kamen. Doch er drängte sie zurück.
»Sie ist auch hier.« Vera Bergs Stimme war rau.
Er sah sie verständnislos an.
»Wer?«
»Mia Gustavsson.«
Tomas löste sich von ihr. Vera Berg deutete in eine Ecke der Laube. Neben der Küchenzeile lag eine zusammengekauerte Gestalt am Boden. Tomas hastete zu ihr und stellte erleichtert fest, dass Mia Gustavsson lebte. Ihr Mund war mit breitem Isolierband zugeklebt, das Hoffsten um ihren Nacken geschlungen hatte. Die Sehnen an ihrem Hals bewegten sich, aus ihrer Kehle drangen gurgelnde Laute. Tomas ertastete ein Ende des Klebebands, schuf mit den Fingernägeln einen Anfang, hob Mia Gustavssons Kopf an und begann das Band vorsichtig zu lösen. Das letzte Stück riss er mit einem Ruck ab. An den Stellen, wo das Klebeband gesessen hatte, blieb ein weißer Rand zurück.
»Sind Sie verletzt?«, fragte er.
Mia Gustavsson antwortete nicht. Ihr Blick war glasig und abwesend. Tomas kontrollierte ihren Puls, dann befreite er sie auch von dem Isolierband, mit dem Hoffsten ihre Hand- und Fußgelenke gefesselt hatte, und führte sie zum Sofa. Er holte ihr ein Glas Wasser. Obwohl sie langsam trank, liefen Rinnsale ihren Hals hinunter und tropften auf ihr T-Shirt.
Vera Berg saß bei Sigge am Boden und hielt ihn fest umschlungen. Beide weinten.
Jetzt erst fiel Tomas ein, dass seine Kollegen noch immer im Rålambshovspark nach Hoffsten suchten. Er musste ihnen Bescheid geben und griff nach seinem Funkgerät, aber der Empfang war zu schlecht. Kurzerhand zog er Zingos Handy aus der Tasche und wählte die 90 000.
In knappen Worten erklärte er dem Mitarbeiter am anderen Ende, wer er war und wo er sich befand, und forderte vollen Blaulichteinsatz an. Die stickige Luft machte das Atmen schwer und hatte durch das Blut, das aus Stig Hoffstens Körper rann, einen leicht süßlichen Geruch angenommen. Tomas spürte, wie ihm übel wurde, und er riss die Eingangstür auf, um frische Luft zu bekommen. Dann setzte er sich draußen auf die Verandastufen und wartete auf das Eintreffen seiner Kollegen.
Mit Vera Berg würde er später reden und sich Klarheit darüber verschaffen, was eigentlich geschehen war und ob Hoffsten irgendetwas zu ihr gesagt hatte. Im Augenblick fehlte ihm dafür die Kraft.
Während in der Ferne näher kommendes Sirenengeheul ertönte, dachte er an Klara, an Alexander und Ebba. Er hoffte, dass sie ihn noch immer liebten und ihm verzeihen konnten, dass er ein anderer geworden war. Er sah Alexander vor sich, auf dem Steg mit einer Angel in der Hand und voller Ungeduld. Er sah Ebba und Klara Hand in Hand über den Rasen laufen, mit Sommersprossen im Gesicht, braun gebrannt und lachend, und ihm wurde klar, dass das Leben nie wieder so werden würde wie früher.
Er war zu kaputt, um zu heilen, und er liebte sie zu sehr, um sie von seiner Dunkelheit einhüllen zu lassen. Die Trauer überwältigte ihn. Er stützte den Oberkörper auf die Knie und weinte, ließ all das heraus, was er in sich verschlossen hatte.