Micael Bratt saß in einer lärmerfüllten Bar, als sein neues Motorola-Handy klingelte. Er hatte in der Zeitung gelesen, dass dieses Mobiltelefon als Weihnachtsgeschenk des Jahres gehandelt wurde, und beschlossen, sich eins zuzulegen. Er trank einen Schluck von seinem Bier, wandte den Blick vom Fernsehbildschirm an der Wand ab und sah auf das Display. Der Anrufer war sein Agent Bengt J. Lindwall.
»Ich bin in Solvalla auf der Trabrennbahn«, blaffte er. »Was du auch willst, red schnell und fass dich kurz.«
Hey Jude, der Hengst, auf den er fünftausend Kronen gesetzt hatte, befand sich auf dem TV-Bildschirm gerade im Mittelfeld, aber er war dafür bekannt, auf den letzten Metern aufzuholen. Noch war Zeit.
»Sitzt du?«
Micael bekam ein flaues Gefühl im Magen. Was war passiert? Er stand auf. Irgendjemand in seinem Rücken rief, dass er aus dem Bild gehen sollte. Er ignorierte es. Sein einziger Gedanke war, dass seiner Tochter Viktoria nichts zugestoßen sein durfte.
»Raus mit der Sprache!«, brüllte er.
Bengt schien nicht zu merken, dass er ihm eine Mordsangst einjagte. Er gluckste fröhlich.
»Wir haben ein Angebot. Aus Hollywood. Du musst nicht mal vorsprechen.«
Micael atmete erleichtert aus und sank zurück auf seinen Stuhl. Er trank einen großen Schluck Bier, das schal schmeckte, und gab dem Barmann ein Zeichen, ihm ein neues zu bringen.
»Hallo?«, fragte Bengt.
Micael drückte das Mikrofon an den Mund.
»Du gottverfluchter Scheißkerl!«, brüllte er. »Ich dachte, du kommst mit einer Todesnachricht. ›Sitzt du?‹, bist du noch bei Trost?«
Auf dem TV-Bildschirm hatte Hey Jude Boden gutgemacht und lag jetzt an zweiter Position.
»Tut mir leid, aber freust du dich nicht? Gut, es ist keine Hauptrolle, aber eine große Nebenrolle. Wir haben es geschafft, Micke. Wir haben es verflucht noch mal geschafft.«
»Was für ein Film ist es?«
»Ein Actionstreifen. Con Air soll er heißen. Es ist noch nicht in trockenen Tüchern, aber sieht ganz danach aus, dass Nicolas Cage die Hauptrolle spielt. Ich schicke dir später das Drehbuch. Und die Gage … Zieh los und kauf dir einen Trab-Gaul oder zwei. Das müssen wir heute Abend ordentlich feiern.«
Die Pferde waren auf der Zielgeraden, Hey Jude schob sich an die Spitze. Micael lächelte. Es war ein seltsames Gefühl, den Traum in Reichweite zu haben. Ein Stern mit seinem Namen auf dem »Walk of Fame«. So fing es an. Mit einer Nebenrolle. Er wusste, wenn er Ja sagte, würde er ganz groß rauskommen. Das Zeug dazu hatte er. Doch jetzt, wo ihm der Weg offen stand, interessierte es ihn nicht mehr. Schweden war seine Heimat. Warum sollte er den Atlantik überqueren und in Los Angeles den Trottel geben? Der Glutsommer, der hinter ihm und dem ganzen Land lag, erschien ihm wie ein ferner Traum, aber er hatte ihn verändert. Sicher, als internationalem Filmstar würden ihm noch mehr Frauen zu Füßen liegen, aber Frauen gab es in Schweden auch. Und Leute, die sich damit auskannten, sagten, Schwedinnen wären die schönsten Frauen der Welt. Geld? Zum Teufel damit. Er besaß mehr Kohle, als er jemals ausgeben können würde. Und er hatte wieder Kontakt zu seiner Tochter geknüpft. Ihre Beziehung war noch nicht reibungslos, zu viel Wasser war den Bach hinuntergeflossen, aber sie waren dabei, sich anzunähern. Wenn er jetzt ging, würde sich das ändern. Er hatte nicht vor, Viktoria erneut zu enttäuschen, nicht, bevor er dieses Vaterding gründlich erforscht hatte.
»Daraus wird nichts.«
»Was sagst du?«
»Sag den Yankees, aus der Sache wird nichts.«
»Aber Micke … verflucht …«
Er legte auf.
Seine Gedanken wanderten zu Stig Hoffsten, der ihn um ein Haar zum Serienmörder gemacht hatte. Stig hatte sich sogar daran erinnert, dass er seine Wohnungsschlüssel immer in der Nähe der Wohnungstür versteckte, damit er sie im Suff nicht irgendwo verlor. Bei dem Gedanken, wie Stig in seiner Wohnung herumgewandert war, wurde ihm ganz anders. Und wie er während der unzähligen Vernehmungen erfahren hatte, die die Polizei mit ihm geführt hatte, hatte Stig bei einer dieser Gelegenheiten auch seine Autoschlüssel an sich genommen und die Slips in seinem Wagen deponiert.
Der Geräuschpegel um ihn herum schwoll an. Hey Jude stürmte über die Ziellinie. Micael stieß jubelnd die Faust in die Luft. Als der Lärm abgeflaut war, griff er zum Handy, rief seine Tochter an und fragte, ob sie Lust hätte, heute Abend mit ihm essen zu gehen. Im Gyldene Freden vielleicht? Viktoria stimmte zu, und er ging zur Kasse und ließ sich seinen Gewinn auszahlen.
Auf dem Küchentisch in der Pilgatan lag ein Buch mit Stig Hoffstens Gesicht auf dem Cover: Der Statist – Erinnerung an einen Serienmörder , erschienen im Hausverlag der Kvällsposten und mit Leif M. Ivarssons Namen in fetten Lettern über dem Titel. Vera hatte es heute Morgen per Kurier direkt aus der Druckerei erhalten. Ab Montag war es im Handel erhältlich und würde landesweit an Zeitungsständern und in Buchhandlungen ausliegen.
Sie blickte aus dem Fenster. Das Laub der Bäume weiter unten an der Straße verfärbte sich, und die Kronen sahen dürrer aus. Aber noch hatte sich die halbjahreslange Dunkelheit nicht auf Stockholm herabgesenkt.
Was für ein scheußliches, bizarres Jahr, dachte sie.
Am Tag nachdem Tomas Wolf Stig Hoffsten erschossen hatte, hatte sie ihren Job zurückbekommen. Die Kvällsposten hatte den Artikel, den sie noch in der Nacht der dramatischen Ereignisse in der Schrebergartenkolonie am Hornsbergs Strand verfasst hatte, nicht ablehnen können.
Den Exklusivartikel über die Jagd nach einem schwedischen Serienmörder inmitten der großen Feier zu Ehren der Bronzehelden.
Und seitdem hatte sie an dem Buch gearbeitet. Sie hatte gewusst, dass sie auf Gold saß. Das Buch würde ein Bestseller werden. Ihr großer Durchbruch. Doch vor zwei Wochen war Chefredakteur Ivar Glans in Stockholm erschienen und hatte sie zum Gespräch gebeten.
»Du schreibst gut«, hatte er gesagt und beifällig auf das fertige Manuskript gedeutet, das zwischen ihnen auf dem Schreibtisch lag.
»Das ist wohl der beste Text, den Ivarsson je zustande gebracht hat.«
Vera war unruhig auf ihrem Stuhl hin und her gerutscht und hatte versucht, Glans’ Worten einen Sinn abzugewinnen. Dann hatte sich ihr Chef in weitschweifigen Erklärungen darüber verloren, wie unangemessen es sei, wenn sie, nach ihrer eigenmächtigen Einmischung in die Auflösung des Mordrätsels, als Autorin des Buches darüber in Erscheinung trat. So etwas würde die journalistische Integrität der Kvällsposten gefährden.
Und aus diesem Grund müsse Ivarsson »für das Team in die Bresche springen«, wie Glans es formuliert hatte.
Vera ahnte, dass das die Bestrafung für ihre Mauschelei mit den Tippgeberhonoraren war. Aber sie hatte keine Kraft mehr für Auseinandersetzungen. Es gab wichtigere Kämpfe auszufechten.
Sie griff nach dem Buch und schlug es auf, roch daran. Sie liebte den Duft druckfrischer Seiten. Ihr Blick fiel auf die unscheinbare Zeile im Impressum. Drei Wörter in der kleinstmöglichen Schriftgröße: Recherche: Vera Berg .
Es wollte ihr immer noch nicht in den Kopf, dass der Mörder, den sie den Sommer über gejagt hatte, ein Statist und Postbediensteter war. Ein Mann ohne jede Macht. Die Polizei hatte in Hoffstens Versteck in der Gyllenstiernsgatan stapelweise Zeitungsausschnitte gefunden. Berichte und kritische Leitartikel über die Dezentralisierung des schwedischen Polizeiapparats, auf deren Basis er seinen Plan geschmiedet und die nicht vorhandene Zusammenarbeit der Polizeidistrikte zu seinem Vorteil genutzt hatte. Indem er in verschiedenen Städten zugeschlagen hatte, war er der Polizei durch die Maschen geschlüpft. Hätten sich ihr und Tomas Wolfs Weg nicht sozusagen durch Zufall gekreuzt, wäre Hoffsten womöglich noch immer auf freiem Fuß.
Vera legte das Buch zurück auf den Küchentisch und nahm eine Tüte Wokgemüse aus dem Gefrierfach. Das Hühnchenbrustfilet lag schon fertig gewürfelt auf einem Schneidebrett.
Die Redaktionsleitung feierte das Erscheinen des Buches heute Abend mit einem Essen im Sturehof. Sie hatte nicht vor, hinzugehen.
»Schaffst du das allein?«, fragte sie.
Sigge, der auf einem Hocker vor dem Herd stand und Öl in eine Wokpfanne goss, schaute sie bestürzt an.
»Warum sollte ich nicht?«
Vera lächelte besorgt.
»Pass nur auf, dass du diesmal nicht zu viel Öl nimmst«, sagte sie. »Das letzte Mal, als du mit Öl hantiert hast, mussten wir dich in die Notaufnahme bringen.«
»Aber es ist so lustig, wenn es spritzt«, erwiderte Sigge und ließ das Hühnchenbrustfilet schwungvoll in die heiße Pfanne rutschen.
Vera hatte sich Hilfe suchend an Cornelia Bergman vom Malmöer Jugendamt gewandt und einen Antrag auf Sorgerecht für Sigge gestellt. Nur eine Woche nach Jonnys Festnahme war der Bescheid eingetroffen. Bis zum Gerichtsurteil blieb Sigge in ihrer Obhut.
Jonnys Prozess näherte sich, und alles sprach dafür, dass er eine lange Gefängnisstrafe erhalten würde. Cornelia Bergman zufolge konnte sie damit rechnen, dass Sigge dauerhaft bei ihr bleiben durfte, sobald das Urteil in Kraft trat.
Ein Chaosjahr neigte sich endlich dem Ende entgegen. Das war es, was sie heute Abend feierte. Sigge hatte entscheiden dürfen, was es zu essen gab, und sie war in die Stadt gefahren, um eine Wokpfanne zu kaufen.
Sie schenkte sich gerade ein Glas Wein ein, als ihr Handy auf der Küchenanrichte klingelte.
Sigge reichte es mit ölverschmierten Fingern an sie weiter und gab das Wokgemüse in die Pfanne.
»Vera Berg, Kvällsposten «, meldete sie sich.
Es war herrlich, das wieder sagen zu dürfen.
»Zingo hier.«
»Hallo. Geht es Ihnen gut?«
»Das kann ich nicht behaupten. Ich habe schlechte Neuigkeiten.«
»So?«
»Jonny darf gehen.«
»Was?«
Ein diffuser Schwindel erfasste sie, befiel ihre Arme und kribbelte und stach am ganzen Leib.
»Der Bescheid ist eben gekommen. Offenbar hat der Lkw-Fahrer, den er ausgeraubt hat, den ganzen Vorfall vergessen und behauptet auf einmal, von einem Araber überfallen worden zu sein. Sie können sich denken, wie das zugegangen ist.«
»Sie haben ihn bedroht.«
»Ja«, seufzte Zingo. »Vielleicht können wir Jonny wegen Hehlerei drankriegen, weil er die Beute verhökert hat. Aber ich glaube es kaum.«
Unten auf der Pilgatan näherte sich ein Motorrad ohne Schalldämpfer. Das Röhren schwoll an, hallte zwischen den Häuserfassaden der engen Straße wider.
»Wann wird er freigelassen?«, fragte Vera.
»Er durfte vor einer Stunde gehen. Ich dachte, Sie sollten es wissen. Es tut mir wirklich leid.«
»Danke, Zingo. Ich weiß, dass Sie Ihr Möglichstes getan haben.«
»Ich verreise morgen. Aber ich rufe Sie Ende der Woche an. Denken Sie bis dahin nach. Vielleicht fällt Ihnen etwas anderes ein, wofür er sich einen Platz im Gefängnis verdient hat.«
Vera beendete das Gespräch, blieb mit dem Handy in der Hand stehen und betrachtete Sigge, der in der Wokpfanne das Hühnchen massakrierte. Heißes Öl spritzte zischend auf seine Finger. Lachend zog er seine Hand zurück.
Ihr Magen krampfte sich zusammen. Alles, wofür sie gekämpft hatte, könnte nun dahin sein. Sie griff nach dem Weinglas und nahm einen großen Schluck.
Sie hatte ihre Familie verloren. Sie hatte ihren Bruder verloren. Wie sollte sie es fertigbringen, Sigge abzugeben?
Das Motorradgeräusch erstarb. Vera trat ans Fenster und blickte auf die ausgestorbene Straße. Die Häuser standen dicht an dicht, und die kalte Septembersonne sprang von Fenster zu Fenster. Was sollte sie jetzt tun? Woher sollte sie die Kraft nehmen, erneut mit Jonny um Sigge zu kämpfen? Sie wusste, dass er niemals einlenken würde.
Auf der anderen Seite stieg der Motorradfahrer von seiner Harley, nahm den Helm ab und griff in seine Hosentasche.
In der Küche roch es angebrannt.
Vera blickte zu Sigge. »Du solltest die Pfanne besser von der Platte nehmen«, sagte sie.
Im selben Moment begann das Handy in ihrer Hand zu klingeln.
Sie las die Nummer auf dem Display immer und immer wieder. Das Telefon schrillte. Sie bekam keine Luft.
»Willst du nicht drangehen?«, fragte Sigge auffordernd.
Vera blickte zu ihm, dann hinaus auf die Straße.
»Hallooooo«, sagte Sigge gedehnt.
Der Motorradfahrer hatte sich umgedreht und überquerte die Straße. Als er Vera am Fenster entdeckte, hob er grüßend die Hand.
Vera drückte auf das grüne Hörer-Symbol und presste das Handy ans Ohr. Ihr war speiübel.
»Wirf den Schlüssel runter«, sagte Jonny. »Ich bin hier, um meinen Sohn abzuholen.«
Das Laub der Bäume hatte sich gelichtet, und die Blätter leuchteten in Orange und Gelb, die Luft war kühler, die Nächte dunkler und länger. Der Sommer war, ebenso wie Stig Hoffsten, eine ferne Erinnerung. Ein windiger und regnerischer Herbst hüllte Schweden ein. Dunkle Wolken zogen am Himmel auf, ein neues Regenunwetter war im Anmarsch.
Tomas saß am Steuer seines Volvo, sein Bruder Kristian neben ihm auf dem Beifahrersitz. Rechts und links der Straße zogen die Wälder Västmanlands an ihnen vorüber.
»In der Zeitung stand heute Morgen, dass der Planet sich erwärmt«, sagte Kristian. »Dass die Sommer heißer und länger werden. Genau wie der Herbst. Dass in ein paar Jahren im Winter kaum noch Schnee fällt und am Nordpol die Gletscher schmelzen. Ich hätte nichts dagegen, wenn die Sommer in Zukunft immer so sein würden wie der letzte.«
Tomas antwortete nicht und scherte aus, um einen mit Baumstämmen beladenen Lkw zu überholen. Die Straße war mit Wasserpfützen übersät. Er konzentrierte sich darauf, den Wagen im Fahrtwind unter Kontrolle zu halten. Als sie an dem Lkw vorbei waren, blinkte er und fuhr zurück auf die rechte Fahrbahn.
»Wie geht es Klara und den Kindern?«, erkundigte sich Kristian.
»Gut.«
»Gefällt es ihnen in Enskede?«
»Ja. Klara hat sich schon immer ein Haus gewünscht.«
Kristian sah aus dem Fenster, und Tomas kontrollierte den Rückspiegel, wo die Scheinwerfer des Lkw immer kleiner wurden.
»Und wie geht es dir?«
»Ich bin okay.«
»Willst du in der Wohnung in der Hornsgatan wohnen bleiben?«
Tomas schüttelte den Kopf.
»Nein, sie ist zu groß für mich allein. Und zu teuer. Ich suche nach etwas Kleinerem.«
»Hast du jemand Neues?«
»Nein.«
Stille breitete sich aus. Kristian suchte nach Worten, nach einem Thema, um die holprige Unterhaltung in Gang zu halten.
»Wir sollten Mama öfter besuchen.«
Tomas drehte die Autoheizung ein wenig herunter. Er hatte Zingo heute Morgen zur Fähre gebracht. Und als die Estonia ausgelaufen war, durch die Schären hinaus ins offene Meer, hatte er sich aus Stockholm fortgesehnt. Fort von sich selbst. Aber wohin sollte er gehen? Die Welt wandelte sich. Rasend schnell. Seit den glühend heißen Julitagen galt das nicht mehr allein für sein Leben. Die Menschheit befand sich im Aufbruch, auf dem Weg in eine neue Zeit. Carl Bildt war nicht mehr Ministerpräsident. Die Sozialdemokraten hatten bei der Wahl über fünfundvierzig Prozent der Stimmen errungen und bildeten im Bündnis mit der Linkspartei die Mehrheit. Ingvar Carlsson würde ohne Zweifel die Regierung bilden. In Großbritannien hatte die IRA die Waffen niedergelegt. Die letzten russischen Soldaten waren aus Estland und Lettland abgezogen. Und in zwei Tagen würde Mattias Flink seine Strafe erhalten. Aber auf dem Balkan wütete der Krieg weiter, Sarajevo befand sich nach wie vor im Belagerungszustand. Tomas dachte an Stupni Do, und wie so oft fragte er sich, wie es wohl jetzt, in diesem Moment, dort aussah, und kehrte in Gedanken an die Orte zurück, an denen er gewesen war.
»Du weißt, dass du mit mir reden kannst, wenn irgendwas ist«, sagte Kristian. »Scheiße. Eine Scheidung ist nicht leicht. Wir stehen uns vielleicht nicht mehr so nahe wie früher. Aber wir sind trotz allem Brüder.«
»So läuft es nicht«, erwiderte Tomas.
»Wie?«
»Brüder zu sein ist kein Freibrief für Vertrauen. Dasselbe Blut zu teilen, haftet nichts Göttliches an. Wir sind verschieden. Wir sehen die Welt und ihre Bewohner mit unterschiedlichen Augen.«
»Was tun wir dann hier? Das Ganze war deine Idee.«
»Wir besuchen unsere Mutter. Sie ist das Einzige, was uns verbindet.«
Bis Hallstahammar waren es noch fünfzehn Kilometer. Ein Stück entfernt sah er das Waldstück, das er ausgewählt hatte. Er fuhr langsamer.
»Ich muss pinkeln.«
»Jetzt? Wir sind doch gleich da. Kannst du nicht so lange warten?«
»Nein.«
Tomas fuhr von der Schnellstraße ab und bog rechts in einen Seitenweg. Aus Asphalt wurde ein Schotterpfad, der sich immer tiefer in den Wald hineinschlängelte. Nach hundert Metern, als das Auto von der E18 aus nicht mehr zu sehen war, hielt er an, schaltete den Motor aus, öffnete die Tür und stieg aus. Die Luft war feucht, duftete aromatisch. Schon bald würde Regen einsetzen und eventuelle Spuren verwischen. Tomas ging zum Kofferraum und öffnete die Klappe.
»Was machst du?« Kristian drehte den Kopf in seine Richtung.
Tomas griff nach dem Moramesser, das er unter einer von Alexanders Regenjacken verborgen hatte, schlug die Kofferraumklappe zu, ging zur Beifahrertür und riss sie mit der linken Hand auf.
»Was zur Hö...?«, brüllte Kristian, verstummte jedoch, als Tomas ihn am Kragen packte und ihn aus dem Auto zerrte. Er hielt ihn weiter am Kragen und richtete die Messerspitze auf Kristians Brust.
Kristian starrte ihn an.
»Was machst du?«
»Du hast dich an der Frau vergriffen, die ich liebe. Du hast sie fast umgebracht«, erwiderte Tomas.
»Ich …«
»Mein Kind ist vor meinen Augen in einem Krankenhausbett in Köping gestorben.«
Kristian schien protestieren zu wollen, schloss den Mund jedoch wieder. Tomas suchte in seiner Miene nach Anzeichen von Angst, fand aber keine. Wie oft hatten sie sich als Heranwachsende geprügelt? Hatten in blinder Raserei aufeinander eingeschlagen, dass Nasen geblutet hatten und Zähne aus Kiefern geflogen waren? Einmal hatte Kristian ihm den Zeigefinger gebrochen. Dies ist unser letzter Kampf, dachte Tomas. Einer von uns wird ihn nicht überleben.
»Die Hände in den Nacken. Eine Bewegung, und ich stech dich ab, verstanden?«
Kristian gehorchte, hob langsam die Arme und verschränkte sie hinter seinem kahl rasierten Schädel. Schnell kontrollierte Tomas, dass er keine Waffe versteckt hatte.
»Und jetzt?«, fragte Kristian.
»Jetzt gehen wir in den Wald.«
Tomas stieß ihn in den Rücken.
»Was hast du vor, kleiner Bruder?«, fragte Kristian, als sie die ersten Baumreihen hinter sich ließen.
Tomas antwortete nicht. Ein Vogel floh mit wildem Flügelschlag. Sie passierten eine moosbewachsene Steinformation. Von der Schnellstraße drang das ferne Geräusch eines vorbeifahrenden Autos zu ihnen herüber, während sie weiter in den Wald hineingingen. Tomas atmete tief durch und befahl Kristian, stehen zu bleiben. Sein Bruder gehorchte.
»Dreh dich um«, sagte Tomas.
Langsam wandte Kristian sich um. Sie maßen einander mit dem Blick. Tomas spürte, wie das Adrenalin in ihm pulsierte. Er warf das Messer zur Seite, weit weg, damit keiner von ihnen es erreichen konnte.
»Nur einer von uns wird diesen Ort lebend verlassen«, sagte er.
Ein Lächeln erschien auf Kristians Gesicht. Sie standen reglos da. Unvermittelt beugte Kristian sich vor und zog ein Armeemesser mit dunkler Klinge aus seinem Hosenbein.
»Du hättest mich gründlicher durchsuchen sollen«, sagte er.
Tomas betrachtete das Messer in der Hand seines Bruders. Sein eigenes lag zu weit weg, als dass er es hätte erreichen können. Er empfand keine Angst, nur Resignation. Höchstwahrscheinlich würde er derjenige sein, dessen Leben hier, im Wald, endete.
»Du wusstest, was ich vorhabe?«, fragte er.
Kristian zuckte mit den Achseln.
»Ich hab’s geahnt.«
»Und du willst dein Messer benutzen, obwohl ich unbewaffnet bin. Obwohl ich mein Messer weggeworfen habe, damit dieser Kampf zumindest irgendeine Art von Gerechtigkeit in sich birgt?«
Kristian nickte langsam. Seine Augen glühten. Tomas war klar, dass er sich gleich auf ihn werfen würde.
»Du hast es gesagt: Wir sind Brüder. Aber wir sind verschieden.«